Forum: Corona-Lektüre - Samuël Coghe über M. Lyons und G. Lachenal

Von
Samuël Coghe, Globalgeschichte, Freie Universität Berlin

Maryinez Lyons, The Colonial Disease. A Social History of Sleeping Sickness in Northern Zaire, 1900–1940, Cambridge 1992 und Guillaume Lachenal, Le médicament qui devait sauver l'Afrique. Un scandale pharmaceutique aux colonies, Paris 2014 (übersetzt als The Lomidine Files. The Untold Story of a Medical Disaster in Colonial Africa, Baltimore 2017).

Ende des 19. Jahrhunderts nahm die Schlafkrankheit im Kongobecken, im Norden Angolas und später auch in Uganda und weiteren Teilen Zentralafrikas epidemische Ausmaße an. Diese Ausbrüche versetzten nicht nur die Bevölkerung in den betroffenen Gebieten in Angst und Schrecken. Die europäischen Kolonialmächte in Zentralafrika bangten um die afrikanischen Arbeitskräfte, die sie für die wirtschaftliche Ausbeutung der Kolonien brauchten, sowie um ihre Zivilisierungsmission. Es folgte ein beispielloser Wettlauf, in dem (Tropen-)Mediziner der unterschiedlichen europäischen Kolonialmächte miteinander konkurrierten, aber auch immer wieder zusammenarbeiteten, um die Ursachen der Krankheit zu entdecken, ein heilendes Medikament zu finden und später „geeignete“ Maßnahmen zur Kontrolle und Ausrottung der Krankheit zu entwerfen.

Spätestens seit Maryinez Lyons‘ bahnbrechendem The Colonial Disease (1992) hat sich die internationale und deutsche Geschichtsschreibung intensiv mit der Geschichte der Schlafkrankheit (oder Human African Trypanosomiasis – HAT) auseinandergesetzt. Die Geschichte dieser tropischen Krankheit weist wichtige Unterschiede, aber auch einige interessante Anknüpfungspunkte für die heutige Covid-19-Debatte auf. Nachdem ab 1903/04 Trypanosomen als die (parasitären) Krankheitserreger und Tsetsefliegen als ihre Vektoren feststanden, ergriffen die Kolonialmächte eine Reihe von einschneidenden Maßnahmen zur Schlafkrankheitsbekämpfung, die mit großem logistischen Aufwand betrieben wurden, insbesondere wenn man die schwachen kolonialstaatlichen (Infra-)Strukturen der Zeit bedenkt. Neben den direkten Folgen der Krankheit waren aber auch die sozialen, wirtschaftlichen und langfristigen medizinischen Folgen dieser Bekämpfungsmaßnahmen für viele Menschen und Gesellschaften in Zentralafrika immens.

Zum einen wurde die Bewegungsfreiheit der Afrikaner/innen, die im rassistisch aufgeladenen Diskurs der Zeit häufig verallgemeinert als potentielle Krankheits(über)träger/innen galten, massiv eingeschränkt, etwa durch ihre Internierung in Schlafkrankenlagern, die Umsiedlung ganzer Dörfer oder die Einführung von Gesundheitspässen für den grenzüberschreitenden Verkehr. Auch gab es massive Eingriffe in die Umwelt, weil die Kolonialmächte versuchten, die Tsetsefliegen sowie die Parasitenreservoirs in Wildtieren zu zerstören. Zum anderen wurde mit immer neuen Medikamenten versucht, die Krankheit zu heilen oder ihre Übertragung zu verhindern. Obwohl die meisten Medikamente starke und wiederholt gar tödliche Nebenwirkungen zeitigten und nur bedingt zu heilen vermochten, wurden sie insbesondere in West- und Zentralafrika für großangelegte Kontroll- und Ausrottungskampagnen benutzt.

Guillaume Lachenals 2014 auf Französisch und 2017 in englischer Übersetzung veröffentlichte Studie ist eine dystopische Analyse solcher Kampagnen in der spätkolonialen Zeit. Sie zeigt, wie Mitte der 1940er-Jahre europäische Forscher und Kolonialärzte dem neuen Medikament Pentamidin (frz. auch: lomidine) vorschnell eine zwar zeitlich auf sechs Monate begrenzte, aber dennoch effektive Immunisierung bescheinigten. Sie hegten die Hoffnung, durch regelmäßige „Impfungen“ die Schlafkrankheit endlich aus der Welt schaffen zu können. Aufbauend auf Erfahrungen mit anderen Medikamenten aus der Zwischenkriegszeit, organisierten französische, belgische und portugiesische Gesundheitsbehörden großangelegte Kampagnen, in denen mobile Gesundheitsteams die Bevölkerung in den endemischen Gebieten auf Krankheitserreger im Blut screenten und sie, eventuell nach weiteren diagnostischen Tests, in Gesunde und Kranke einteilten. Während die Kranken kurativ mit verschiedenen Medikamenten behandelt wurden, bekamen die Gesunden eine präventive Dosis Pentamidin/Lomidin gespritzt. Das Mittel schien zu wirken: Die Infektionsraten in den durchkämmten Regionen sanken rapide und am Vorabend der Dekolonisation schien die Schlafkrankheit überall fast besiegt.

Die Nachteile dieser Kampagnen, so Lachenal eindringlich, waren jedoch vielfältig und sie tauchten teilweise erst später auf. Erstens kam es durch unsaubere Spritzen oder kontaminierte Medikamente wiederholt zu Unfällen, bei denen Hunderte Afrikaner/innen an Wund- bzw. Gasbrand erkrankten und Dutzende starben. Zweitens dürften diese wie frühere Kampagnen durch die Mehrfachverwendung unsteriler Spritzen zur Verbreitung von HIV beigetragen haben. Und nicht zuletzt hätten, so Lachenal, spätere pharmakologische Studien gezeigt, dass die präventive Wirkung von Pentamidin viel kürzer war als ursprünglich gedacht. Wenn die Schlafkrankheit fast beseitigt wurde, dann nicht sosehr durch die Chemoprophylaxe der Gesunden, sondern weil in diesen Kampagnen die wahrscheinlich zahlreichen nicht-diagnostizierten Fälle ebenfalls Pentamidin gespritzt bekamen. Pentamidin tötete die Trypanosomen in deren Blut und machte sie für längere Zeit nicht-infektiös, was dazu beitrug, den Übertragungszyklus zu stoppen.

Zusammen gelesen bieten die Bücher von Lyons und Lachenal einen umfassenden Überblick über biomedizinische Strategien bei der Bekämpfung einer tropischen Krankheit. Sie zeigen aber auch allgemeiner, wie europäische (Kolonial-)Staaten und Mediziner im 20. Jahrhundert auf Epidemien tödlicher Krankheiten reagierten. Diese lösten nicht nur große Ängste aus, sondern mobilisierten auch ungeahnte Ressourcen zur Kontrolle von Krankheit und Menschen. Die von Lachenal beschriebenen Test-, Immunisierungs- und Behandlungskampagnen etwa betrafen in den 1950er-Jahren jährlich Millionen von Menschen in ländlichen Gebieten Zentralafrikas, nach deren Meinung nicht gefragt wurde. Beide Bücher dokumentieren somit, neben den Grenzen des biomedizinischen Wissens und Könnens, auch die mannigfaltigen ethischen Grenzüberschreitungen und die manchmal langfristigen gesellschaftlichen Folgen biomedizinischer Eingriffe.