HT 2018: Integrative Spaltungen? Zur Ambivalenz des „Nationalen“ in Unternehmen

HT 2018: Integrative Spaltungen? Zur Ambivalenz des „Nationalen“ in Unternehmen

Organisatoren
Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD); Verband der Geschichtslehrer Deutschlands (VGD)
Ort
Münster
Land
Deutschland
Vom - Bis
25.09.2018 - 28.09.2018
Url der Konferenzwebsite
Von
Manuela Rienks, Institut für Zeitgeschichte München

Nicht nur einmal waren auf dem Historikertag 2018 Forderungen nach stärkerer disziplinübergreifender Zusammenarbeit zu hören, so auch nach einer Kooperation zwischen Wirtschafts- bzw. Unternehmensgeschichte und transnationaler Geschichte. 1 Wie fruchtbar eine solche sein kann, zeigten die Beiträge der hier besprochenen Sektion. Anschaulich setzten sie das Plädoyer für eine Loslösung von starren nationalen Grenzen um, ohne nationalspezifische Eigenheiten und Entwicklungen zu vernachlässigen.

Die Einführung in die Sektion übernahm CHRISTIAN MARX (Trier/München). Er verdeutlichte anhand einiger Beispiele und Leitfragen die Vielschichtigkeit des Themas. So würden Ford oder Opel in Deutschland eher als deutsche Unternehmen angesehen, IBM Deutschland dagegen eher als amerikanisches Unternehmen. Auch könnten einzelne Unternehmen bestimmte nationale Produktions- bzw. Konsummuster (Ikea, McDonalds, Dior, Toyota) verkörpern. Demnach müssen, so Marx, Fragen nach Wahrnehmungen und Zuschreibungen bei der Untersuchung des „Nationalen“ in Unternehmen eine Rolle spielen. Außerdem würde in Zeiten des „Brexit“ und nationalistisch motivierter Handelsbeschränkungen allmählich klar, dass allein durch die zunehmende Internationalisierung und Globalisierung nationale Interessen nicht zwangsläufig an Bedeutung verlieren. Grenzübergreifendes Handeln von Unternehmen könne zwar einerseits nationales Denken überwinden, aber andererseits Unternehmen auch anhand nationaler Konfliktlinien spalten. Somit sollten Fragen nach Internationalisierungsbestrebungen und der Wirksamkeit von Nation mit in die Analyse einfließen. Zuletzt führte Marx aus, dass Unternehmen ihre Nationalität(en) strategisch einsetzen können. Marx gelang es, einen gemeinsamen Rahmen für die nachfolgenden Vorträge zu setzen und deutlich zu machen, dass die Frage nach dem „Nationalen“ in Unternehmen nicht „künstlich“ gestellt wurde, sondern sich genuin aus dem Forschungsgegenstand ergebe.

KORINNA SCHÖNHÄRL (Frankfurt am Main) folgte sodann mit ihrem Beitrag über den Bau des Kanals von Korinth. Dieser Bau sei, wie auch andere Kanalbauten Ende des 19. Jahrhunderts, ein internationales maritimes Großprojekt gewesen. Der federführende Erbauer und „Promoter“ des Projekts war der Ungar István Türr, der allerdings eng mit Frankreich verbunden war. Die französische Regierung stand dem Projekt wohlwollend gegenüber, erhoffte sie sich doch, den französischen Einfluss in der Region stärken zu können. Finanziert wurde der Bau durch eine Aktiengesellschaft. Anteilseigner stammten vor allem aus Frankreich, aber auch aus anderen europäischen Ländern und zu einem Drittel aus Griechenland. Die Unternehmer und die an der Finanzierung beteiligten Bankiers zielten jedoch vor allem auf französische Unterstützung ab. Dies demonstrierte Schönhärl anhand der Werbestrategien für die Aktien: Sie haben für das republikanische Frankreich wichtige Bezüge zur Antike hergestellt und an den Stolz und das Sendungsbewusstsein der Franzosen appelliert. Die finanziellen und bauplanerischen Risiken des Großprojekts verblassten in der nationalen Euphorie der französischen Öffentlichkeit. Diese wurde aber bald von der Realität eingeholt – der Bau verzögerte sich und das Prestigeprojekt scheiterte schließlich. Einer griechischen Gesellschaft gelang letztendlich die Fertigstellung des Kanals. Korinna Schönhärl präsentierte ein durch und durch europäisches Projekt, das aber in jeder Bauphase stark von national(-französischen) Interessen geprägt war.

Ebenfalls im europäischen Rahmen, allerdings ein paar Jahrzehnte später, bewegte sich das multinationale Unternehmen, mit dem sich BORIS GEHLEN (Bonn/München) beschäftigte. Er zeigte anhand von fünf Beispielen, wie die Thyssen-Bornemisza-Gruppe (TBG) ihre Nationalität(en) zu verschiedenen Zeiten als strategische Ressource einsetzte. Bisweilen sei das Unternehmen dabei aktiv steuernd vorgegangen, dann wieder habe es bloß auf die äußere Wahrnehmung und den gesellschaftlichen Diskurs reagiert. So habe sich die TBG in den 1930er-Jahren an einer „Niederlandisierungsstrategie“ versucht, nachdem die niederländische Zentralbank das maßgebliche niederländische Unternehmen der TBG, die Bank vor Handel en Scheepvaart (BHS), als „zu Deutsch“ wahrgenommen wurde. Allerdings hatte die Strategie nur begrenzten Erfolg. In einer Zeit in der nationalistische Maßstäbe die Wirtschaftspolitik bestimmten, begrenzte die Zentralbank jedoch die Kreditvergabe der BHS und verhinderte aktiv die Übernahme einer großen niederländischen Geschäftsbank durch die BHS. Ein weiteres Beispiel war die Strategie der TBG, die Produktionsunternehmen auf westdeutschem Boden nach dem Zweiten Weltkrieg als niederländische Gesellschaften neu zu kodieren. So konnten sie Demontagen entgehen, schnell Betriebserlaubnisse einholen und sich ökonomische Startvorteile sichern. Die Ambivalenz des Nationalen zeigte sich besonders deutlich bei der Restitution von beschlagnahmten Vermögen. Während die britische Rechtsprechung die TBG als niederländische Gruppe wahrnahm (und Vermögen restituierte), war für die USA die Nationalität des Eigners, des Ungarn Heinrich Thyssen-Bornemisza, maßgeblich. Das Vermögen blieb beschlagnahmt. Gehlen zeigte, dass das „Nationale“ eines Unternehmens von verschiedenen Faktoren abhängen konnte: von der Nationalität der Eigentümer, der Manager, der Kunden, von öffentlicher Wahrnehmung oder politischer Zuschreibung. Die Nationalität war kein rein juristisches, sondern ein diskursives Phänomen, mit dem Unternehmen auch, mal mehr, mal weniger erfolgreich, strategisch umgehen konnten.

Das einzige „Unternehmen“ des Panels, das sich relativ klar einer einzigen Nationalität, nämlich der (west-)deutschen, zuordnen ließ, stellte JULIANE CZIERPKA (Bochum) vor. Sie beschrieb verschiedene Phasen des Ruhrbergbaus innerhalb der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS). Sie verdeutlichte, dass die Einbindung in internationale Zusammenhänge in diesem Fall gerade nicht zu einer europäischen Identität führte, sondern sich die Besinnung auf die eigene Nationalität im Gegenteil noch verstärkte. Dies zeigte Czierpka anhand der Debatten um die Frage des gemeinschaftlichen Kohleverkaufs zwischen der Hohen Behörde, dem Exekutivorgan der EGKS, dem die Kontrolle über die Kohle- und Stahlindustrie der sechs Mitgliedsstaaten oblag, und den Bergbauunternehmen der Ruhr. Der gemeinschaftliche Verkauf hatte im Ruhrgebiet eine lange (Kartell-)Tradition. Die Bergbauunternehmen der Ruhr verteidigten ihn lange gegen den Eingriff der Hohen Behörde. Sie umgingen die Vorgaben der Hohen Behörden ein ums andere Mal, ohne dabei Konsequenzen zu fürchten. Denn sowohl Arbeitgeberverbände als auch die Gewerkschaften instrumentalisierten die hohe Bedeutung der Montanindustrie für die Bundesrepublik und stilisierten ihr Anliegen zu einem Phänomen von nationalem Interesse. So konnten sie auf den Schutz der Bundesregierung zählen. Obwohl hier also formal europäische Interessen integriert waren, standen in einer krisenhaften Situation die nationalen Interessen voran.

Auch im Vortrag von Christian Marx kristallisierte sich schnell heraus, dass Nationalität keine leicht zu bestimmende Kategorie war. Er untersuchte den deutsch-niederländischen Akzo-Konzern von den 1920er-Jahren bis in die 1970er-Jahre und stellte zunächst einige theoretische Überlegungen in den Vordergrund. Sie dienten dazu, bei der Untersuchung stärker zwischen den Nationalitäten des Eigentums, im Falle von Akzo der Aktionäre, und denen des Managements innerhalb eines Unternehmens zu unterscheiden. Aus unternehmensgeschichtlicher Perspektive seien Eigentum und Kontrolle wichtige Untersuchungskriterien, wonach multinationale Unternehmen differenzierter behandelt werden können. Anschließend zeigte er anhand der Verschiebungen der Anteilseigner und der Managementstrukturen verschiedene Phasen des Akzo-Konzerns auf. Hierbei wurde klar, dass Nationalität als Entscheidungsgrundlage vor allem während der Kriegszeiten und in wirtschaftspolitisch national aufgeladenen Zeiten eine Rolle gespielt habe. Ausschlaggebend waren neben der Organisationsstruktur des Unternehmens auch der Ort von Entscheidungsfindungen und die Nationalität einzelner Akteure. Spaltungen bei Akzo verliefen weniger an der Spannungslinie Eigentum vs. Kontrolle, sondern besonders entlang nationaler Grenzen. Mit den um sich greifenden Internationalisierungsprozessen ab den 1970er-Jahren verloren nationale Zuschreibungen zunehmend ihre handlungsleitende Wirkung. Dennoch blieben nationale Institutionen, wie das Ausbildungswesen oder die Mitbestimmungsgesetzgebung in der Bundesrepublik, von Bedeutung.

Ein weiteres multinationales Projekt bildete den Abschluss der Sektion. Im Titel seines Vortrags warf RALF AHRENS (Potsdam) die Frage auf, ob Airbus als transnationales Unternehmen angesehen werden kann. Um diese zu beantworten, betrachtete er die formative Phase von Airbus von circa 1960 bis zum Ende der 1980er-Jahre. Den Bau eines gemeinsamen europäischen Verkehrsflugzeugs, was als Ziel von Airbus ausgegeben wurde, verfolgten anfangs die Bundesrepublik Deutschland, Frankreich und Großbritannien, wobei letzteres bald seine Beteiligung aufgab. Das veranschlagte Ziel war einerseits eine „europäische Kooperation“, um der „amerikanischen Herausforderung“ zu begegnen, andererseits, und wichtiger noch, so argumentierte Ahrens, habe das Projekt mit seinen verschiedenen Produktionsstandorten der Rettung nationaler Industrien gedient. Die Industriestandorte, die je nach Produkt (etwa Schrauben vs. Motoren) weniger oder mehr vom Airbus-Projekt profitierten, wurden politisch ausgehandelt, nicht etwa ausgeschrieben. Klar trennte man auch zwischen national zu tragenden Kosten und international gemeinsam erwirtschafteten Erträgen, was in der Vergangenheit stets kritisiert wurde. Bis heute sei Airbus, so Ahrens, ein stark subventioniertes und in erster Linie politisches Projekt. Es handele sich demnach nicht um ein multinationales Unternehmen, sondern um eine transnationale Kooperation zur Unterstützung der nationalen Industriepolitiken. Außen- und europapolitische Interessen verblieben eher im Hintergrund, während ökonomische und politische Rationalitäten im Vordergrund stünden. Trotz allem habe die enge ökonomische Verflechtung auf lange Sicht die Überwindung nationaler Grenzen gefördert, so Ahrens abschließend.

Im Kommentar gelang es INGO KÖHLER (Göttingen) übergreifende Linien, Perspektiven und Fluchtpunkte der vorgestellten Projekte herauszuarbeiten. Zum einen greife die von der Unternehmensgeschichte oftmals postulierte Annahme, Multinationals überwinnden Grenzen, zu kurz, sobald man sich stärker auf die Innenansicht dieser Multinationals konzentriere. So führte offenbar eine stärkere Integration der Weltmärkte seit dem 19. Jahrhundert vielfach eben nicht zur Überwindung von Nationalität, besonders dann nicht, wenn nationalistische Denkmodelle für Partikularinteressen instrumentalisiert wurden, sondern rufe gerade Spaltungen innerhalb der Unternehmen hervor. Zum anderen könne ein stärkerer Fokus auf die Rolle der Unternehmen selbst bei der Verhandlung ihrer Nationalität den Blick für bestimmte, übergreifende Strukturen schärfen: waren sie aktiv Handelnde oder passive Reagierende, nutzten sie Nationalität als strategische Ressourcen oder wirkte sie sich als Hemmnis der ökonomischen Entwicklung aus? Bei allen Vorträgen, so Köhlers Resümee, spielte schließlich auch das Verhältnis zum europäischen Bezugsrahmen eine wichtige Rolle. Der Blick von oder nach Europa konnte in Bezug auf Nationalität bewirken, dass Europa sowohl als ökonomischer und politischer Handlungsraum als auch als ideeller Identifikations- und Orientierungsraum diente.

Eine angeregte Publikumsdiskussion bestätigte die Bedeutung der Projekte und zeigte zahlreiche Anknüpfungspunkte zwischen unternehmens-, global- und zeithistorischen Fragestellungen auf. Zwei Kommentare plädierten dafür, dass zur stärkeren Differenzierung auch kleine und mittlere Unternehmen sowie Unternehmen aus anderen Branchen, wie der Textilbranche oder dem Handel, in die Analyse miteinbezogen werden sollten.2 Stärker gemacht werden könnte auch der Aspekt der Unternehmenskultur, indem vermehrt auf Hierarchien, Machtverhältnisse, Arbeits- und Sozialordnungen, und die Belegschaften der Unternehmen eingegangen wird. So bleibt zu wünschen, dass in einer Zeit, in der nationale Maßstäbe wieder stärker in den Vordergrund der Wirtschaftspolitiken zu rücken scheinen, die Forschung zum Zusammenhang von Unternehmen und „(Trans-)Nationalem“ noch weiterführende Erklärungen liefert.

Sektionsübersicht:

Sektionsleitung: Christian Marx (Trier / München), Boris Gehlen (Bonn / München)

Korinna Schönhärl (Frankfurt am Main): Die Konstruktion des Kanals von Korinth. Ein französisches Prestigeprojekt an der europäischen Peripherie (1881-1893)

Boris Gehlen (Bonn / München): Nationalität(en) als strategische Ressource: Der Thyssen-Bornemisza-Verbund in den 1940er- und 1950er-Jahren

Juliane Czierpka (Bochum): Europäisch oder Deutsch? Die Bergbauunternehmen der Ruhr als Teil der EGKS in den 1950er- und 1960er-Jahren

Christian Marx (Trier / München): Eigentum und Kontrolle in multinationalen Unternehmen. Der deutsch-niederländische Akzo-Konzern von den 1940er- bis in die 1990er-Jahre

Ralf Ahrens (Potsdam): Ein transnationales Unternehmen? Airbus und die Industriepolitik seit den 1960er Jahren

Ingo Köhler (Göttingen): Kommentar

Anmerkungen:
1 Vgl. den Vortrag von Ines Prodöhl (Bergen), „Fragen an eine globale Wirtschaftsgeschichte“, in der Sektion Globalgeschichte: Eine Standortbestimmung, am 26.09.2018, 9-12 Uhr. Tagungsbericht: HT 2018: Globalgeschichte – eine Standortbestimmung, 25.09.2018 – 28.09.2018 Münster, in: H-Soz-Kult, 03.11.2018, <www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-7913>.
2 Vgl. C&A als international agierendes Familienunternehmen aus dem Handel; Mark Spoerer gibt in seiner Einleitung einen knappen Hinweis auf den noch Anfang des 20. Jahrhunderts stark variierenden, pragmatischen Umgang des Unternehmens mit seiner Nationalität, ders., C&A. Ein Familienunternehmen in Deutschland, den Niederlanden und Großbritannien. 1911-1961, München 2016, hier S. 20.


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