Mensch und Tier stehen seit jeher in engen und vielfältigen Wechselbeziehungen zueinander, gerade in den Bereichen Gesundheit, Medizin und der damit einhergehenden wissenschaftlichen Beschäftigung. Nicht zuletzt angesichts der jüngsten Erfahrungen mit COVID-19 bezüglich der Auswirkungen, die Tiere auf die gesundheitliche und somit medizinische Entwicklung bis hin zu einem globalen Niveau einnehmen können, kommt diesem Themenfeld jüngst gesteigerte Bedeutung und Aufmerksamkeit zu. Auch die Geschichtswissenschaft kann, wie die Tagung eindrücklich zeigte, bei dieser Erweiterung des Forschungs- und Erkenntnishorizontes nicht außen vor bleiben. Gerade das aktuell viel diskutierte Konzept „One Health“, das sich der Interdependenzen der Gesundheit von Mensch, Tier und Umwelt bewusst ist und ihnen in der wissenschaftlichen Beschäftigung Rechnung trägt, drängt auf eine verstärkte Berücksichtigung des „Nicht-nur-Menschlichen“ in der Forschung. Entsprechend dieser Entwicklungen bildete die Beziehung zwischen Mensch und Tier einen Schwerpunkt der Tagung. Die Beiträge näherten sich der weiten Thematik von Seiten der wissenschaftlichen Arbeit an und mit Tieren, nahmen aber auch die Grenzbereiche zwischen menschlicher und tierischer Umwelt, Fragen der ethischen und emotionalen Komponente im Umgang mit Tieren sowie das von Mensch und Tier geteilte Grundbedürfnis nach Gesundheit und Pflege in den Blick.
AXEL HÜNTELMANN (Berlin) verdeutlichte am Beispiel der Forschung des Mediziners Friedrich Franz Friedmann an einem Tuberkulose-Vakzin an Schildkröten, in welch unterschiedlicher Weise Tiere am Beginn des 20. Jahrhunderts im medizinischen Kontext Verwendung fanden. Dabei wurden verschiedene mögliche Framings, denen Tiere historisch-analytisch zugeordnet werden können, ermittelt: das Tier als Patient, als Krankheitsüberträger, als Vektor, als Modellorganismus in einem Labor-Setting und als Wirtstier für die Herstellung von Arzneimitteln (etwa dem Diphtherieserum oder der animalen Pockenlymphe). Wenngleich ökonomisch und wissenschaftlich nicht erfolgreich, erlaubte das Beispiel von Friedmanns Schildkröten-Tuberkulose-Forschung, die Kategorisierung von und Zugänge zu Tieren in der Medizin zu veranschaulichen.
MARTIN HUTH (Wien/Innsbruck) sprach vor dem Hintergrund von „One Health“ und auf der Basis der Analyse von Schlagzeilen in den (Print-)Medien über das moralische Framing von Tieren in der Medizin. Der Medizinethiker konstruierte dabei ein Spannungsfeld, das durch die vier interdependenten Größen Subjektivierung, Objektivierung, Sensibilität und Vulnerabilität des Tieres abgesteckt ist. Als Fazit verdeutlichte er die unausweichliche, selektive Anerkennung der Vulnerabilität verschiedener Tiere bzw. Tierarten in den analysierten Zeitungsartikeln. Diese entstehe, so Huth, durch die zwangsweise Teilung der gleichzeitigen Aufmerksamkeit für verschiedene Tiere.
In einer historischen Darstellung der Kooperation zwischen dem Veterinärmediziner Walter Hofmann und dem Neurologen Ernst Frauchiger, beide Schweizer, behandelte SARA MÜLLER (Zürich) deren Beiträge zur Forschung bezüglich der Gesundheit des Milchviehs. Dabei ging sie auf die Behandlung von als „Untugenden“ bezeichneten, vom Menschen in der agrarisch-ökonomischen Arbeit mit den Rindern unerwünschten Verhaltensweisen der Tiere ein, denen sich das Forscher-Duo von einem vergleichend-neurologischen Standpunkt aus widmete. Weiters thematisierte der Beitrag die hervorgehobene Bedeutung der persönlichen Relation zwischen Melker und Milchkuh unter therapeutischen und ursächlichen Gesichtspunkten, womit auch Aspekte einer „Medizingeschichte von unten“ Eingang in die Betrachtungen fanden.
SOPHIA BAUER (Wien) und LEO SCHAUKAL (Wien) widmeten sich der Rolle, die Tiere als vergleichend-anatomischer Untersuchungsgegenstand bei dem Wiener Anatomen Ferdinand Hochstetter gespielt hatten und zeichneten anhand eines beispielhaften Artikels Hochstetters den Prozess nach, durch den sich im Zug der anatomischen Präparations- und Forschungsarbeit die Wandlung vom Tier zum Artefakt vollzog. Diese prozesshafte Artefakt-Werdung verstanden sie als ebenso durch die von Hochstetter untersuchten Fragestellungen wie durch die ihm zur Verfügung stehenden räumlichen und materiellen Ressourcen geprägt und durch seine persönlichen, wissenschaftlichen und regionalen Netzwerke ermöglicht. Auf diese Weise gelang es den Vortragenden, eine vergangene Wissenschaftspraxis zu rekonstruieren.
MARTIN KRENN (Wien) verdeutlichte die Rolle, die Johann Baptist Natterer, Teilnehmer der Brasilien-Expedition, bei der Erforschung von Eingeweide-Würmern spielte. Mit der Krönung Erzherzogin Leopoldines zur Kaiserin von Brasilien kamen vermehrt österreichische naturwissenschaftliche Gesandtschaften nach Brasilien, u.a. jene von Natterer. Krenn zeigte, dass auch wegen der regen Sammlungsaktivität Natterers auf der Expedition durch Brasilien ein eigenes Brasilien-Museum mit mehr als 1.700 Eingeweidewürmer-Exemplaren in Wien eingerichtet werden konnte. Um die Eingeweidewürmer zu erhalten, wurden diese noch in Brasilien aus Mensch und Tier herauspräpariert, wofür eigene Apparaturen entwickelt wurden. Die weite Verbreitung des parasitären Wurmbefalls bei Mensch und Tier im Europa des 19. Jahrhunderts bildete den Hintergrund dieser Sammelleidenschaft und Forschungsbemühungen.
DANIELA HAHN (Wien) ging der Frage nach, warum oftmals Affen in Porträts von Medizinern dargestellt sind. Das Ärzteporträt wurde als Sonderform des in der kunsthistorischen Tradition der Darstellung von Philosophen stehenden Gelehrtenporträts verstanden. Die Abbildung von Affen weist eine längere kunstgeschichtliche Tradition auf; als möglicher Ursprung wurde die Gestalt des Renaissance-Anatomen Andreas Vesalius (16. Jahrhundert) identifiziert. Mit der Evolutionstheorie Charles Darwins, der das Verwandtschaftsverhältnis von Mensch und Affe betonte, wurde ein bestimmender Faktor für das Wiederaufleben dieses Sujets im 19. Jahrhundert genannt und der Affe als künstlerische Inklusion des Kunstkritikers in das fertige Porträt andiskutiert.
VICTORIA MORICK (Göttingen) behandelte die Rolle von Tieren in der Syphilisforschung am Anfang des 20. Jahrhunderts, wobei der Fall des „Kaninchens Nr. 34“ als Versuch einer Tierbiographie herangezogen wurde. Auf dichter Quellengrundlage ergab sich in diesem Kontext eine Betrachtung der Tiere als Heilmittel und als Produktionsobjekte, wobei die quellenmäßig fassbaren individuellen Bedürfnisse des konkreten Tieres verdeutlichten, dass Tiere sich einer strikten Objektivierung entzogen, was den Befund eines fluiden Subjekt-Objekt-Status von Versuchstieren nahelegt. Da Tiere dennoch eine Ressource blieben, sei laut Morick eine Hierarchisierung von Mensch und Tier in der Forschung entstanden, wobei Tiere als Substitut für den kranken Menschen fungierten.
GERHARD AMMERER (Salzburg) begriff den in der Frühen Neuzeit allgegenwärtigen Wurm zum einen als einen mit Krankheitswert ausgestatteten Parasiten und zum anderen als ein mögliches Heilmittel im Spannungsfeld zwischen „akademischer Medizin“ und „Volksmedizin“. Insbesondere in letzterer wurde das Phänomen beleuchtet, dass Würmer – aufgrund der Interpretation des Wurmes als dämonisches Tier – als Verursacher verschiedener Schmerzzustände aufgefasst wurden, sogar als Spiegel von Schmerzvorstellungen dienten. Religiöse Vorstellungen waren ein möglicher Erklärungsansatz für dieses Konzept, wobei ihnen die im 18. Jahrhundert erfolgte akademische Annäherung an Würmer zunehmend entgegengestellt und der Wurm als Krankheitserreger säkularisiert wurde.
MARIA HEIDEGGER (Innsbruck) gab einen Einblick in ihr aktuelles Forschungsvorhaben zur Tollwut in Tirol im späten 18. und 19. Jahrhundert: 1820 etwa wurden Menschen als Verursacher, um 1850 die Tollwut als eine psychische Erkrankung von Hunden begriffen. Die Historikerin präsentierte ebenso die religiös aufgeladene Erklärung, die betroffenen Tiere seien vom Teufel besessen. Weiters kam die Reaktion der Behörden und der Bevölkerung auf Tollwutfälle zur Sprache, die sich beim Umgang mit Hundehaltern unterschiedlicher Schichten als sozial segregiert darstellt. Dabei stellte sich heraus, dass die Tollwut üblicherweise als ein weitaus gravierenderes Problem empfunden wurde, als die tatsächliche Fallzahl gerechtfertigt erscheinen ließ.
Der erste Tagungstag wurde durch eine Lesung der vielfach ausgezeichneten österreichischen Autorin TERESA PRÄAUER abgerundet. Präauer las aus ihrem 2018 erschienenen Werk „Tier werden“ (Wallstein Verlag) und ließ dabei die Grenzen zwischen Mensch und Tier verschwimmen. Unterhaltsam kommentiert wurde die Lesung vom Kulturwissenschaftler und Philosophen THOMAS MACHO.
MICHAEL K. SCHULZ (Potsdam) beleuchtete die Betäubung von Tieren in der deutschen Schlachtindustrie bis 1933 und die Rolle der Tierärzte in der zeitgenössischen Debatte darüber. Angesichts der fortschreitenden Industrialisierung der Fleischproduktion waren Tierärzte aufgerufen, sich den Empfindungen von Schlachttieren während des Schlachtvorgangs zu widmen. Die primär jüdische Praxis der Schächtung bildete einen zentralen Punkt der tierärztlichen und öffentlichen Debatte, weshalb die Frage in den Fokus gerückt wurde, inwieweit sich Tierschutz und Antisemitismus vermengten – bis zum nationalsozialistischen Verbot des Schächtens im Tierschutzgesetz von 1933. Es zeigte sich eine Schnittmenge aus Tierschützern, -ärzten und Nationalsozialisten, wobei nicht alle Tierschützer Nationalsozialisten waren.
CHRISTIAN KAISER (Bonn) lieferte einen Beitrag zu einer jüngeren Phase des Tierschutzes, indem er sich der Debatte zu Tierversuchen annahm, die seit einer Dokumentation von Horst Stern aus dem Jahr 1978 an Fahrt aufnahm. Er benannte drei Hauptmotive, anhand derer die auf Tierversuchen basierende Forschung gegenüber den Forderungen und Vorwürfen des Tierschutzes Stellung bezog: Erstens präsentierte sich die tierexperimentelle Forschung als „die Wissenschaft“ schlechthin. Zweitens wurde Kritik an Tierversuchen mit Wissenschaftsfeindlichkeit gleichgesetzt. Und drittens wurde darauf gedrängt, die Debatte zu versachlichen und zu de-emotionalisieren. Daran anknüpfend zeigte Kaiser, dass an dieser grundsätzlichen dichotomen Haltung seitens der tierexperimentellen Forschung, die „die Wissenschaft“ „den Laien“ gegenüberstellt, bis zur und auch seit der Baseler Deklaration von 2010 keine strukturelle Änderung zu erkennen ist.
CHRISTINA VANJA (Kassel) sprach über das Pferd in seiner Bedeutung für den Kurbadebetrieb bis zum Ende des 19. Jahrhunderts. Diese umfasste sowohl die Rolle, die Pferde im menschlichen Kurbetrieb innehatten – etwa als Zugtiere von Mietkutschen –, als auch das Pferd selbst als Kurgast in einer Reihe eigener Pferdekurbäder in Deutschland, die mit dem Ende des 19. Jahrhunderts allerdings gänzlich aus der Mode kamen. In diesem Zusammenhang legte Vanja dar, dass die tierischen Kurgäste nach denselben humoralpathologischen Grundsätzen behandelt wurden wie die menschlichen. Ebenso verwies sie auf das Bewusstsein vom grundsätzlichen Wert von Bädern zur Erholung und Kräftigung der Tiere.
MONIKA ANKELE (Wien) fragte nach der Rolle von Tieren im psychiatrischen Alltag um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Während ab den 1950er-Jahren damit begonnen wurde, Tiere gezielt als Co-Therapeuten in psychiatrischen Kontexten einzusetzen, ließ sich diese Praxis für die Zeit davor nicht feststellen. Jedoch hatten Patient:innen bereits am Beginn des Jahrhunderts regelmäßigen Kontakt mit Tieren, den schon Florence Nightingale als heilsam erfasste: Der jeweilige individuelle Tierkontakt zeigte sich als abhängig vom Patient:innen-Geschlecht – so ist eine klare geschlechterspezifische Aufgaben- und Raumteilung im Kontext der Arbeitstherapie erkennbar – und vom sozialen Stand der Betroffenen, da dieser bestimmte, in welche Einrichtungen sie eingewiesen wurden.
In einer anschaulichen und zum Mitmachen anregenden Präsentation stellte die Begleit- und Therapiehundestaffel des Samariterbundes Wien-Favoriten ihre Tätigkeitsbereiche in der tiergestützten Therapie vor. Obmann PETER ERDLE gab Einblicke in die Entstehungsgeschichte dieser in Österreich bislang einzigartigen ehrenamtlichen Initiative. Staffelkommandant JOCHEN GOLD und Hundeführerin ELISABETH GARZ präsentierten anschließend mit ihren Hunden Tenya und Mona die Einsatzbereiche in Kindergärten und Schulen, in Behinderten-, Pflege- und Altenheimen sowie die Unterstützung von psychisch Erkrankten.
EBERHARD WOLFF (Basel) plädierte in seinem Abschlusskommentar für ein erweitertes Verständnis der Medizingeschichte, das über die ausschließliche historische Forschung zur Humanmedizin hinausgeht, die Tiere bisher weitgehend ausblendet. An diese Forderung anknüpfend, nannte er ein weites Spektrum möglicher Themenbereiche, das einen Eindruck von der Bandbreite potenzieller Forschungsgegenstände im Kontext von Tieren und Medizin gibt: das Verhältnis des Menschen zu Tieren, Beziehungen mit Tieren, Grenzverhandlungen von Mensch und Tier, multiple Interdependenzen bzw. Netzwerke von Bezügen zwischen Mensch und Tier, die Perspektive der Tiere selbst, die Agency der Tiere, ethisierende bzw. moralisierende Fragen im Kontext von Tier und Medizin sowie das konkrete Verhältnis der Forschenden zum Tier in seinen diversen Facetten. All dies fand in den Vorträgen der Tagung Ausdruck. Als kurzer Einblick in diese so weitläufige Thematik gedacht, boten die Themenbereiche gleichzeitig einen Ausblick auf das, was in diesem Forschungsfeld noch möglich und zu erwarten ist.
Konferenzübersicht:
Panel 1: One Health – Mensch, Tier, Umwelt
Axel Hüntelmann (Berlin): Mensch-Tier-Beziehungen in der Medizin: Tiere als Vektor, Patient, Labor-Aktant, Serum- und Vakzinproduzent
Martin Huth (Wien/Innsbruck): Gefährdungspotential, Ressource, Patient:in: Über multiple Rollen von Tieren im Kontext von Gesundheit und ihre ethischen Implikationen
Sara Müller (Zürich): Über die Untugenden des Rindes. Zur Zusammenarbeit von Walter Hofmann (1902-1981) und Ernst Frauchinger (1903-1975)
Panel 2: Tiere als Erkenntnisgegenstand I
Sophia Bauer (Wien) und Leo Schaukal (Wien): Tierpräparate bei Ferdinand Hochstetter – Artefakte einer vergangenen Wissenschaftspraxis
Martin Krenn (Wien): Leopoldines Jaguare, Natterers Würmer – Tiere als „Sammlungs- und Erkenntnisobjekte“ im Kontext der österreichischen Brasilien-Expedition (ab 1817)
Panel 3: Tiere als Erkenntnisgegenstand II
Daniela Hahn (Wien): Wie kommt der Affe ins Medizinerporträt? Oder: Die Affen und die Anatomie
Victoria Morick (Göttingen): Unterm Objektiv zum Objekt? Zu Tieren und Repräsentationen in der Syphilisforschung im frühen 20. Jahrhundert
Gerhard Ammerer (Salzburg): Der Wurm: Krankheitsursache und Heilmittel in der frühen Neuzeit
Panel 4: Mensch und Tier – prekäre Grenzen?
Maria Heidegger (Innsbruck): Gebissen von einem verdächtigen Tier: Tollwut in Tirol 1784-1849
Panel 5: Tiere, Ethik, Emotionen
Michael K. Schulz (Potsdam): Deutsche Tierärzt:innen und die Betäubung der Schlachttiere bis 1933
Christian Kaiser (Bonn): Tierversuche verstehen, Emotionen ignorieren: die Popularisierung der tierexperimentellen Praxis von den 1970er-Jahren bis zur Basler Deklaration
Panel 6: Gesunderhaltung von Mensch und Tier
Christina Vanja (Kassel): Das Pferd im Kurbad – Heilung für Mensch und Tier
Monika Ankele (Wien): „Entschuldigen Sie bitte, wo erhält man hier in der Nähe Spratt’s Hundekuchen?“ Sondierungen zu Mensch-Tier-Beziehungen in psychiatrischen Einrichtungen um 1900
Samariterbund Favoriten (Wien): Der Besuchs- und Therapiebegleithund in Österreich
Eberhard Wolff (Basel): Mensch, Tier und Gesundheit – ein vergleichender Abschlusskommentar