Review-Symposium "Westforschung": Diskussionsbeitrag J. Hackmann

Von
Jörg Hackmann, Dept. of History and International Relations, University of Szczecin

Aus der Perspektive der Beschäftigung mit der „Ostforschung“ drängt sich mir bei der Lektüre der „Symposiums“-Texte ein déjà-vu-Eindruck auf: Die stärksten Impulse zur kritischen Betrachtung der Ostforschung kamen von Wissenschaftlern der von ihr betroffenen Länder, und neben der Beteiligung an der NS-Politik ging es in der Kritik immer auch um die Kontinuität der Ostforschung in Westdeutschland. Die polemischen Beschuldigungen führten bei den betroffenen Wissenschaftlern und Institutionen freilich fast ausnahmslos zu Abwehrreaktionen, die zur Klärung der Sachverhalte wenig beigetragen haben. Zwar waren die Umstände während des Kalten Kriegs andere, aber die Konfliktsituationen und die Nachwirkungen politischer Indienststellung sind zwischen Westforschung und Ostforschung so verschieden offensichtlich nicht.

Wenn man versucht, die in den Forschungs- und Diskussionsbeiträgen zur Westforschung aufgewandte Energie umfassender Quellenrecherchen wie kritischer Polemik für die weitere Diskussion in produktive Bahnen zu lenken, scheinen mir vier Punkte von Bedeutung zu sein:

Erstens wären Ost- und Westforschung, wie von Manfred Hettling angemahnt, genauer zu vergleichen und die Bezüge zwischen ihnen zu rekonstruieren. Dass Hermann Aubin im Kontext der Westforschung im „Griff nach dem Westen“ nicht in einem eigenen Beitrag behandelt wurde, wie ich dem Inhaltsverzeichnis entnehme, ist mit Blick auf seine Rolle in der „Ostforschung“ bedauerlich, um nicht zu sagen erstaunlich. Für einen solchen Vergleich wären dann auch die Reichweite der Paradigmen „Ostforschung“ und „Westforschung“ in den jeweiligen Disziplinen näher zu bestimmen. In der Diskussion über die deutsche Ostforschung hat sich seit langem die Ansicht durchgesetzt, dass es sich hier um ein spezielles Programm der Beschäftigung vor allem mit Ostmitteleuropa handelte, das keineswegs mit Osteuropaforschung deckungsgleich ist. Zukünftig wäre, anknüpfend an eine Überlegung von Manfred Hettling, auch der Singular „Ostforschung“, also die inhaltliche wie organisatorische Kohärenz, noch einmal kritisch zu prüfen, insbesondere mit Blick auf den Zweiten Weltkrieg.

Zweitens plädiere ich nachdrücklich dafür, die momentan dominierende Perspektive auf Ost- und Westforschung zu verändern. Sinnvoller als die insgesamt doch wenig ergiebigen Versuche, den Ostforschern und Westforschern die Urheberschaft und konkrete Beteiligung an nationalsozialistischen Verbrechen nachzuweisen, ist es, ihre Wirkung im Gesamtzusammenhang der Okkupations- und Vernichtungspolitik eingehender zu untersuchen. Dabei könnte sich herausstellen, dass manche der bisherigen Urteile hinsichtlich der politischen Wirkungen der Ostforschung auf Überschätzung beruhen und dass stattdessen die originären Forschungstätigkeiten und publizistische Aktivitäten zur Propagierung und Legitimierung in den Mittelpunkt der Analyse rücken. Ein solches Vorgehen muss freilich nicht zwangsläufig in Verharmlosung münden; aber die Relevanz der Befunde zu bestimmen, fordert möglicherweise mehr methodologische Anstrengungen, als sie mitunter aufgewandt wurden. Vor allem in diesem Kontext scheint mir die Frage der Fortwirkungen von Ostforschung und Westforschung nach 1945 von Bedeutung. Auch im Fall der Ostforschung ist sie bislang nur ansatzweise erhellt, insbesondere fehlt es an unabhängigen Darstellungen zu den Institutionen.

Drittens erhält für eine solche genauere Analyse der Ostforschungsaktivitäten die kritische Prüfung der Schüsselwerke, wie sie für die Westforschung am Werk Franz Petris vorgenommen wurde, eine neue Bedeutung. Nicht nur für Petris Werk, sondern auch für Werner Conzes und Theodor Schieders Qualifikationsschriften gilt, dass der ihnen zugeschriebene innovative Charakter in signifikantem Widerspruch zum heutigen Wert ihrer Erkenntnisse steht. Dabei interessiert weniger, wie sich dieses Image der Innovation festsetzen konnte, sondern was die rasche Zerfallszeit der Ergebnisse bedingte. Hier wird man nicht umhinkommen, der Einbindung in übergeordnete politische Argumentationszusammenhänge eine zentrale Rolle zuzumessen.

Mein vierter Punkt betrifft schließlich die Untersuchung der jeweiligen wissenschaftsgeschichtlichen wie politischen Diskussionszusammenhänge mit den Wissenschaften in den von der Ostforschung und Westforschung betroffenen Ländern. Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass die deutsche Diskussion der letzten Jahre praktisch ohne Berücksichtigung der Beziehungen zu den betroffenen Nationen verläuft. Gerade im Fall der Ostforschung ist aber nicht zu übersehen, dass sich ihre Protagonisten in einem kritischen oder polemischen Disput mit Wissenschaftlern der Nachbarnationen sahen, gegen die sie sich und die Interessen Deutschlands vorgeblich verteidigten. Wichtiger als die objektive Berechtigung solcher Wahrnehmungsmuster zu erörtern ist jedoch die Tatsache, dass gerade die Analyse dieser wechselseitigen Beziehungen viel zur Erhellung wissenschaftlicher Forschungs- und politischer Argumentationsstrategien beitragen kann, ging es doch nicht nur darum, dass „Volk“ als eine neue Kategorie der Kulturwissenschaften zu etablieren, sondern vor allem darum, zur Auseinanderersetzung mit dem „Gegner“ die schlagkräftigsten Argumente anzuführen, die mitunter auch sehr konventionell sein konnten.

Manche der hier angesprochenen Punkte werden entstehende Forschungsarbeiten in absehbarer Zeit in ein neues Licht stellen. Der Erörterung bedürfen dagegen insbesondere noch die Verzahnungen der deutschen Ostforschung mit ihren wissenschaftlichen Kontrahenten; das gilt, wie ich der Diskussion entnehme, auch für die Westforschung.

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