HT 2021: Die DDR-Aufarbeitung im "Zeitgeschichtsbiotop" der 1990er-Jahre. Akteure – Themen – Diskursbedingungen

HT 2021: Die DDR-Aufarbeitung im "Zeitgeschichtsbiotop" der 1990er-Jahre. Akteure – Themen – Diskursbedingungen

Organisatoren
Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD); Verband der Geschichtslehrer Deutschlands (VGD)
Ort
hybrid (München)
Land
Deutschland
Vom - Bis
05.10.2021 - 08.10.2021
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Von
Andrea Bahr, Berliner Beauftragter zur Aufarbeitung der SED-Diktatur

Das Ende des SED-Regimes und die Vereinigung Deutschlands rückte die DDR-Geschichte in den Mittelpunkt gesellschaftlicher und wissenschaftlicher Debatten. Die zeithistorische Forschung zur DDR boomte seit den 1990er-Jahren: Die Archive des untergegangenen Staates öffneten sich und Zeitzeug:innen gaben Auskunft. Gleichzeitig entstanden in dieser Zeit viele Institutionen, die sich der gesellschaftlichen Aufarbeitung des SED-Regimes und seiner Folgen widmeten. Das Panel „Die DDR-Aufarbeitung im ‚Zeitgeschichtsbiotop‘ der 1990er-Jahre“ fragte nach den Akteur:innen, Themen und Diskursbedingungen zeitgeschichtlicher Forschung und gesellschaftlicher Aufarbeitung unter den Bedingungen der Vereinigungsgesellschaft. SEBASTIAN RICHTER (Frankfurt an der Oder) führte kurz in das Thema ein: Die Beschäftigung mit der DDR sei in den 1990er-Jahren wesentlich von Kategorien und akademischen Strukturen der alten Bundesrepublik geprägt gewesen, auf die sich ostdeutsche Akteur:innen einstellen und in die sich Forschungsthemen zur DDR-Geschichte einpassen mussten. Im Panel – so Richter – gehe es nicht um eine „Aufarbeitung der Aufarbeitung“. Vielmehr solle die Beschäftigung mit der DDR im Bereich der Aufarbeitung und wissenschaftlichen Forschung in den 1990er-Jahren als Phänomen der Vereinigungsgesellschaft historisiert und danach gefragt werden, wie die damalige Praxis bis heute nachwirke.

Richter thematisierte in seinem Beitrag die Rolle der DDR-Bürgerrechtler:innen in der politisch-historischen Debatte über die DDR in den 1990er-Jahren. Hatten sie einen Einfluss darauf, wie die DDR gedeutet und charakterisiert wurde? Nach 1990 seien es vor allem staatliche Institutionen oder staatlich-geförderte Initiativen gewesen, die den Diskurs um den Charakter der DDR bestimmt hätten. Dadurch – so konstatierte Richter – seien die Debatten weitgehend unter den Diskursbedingungen der alten Bundesrepublik geführt worden. Als Beispiel führte er die beiden Enquete-Kommissionen des Bundestages zur Aufarbeitung der SED-Diktatur an: Diese Form der Auseinandersetzung mit der DDR-Geschichte habe die Themenfindung und die Ausrichtung der Debatte vorgegeben. Dass politische Akteur:innen für das Geschichtsbild wesentlich verantwortlich gewesen seien, sei sehr problematisch. Viele DDR-Bürgerrechtler:innen hätten sich den Rahmenbedingungen der staatlichen Aufarbeitung angepasst und sich in das bundesdeutsche System integriert. Nur wenige DDR-Bürgerrechtler:innen hätten sich außerhalb der staatlichen Institutionen mit der Aufarbeitung der DDR beschäftigt. Diese Initiativen seien in der Regel ohne Einfluss auf die öffentlichen Debatten geblieben.

KRIJN THIJS (Amsterdam) widmete sich der Evaluierung der Institute der Akademie der Wissenschaften der DDR durch westdeutsche Wissenschaftler:innen nach 1990. Er beschrieb diese Evaluierung als Begegnungsgeschichte, deren Verlauf offen gewesen und die von beiden Seiten – Akademiker:innen aus Ost und West – geprägt worden sei. Die Abwicklung der Institute sei keineswegs unausweichlich gewesen, auch wenn westdeutsche Kriterien entscheidend für die Evaluierung gewesen seien. Auf Seiten der DDR-Wissenschaftler:innen habe es überwiegend eine Einsicht in die Notwendigkeit der Erneuerung gegeben und damit eine Akzeptanz gegenüber der Evaluierung. Doch seien sie im Zuge des Verfahrens enttäuscht worden, da sie Parität und Sachlichkeit vermisst hätten. Besonders die Begehungen der Institute habe die Fremdheit zwischen den beiden Wissenschaftssystemen und ihren Akteur:innen offen gelegt. Dies habe, wie Thijs ausführte, „die Komplexität des Diktaturerbes“ gezeigt und besonders bei den evaluierenden Wissenschaftler:innen aus dem Westen ein Fremdheitsgefühl hervorgerufen. Ein Ost-West-Dialog habe nicht mehr stattgefunden und die Option, alle Einrichtungen abzuwickeln, sei immer deutlicher als einziger Lösungsweg hervorgetreten. Die Entscheidungen seien im Westen getroffen worden, was die akademische und intellektuelle Landschaft in Ostdeutschland auf Jahre geprägt habe.

Die Rolle der Zeitzeug:innen für die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der DDR in den 1990er-Jahren und ihren Einfluss auf die Deutungen der DDR-Geschichte thematisierten HENRIK BISPINCK (Berlin) und ANN-KATHRIN REICHARDT (Berlin). Bispinck resümierte, dass Zeitzeug:innenschaft nach 1990 eine Aufwertung erhalten habe und zentral im „Kampf um die Deutungshoheit über die DDR-Geschichte“ gewesen sei. Während ehemalige Träger:innen des Systems rasch marginalisiert und nur im eigenen Kreis rezipiert worden seien, bestimmten Angehörige der DDR-Opposition in den 1990er-Jahren die Debatte. Ihnen sei „moralische Legitimation“ aufgrund ihrer eigenen Repressionsgeschichte zugesprochen worden. Zudem galten ihre Erfahrungen als Beweis für den Diktaturcharakter der DDR. Viele der ehemaligen DDR-Oppositionellen seien darüber hinaus selbst zu Verfasser:innen wissenschaftlicher Studien zur DDR-Geschichte geworden. So hätten sich Zeitzeug:innenschaft, Aufarbeitung und wissenschaftliche Auseinandersetzung verzahnt, was nicht immer unproblematisch gewesen sei.

Reichardt zeigte dies am Beispiel der 1. Enquete-Kommission des Bundestags auf. Dort seien Zeitzeug:innenschaft und Sachverstand oft verschwommen und Aufarbeitung mit wissenschaftlicher Auseinandersetzung vermischt worden. Die Auswahl der gehörten Zeitzeug:innen habe außerdem dazu geführt, dass vor allem die geschichtspolitischen Interessen der damaligen Regierungsparteien bedient worden seien: Die Herausstellung des Diktaturcharakters der DDR wurde betont. So seien überwiegend regimekritische Personen gehört worden. Erst in den 2000er-Jahren und mit der zunehmend auch alltagsgeschichtlichen Beschäftigung mit der DDR sei eine Differenzierung möglich gewesen. Hier führte Reichardt aus, dass die Zeitzeug:innen oft als Bestätigung oder Korrektiv der schriftlichen Quellen genutzt worden seien. Reichardt wies außerdem darauf hin, dass in den 1990er-Jahren viele Forschende auch gleichzeitig als Zeitzeug:innen fungiert hätten. Die notwendige Distanz der Forschenden zum Untersuchungsgegenstand sei dabei teils verloren gegangen.

ELKE STADELMANN-WENZ (Berlin) nahm im letzten Beitrag des Panels die historische Forschung zu den inoffiziellen und hauptamtlichen Mitarbeiter:innen des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) in den Blick. Dies sei ein sehr vernachlässigtes Forschungsthema, was sie auf unterschiedliche Entwicklungen zurückführte. In den 1990er-Jahren seien die inoffiziellen und hauptamtlichen Mitarbeiter:innen des MfS zwar ein wesentlicher Gegenstand des öffentlichen Diskurses gewesen, doch sei es dabei lediglich um die „Enthüllung“ ihrer Tätigkeit gegangen. Auch als Zeitzeug:innen seien sie nicht gehört worden, da sie als Täter:innen galten. So sprachen sie lediglich in eigenen Publikationen und unter sich über ihre Geschichte(n). In der historischen Forschung der 1990er-Jahre seien zwar grundlegende Studien zur Personalstruktur des MfS entstanden und damit wichtige Erkenntnisse zu den hauptamtlichen Mitarbeiter:innen geliefert worden. Demgegenüber standen die inoffiziellen Mitarbeiter:innen (IM) der Staatssicherheit weniger im Mittelpunkt der Forschung: Zwar seien Einzelfälle intensiv untersucht worden, doch habe auch hier der Enthüllungsimpuls den Ausschlag für die Forschung gegeben. Eine systematische Erforschung der IM und der Auswirkungen ihrer Tätigkeit auf die DDR-Gesellschaft fehle bis heute. Dies – so unterstrich Stadelmann-Wenz – sei auch darauf zurückzuführen, dass sich die Forschung weitgehend auf Stasi-Akten stütze. Diese seien jedoch für diese Fragestellungen nur bedingt geeignet. Darüber hinaus habe es in der Vergangenheit eine starke Beeinflussung des Fachdiskurses durch öffentliche Debatten gegeben und die Grenzen zwischen wissenschaftlicher Beschäftigung mit der DDR und Aufarbeitung seien verschwommen. Dies habe dazu geführt, dass bestimmte Themen zunächst nicht auf der Agenda der Forschenden gelandet seien. Sehr gut könne man dies daran sehen, dass insbesondere Wissenschaftler:innen, die sich mit alltagsgeschichtlichen Themen der DDR-Geschichte befassten, lange Zeit mit dem Vorwurf kämpften, sie würden die DDR verharmlosen. Noch heute sei diese Verlinkung von Aufarbeitung und Forschung, die sich etwa darin zeige, dass Aufarbeitungsinitiativen verstärkt eigene Forschungsabteilungen gründeten, vorhanden. Hinzu käme, dass Forschungsprojekte zur DDR-Geschichte überwiegend durch staatliche Institutionen über Drittmittel gefördert würden. Es sei in Zukunft notwendig, darüber zu diskutieren, welche Auswirkungen etwa Förderlinien wie die Forschungsverbünde zur DDR-Geschichte des Bundesministeriums für Bildung und Forschung auf die Forschungslandschaft zur DDR-Geschichte hätten.

In seinem Kommentar stellte DETLEF POLLACK (Münster) fest, dass die Vorträge eins deutlich gezeigt hätten: Die 1990er-Jahre stellten die Weichen für die heutigen Diskussionen in Hinblick auf die DDR-Aufarbeitung und die historische Forschung zur DDR-Geschichte. Analysekategorien und Konzepte aus der Geschichtswissenschaft der alten Bundesrepublik seien dominant gewesen. Als Beispiele nannte er die Totalitarismustheorie oder das Eigen-Sinn-Konzept. Darüber hinaus prägten westliche Akteur:innen die Aufarbeitungs- und Forschungslandschaft wesentlich. Stimmen aus der ehemaligen DDR seien meist nur gehört worden, wenn sie den westlichen Blick bestätigt hätten. Diese Asymmetrie beschrieb Pollack als „Grundkennzeichen der Vereinigungsgesellschaft“. Das Zusammenwachsen von West- und Ostdeutschland habe nicht auf Augenhöhe stattgefunden. Vielmehr habe die alte Bundesrepublik die Standards vorgegeben. In Hinblick auf den akademischen Bereich, so urteilte Pollack, sei dies auch der richtige Weg gewesen, da die Wissenschaftler:innen aus der ehemaligen DDR oft keinen Zugang zu internationalen Forschungsdiskussionen gehabt hätten und zudem stark von politischen und ideologischen Vorgaben geprägt worden seien. Eine Reform des Wissenschaftssystems sei dringend notwendig und nur von außen möglich gewesen.

Pollack benannte aber auch Kosten dieses Neustarts: Es habe im Einzelfall auch Ungerechtigkeiten gegeben und die Konfliktlinien zwischen Ost und West hätten sich verschärft. Zudem sei eine selbstkritische Auseinandersetzung innerhalb der ehemaligen Akademien der Wissenschaften der DDR weitgehend ausgeblieben. Pollack wies außerdem auf die Politisierung der Aufarbeitung der SED-Diktatur und der wissenschaftlichen Beschäftigung mit der DDR hin. Diese sei insbesondere der medialen Aufmerksamkeit für die Geschichte der DDR geschuldet gewesen, die in den 1990er-Jahren auch auf Aufarbeitung und Wissenschaft Einfluss genommen habe. Das habe u.a. dazu geführt, dass die Rolle der SED unterschätzt bzw. nur am Rande beleuchtet worden sei. Die Staatssicherheit habe lange im Fokus der Aufmerksamkeit gestanden. In Hinblick auf die Rolle der Zeitzeug:innen betonte Pollack ihre Bedeutung vor 1989: Ohne sie wäre der Blick auf die DDR nur schwer möglich gewesen, da schriftliche Quellen weitgehend gefehlt hätten. Die Forschung dürfe sich jedoch nicht in eine Abhängigkeit begeben, sondern müsse Distanz zu den Erzählungen der Zeitzeug:innen wahren.

In der sich anschließenden Diskussion ging es u.a. um die Asymmetrien und Unterschiede zwischen Ost und West, die prägend für die Praxis der Aufarbeitung und Forschung der 1990er-Jahre gewesen seien. So betonte Thijs z.B., dass sich Forschende aus Ost und West fremd gewesen seien. Dialogmöglichkeiten seien dadurch verspielt worden. Einer der wenigen Orte, an denen wissenschaftliche Begegnungen auf Augenhöhe stattgefunden hätten, sei der Forschungsschwerpunkt Zeithistorische Studien in Potsdam gewesen (heute: Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung). Das Institut habe sich selbst als Ost-West-Umgebung präsentiert, wenngleich auch dort viele Konflikte dem Dialog letztlich Grenzen gesetzt hätten.

Sektionsübersicht:

Sektionsleitung: Elke Stadelmann-Wenz (Berlin) / Henrik Bispinck (Berlin) / Sebastian Richter (Frankfurt an der Oder)

Moderation: Irmgard Zündorf (Potsdam)

Sebastian Richter: Einführung

Sebastian Richter: Spielwiese Aufarbeitung? Frühere Bürgerrechtler und bundesdeutsche Geschichtspolitik nach 1989

Krijn Thijs (Amsterdam): Überforderte Evaluierung. Wie Gutachter aus dem Westen den Geisteswissenschaften der (ehemaligen) DDR begegneten

Henrik Bispinck / Ann-Kathrin Reichard (Berlin): Allzweckwaffe Zeitzeuge? Forschung und Zeitzeugenschaft im Deutungskampf um die DDR-Geschichte

Elke Stadelmann-Wenz: Akteure als Leerstelle? Die hauptamtlichen und inoffiziellen Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit in Forschung und Aufarbeitung

Detlef Pollack (Münster): Kommentar


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