Forum: Digitales Lehren - Interview mit Wolfgang Schmale (Universität Wien)

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Wolfgang Schmale, Institut für Geschichte, Universität Wien

H-Soz-Kult: Herzlichen Dank an Sie, Herr Schmale, für Ihre Bereitschaft zu einem Interview in unserem Themenschwerpunkt Digitale Lehre auf H-Soz-Kult. Als Professor für Europäische Geschichte an der Universität Wien beschäftigen Sie sich bereits seit vielen Jahren mit der Transformation der Geschichtswissenschaften ins Digitale und mit den Potentialen des World Wide Web für die Lehre. Können Sie unseren Leserinnen und Lesern vielleicht kurz erläutern, was für Sie Lehre im Digitalen bedeutet?

Wolfgang Schmale: „Lehre im Digitalen“ hat sehr viele Seiten. „Nicht-digitale“ und „digitale“ Welt verschmelzen immer mehr. Forschung, die jetzt betrieben wird, liegt auch in den Geistes- und Kulturwissenschaften („Humanities“) inzwischen nahezu zu 100 Prozent auch digital vor. In ganz wenigen Jahren wird es für ein Bachelor-Studium hinsichtlich Primärquellen und Forschungsliteratur im Wesentlichen für Lehre und Studium ausreichen, nur mehr auf online verfügbares Material zurückzugreifen. Das steigert Effektivität und Qualität des Studiums.

Abgesehen vom Einsatz von Lernplattformen mit ihren vielen didaktischen Tools, bedeutet das Szenario, dass der mit dem Bologna-Prozess (völlig unnötig) eingeleitete Verschulungs- und Infantilisierungsprozess der BA-Studien gestoppt werden kann; BA-Studien können wieder genuine wissenschaftliche Studien sein, in denen das „forschen lernen“ und im angemessenen Umfang selber forschen erneut im Vordergrund steht. Die digitalen Techniken machen es möglich, Studierende gezielt individuell durchs Studium zu begleiten – was nicht bedeutet, die Präsenzlehre abzuschaffen; es geht um eine Mischform, die effektiver ist.

Der kritische Umgang mit digitalen Angeboten aller Art muss ein eigenständiger Bestandteil jeder akademischen Lehre sein, Kompetenzen, sich an der digitalen Produktion zu beteiligen, gehören ebenso dazu. Auch wer ein geisteswissenschaftliches Studium absolviert, sollte eine Datenbank erstellen und einfache zweckdienliche Algorithmen für das data mining beispielsweise programmieren können. Das sind nur ein paar Aspekte aus vielen möglichen anderen.

H-Soz-Kult: Lehrveranstaltungen in den Geisteswissenschaften zeichnen sich vor allem durch Kommunikation aus: Wie können Ihrer Meinung nach die kommunikativen Aspekte der Wissensvermittlung, die typisch für ein Seminar oder eine Übung sind, in den virtuellen Raum transferiert werden? Wie lassen sich intellektuelle Auseinandersetzungen virtuell produktiv führen?

Wolfgang Schmale: Die direkte Kommunikation gemeinsam im selben Raum ist letztlich nicht zu ersetzen. Mit gutem Grund haben sich die meisten Allgemeinuniversitäten – unter Normalbedingungen – für die Beibehaltung der Präsenzlehre entschieden, ergänzt durch E-Learning. Da, wo es auch in unseren Fächern und im Studium tatsächlich um „lernen“ geht, eignen sich digitale Tools, mit denen man bestimmte Fertigkeiten schlicht besser erwirbt, als wenn es nur in der Vorlesung gesagt und am Beispiel dargestellt und anschließend in einer schriftlichen Aufgabe einmal durchexerziert wird. Durch die Ausgangsbeschränkungen in der aktuellen Corona-Zeit wird Präsenzlehre durch Videokonferenz-Tools teilweise ersetzt. Selbst wenn es nicht die technischen Gebrechen gäbe, die es fast überall gibt, und selbst wenn nicht in den größeren Ortschaften die Netze immer wieder überlastet wären, sodass die Studierenden, hoppla, aus der Videokonferenz rausfliegen, wieder reingehen, wieder rausfliegen..., oder man selber, der „Host“, „Moderator“ oder wie auch immer – die Effektivität einer Kommunikation persönlich untereinander im Seminarraum wird nicht erreicht. Die intellektuelle Produktivität ist nicht dieselbe. „Wissensvermittlung“ im engeren Wortsinn, sprich „Vorlesung“, ist dagegen für „virtuelle“ Verfahrensweisen geeignet, aber meiner subjektiven Erfahrung an der Massenuni Wien nach ziehen die Studierenden die persönliche Anwesenheit und Begegnung im Hörsaal virtuellen Formaten vor. Für Wissenschaft (nur Geisteswissenschaften?) ist die Kopplung von Kommunikation und Soziabilität durch physische Präsenz wichtiger als man es manchmal wahrhaben mag. Trotzdem wäre es gut, wenn die augenblicklich massenweisen Erfahrungen mit virtueller Lehre während der Corona-Beschränkungen gesammelt und ausgewertet würden – wir hätten die Chance auf eine echte Massendatenbasis, die uns bei der Justierung der künftigen Mischung von virtueller und Präsenzlehre helfen könnte.

H-Soz-Kult: Sie widmen sich ja auch ganz praktisch den Digitalen Geschichtswissenschaften und dem E-Learning: Wie planen Sie Ihre Lehrinhalte für digitale Plattformen, welche Inhalte und Medien nutzen Sie? Wie gehen Sie bei der Planung von Lernzielen und Inhalten einzelner Sitzungen vor? In welcher Form fließen hier vor allem Ihre Erfahrungen aus genuinen Digital-History-Projekten mit ein und welche digitalen Werkzeuge und Plattformen nutzen Sie?

Wolfgang Schmale: Lernplattformen sind mittlerweile sehr vielseitig, sie bieten Wikis, Chats, Videokonferenztools usw. Es ist eher so, dass man sich vor einem didaktischen Overkill hüten muss und – jedenfalls in den Geisteswissenschaften – nie aus den Augen verlieren darf, dass die Verschulung des Lernens im Studium kontraproduktiv ist. Das ändert nichts daran, dass die vielen Möglichkeiten, Studierenden z.B. „bequem“ Material und gute Links in Lernplattformen bereitzustellen, erheblich zur Qualitätssteigerung beiträgt. Man hat die Portionierung des Stoffs sehr gut in der Hand, was wichtig für den Erfolg ist. Ich kann keine Klage darüber führen, Studierende würden nicht genug lesen, nicht recherchieren können, etc. Ein Loblied auf Lernplattformen, denn sie ermöglichen eine klare und visualisierbare (!) Semesterstruktur mit Material, Deadlines, Aufgaben usf. Das strukturiert für alle Beteiligten – man muss sich halt selber diszipliniert dran halten.

Abgekommen bin ich hingegen vom Arbeiten mit Studierenden in Datenbanken wie dem seinerzeit von meinem Team und mir entwickelten „Hypertextcreator“ (ein Contentmanagementsystem, mit dem die Studierenden lernten, gemeinsam zu einem Thema einen Hypertext zu produzieren), weil es zu zeitaufwendig ist (Wikis haben nicht denselben Effekt). Der Systemdruck auf die Studierenden, schnell zu studieren, steht so etwas wie dem Hypertextcreator entgegen. Die Entwicklung des wissenschaftlichen Geistes in den Geisteswissenschaften aber braucht Zeit und könnte durch das Arbeiten in Datenbanken sehr gefördert werden, weil man sich in die semantische Vernetzung von Inhalten, Themen etc. hineindenken muss.

Was weitere digitale Werkzeuge, die ich gerne nutze, angeht, so gestehe ich hiermit, dass ich – horribile dictu!? – eine ganze Reihe von Tools aus dem Google-Universum einsetze, erkläre und damit arbeiten lasse. Alle solche Tools (Ngram Viewer https://books.google.com/ngrams, Google Trends https://trends.google.de/trends/ u.a.m.) oder andere, nicht aus dem Google-Universum wie Worldcat Identitites https://www.worldcat.org/identities/, haben ihre Tücken und Schwächen, aber sobald man diese kennt, kann man sehr nützliche Recherchen damit durchführen. Ich lasse auch den Umgang mit Übersetzungsmaschinen erproben. Nicht zu erwähnen die vielen wissenschaftlich geprüften Primärquellen-Datenbanken, die zur Verfügung stehen. Ein unschlagbarer Mehrwert all dessen ist, dass viele Themen deutlich leichter und besser als früher noch in ihrer globalen Dimension untersucht werden können.

H-Soz-Kult: Sie haben neulich auf Ihrem Blog https://wolfgangschmale.eu von einer „Data Science“ als Metawissenschaft gesprochen, in der man die hermeneutische Methodik der Geschichts- und Kulturwissenschaften mit den Möglichkeiten der Datenanalyse verbinden könne. Welcher methodischen Neuerungen bedarf eine solche „Data Science“ und benötigen wir in den Geschichtswissenschaften nicht dennoch eigene methodische Entwicklungen – ein mögliches Stichwort wäre z.B. eine sogenannte „Digitale Quellenkritik“?

Wolfgang Schmale: Je mehr „Material“ – das meint Forschungsliteratur, digitalisierte Primärquellen jeglicher Art, Datenbanken und digitale Corpora, digital edierte Quellen usw. – digital zur Verfügung steht, desto mehr Daten haben wir auch in den Geistes- und Kulturwissenschaften. Wir machen aber viel zu wenig daraus. Ich habe oben schon data mining angesprochen, man könnte topic modeling dazu nehmen – das gehört nach wie vor nicht zur Kernkompetenz von Geisteswissenschaftler/innen, es sollte aber nach und nach dazu werden und in die universitäre Lehre eingebaut werden.

Im Blog verweise ich auf die Methodenrevolutionäre des 17. und frühen 18. Jahrhunderts wie Descartes und Newton (und viele andere wie Galilei...), die Wissenschaft als solche auf die (in unsere heutige Ausdrucksweise übersetzt) Erstellung und Auswertung von „Daten“ gründen. Die modernen Geisteswissenschaften haben methodisch darin genauso ihren Ursprung wie die Naturwissenschaften. Da gibt es keinen Gegensatz – der heute hingegen im Kampf um die öffentlichen Ressourcen zelebriert wird. Grund genug, die Datenwissenschaften als grundsätzlichen Teil der Humanities zu reklamieren.

Dennoch hat Datenwissenschaft in jedem Fach eigene Ausprägungen; so etwa die von Ihnen genannte „digitale Quellenkritik“, die zwei Seiten hat: Kritik der digitalen Quellen, jeglicher digitaler Quelle; digitale Kritik der Quelle(n), die fix mit einer digitalen/digitalisierten Quelle verbunden ist. Da tut sich ein Universum auf, schon deshalb, weil alles Digitale miteinander vernetzt werden kann oder könnte, und dann data mining interessant macht.

H-Soz-Kult: Ihr geschichtswissenschaftlicher Forschungsschwerpunkt ist die Europäische Geschichte. Vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie haben Sie, ebenfalls auf Ihrem Blog, bereits eine Europäische Integration 2.0 gefordert, mit einem Fokus auf einer Politik zur Überwindung der zunehmenden Nationalisierung und Abschottung in vielen Bereichen (z.B. Wirtschaft, Flüchtlinge, EU-Institutionen etc.). Gibt es Ideen und Wünsche Ihrerseits hinsichtlich einer solchen Version 2.0 mit Blick auf die Wissenschaft bzw. für Forschung und Lehre nach der Pandemie?

Wolfgang Schmale: Die Corona-Pandemie wird nicht die letzte gewesen sein. Man kann nur hoffen, dass danach niemand mehr sagt, 5G brauche es nicht an jeder Milchkanne. Doch, das braucht es, wenn ein ganzes Land, ein Gutteil der Welt von heute auf sofort auf Teleworking, Home-Office, Home-Learning etc. umsteigen muss. Die Universitäten und Schulen müssen die Geldmittel erhalten, um digitaltechnisch aufrüsten zu können. Das nächste Mal müssen die Videokonferenztools überall stabil funktionieren, vor allem müssen sie zur Verfügung stehen und nicht erst dann angeschafft werden, wenn sie zwingend gebraucht werden. Der Lehralltag sollte sich ohnehin auf eine Mischform zwischen virtueller und Präsenzlehre zubewegen.

Mit Blick auf Forschung und Universität: Auch in den Geistes- und Kulturwissenschaften sollten die Forschungsdaten aus ihren diversen Gefängnissen befreit, allgemein zugänglich und vernetzbar gemacht werden. Das geht freilich über Europa hinaus, aber das in Europa zu tun, wäre ein Anfang. Das kostet sehr viel Geld. Da Forschungsliteratur heute immer digital vorliegt, sollte jede Publikation allen Forscher/innen digital zugänglich sein, nicht nur die, die sich die eigene Universitätsbibliothek mit ihrem beschränkten Budget leisten kann. Die Verlage entwickeln sich ja immer mehr in die Richtung von Forschungsliteraturservern, sind also eh dabei, sich neu zu definieren. Warum also nicht den nächsten Schritt tun? Das benötigt ein neues Finanzierungsmodell.

Es wäre sinnvoll, die Universitäten mit mehr Videokonferenzsälen mit fortgeschrittener Technik auszustatten. Damit ist jetzt nicht die Lehre gemeint, sondern es geht darum, dass der Austausch zwischen Wissenschaftler/innen nicht immer zwingend in der Form von Tagungen, Workshops usw., zu denen man anreisen muss, stattfinden muss. Manches ist durch eine Videokonferenz ersetzbar. Ohnehin muss darüber intensiver nachgedacht werden, weil es auf lange Sicht zur Reduktion von (Flug-)Verkehr und von mit dem Reisen verbundenem zusätzlichem Ressourcenverbrauch beiträgt. Das Stichwort wäre, wie man den Wissenschafts- und Lehralltag mithilfe des Digitalen ökologisieren kann. Welche lieb gewordenen Gewohnheiten können wir aufgeben, ohne dass die Wissenschaft deshalb Schaden nähme!?

H-Soz-Kult: Welche Anregungen möchten Sie abschließend den Kolleginnen und Kollegen für die Planung und Durchführung digital(er) (gestützter) Lehre mit auf den Weg geben?

Wolfgang Schmale: Ich denke, die Vielfalt ist das Entscheidende. Gut ist es, wenn die Studierenden in den Hörsaal oder Seminarraum ein internetfähiges Gerät mitbringen, mit dem Sie auch arbeiten können. Dann macht es Sinn als Vortragende/r, in der Lernplattform eine Powerpointpräsentation (oder ein anderes Programm) zum Herunterladen für die Vorlesung zur Verfügung zu stellen, in der die Hörer/innen dann direkt bei den Slides Notizen eintragen können. Wenn man sie dann dazu bringen könnte, den Audiostream der Vorlesung tatsächlich nachzuhören und die dazugegebenen Fragen für sich im Selbststudium zu beantworten, dann würde man am Ende des Semesters bei deutlich mehr Klausuren eine Freude haben.

Wenn im Seminarraum alle ihr Gerät dabei haben, kann man getrost den Beamer und PC im Raum ausgeschaltet lassen. Nicht bei der Vorlesung im Hörsaal, da nicht, aber im Seminarraum mit einer Gruppe stört der Beamer eher, als dass er die geistige Produktivität fördern würde. Damit kommen wir jetzt am Ende zu etwas ganz Basalem, nämlich dem sinnvollen Einsatz von sei es Tablets, sei es Smartphones, sei es Notebooks, sei es... auch durch die Studierenden. Die Nutzung digitaler Ressourcen im Seminar selber durch die Teilnehmer/innen eröffnet eine ganze Menge didaktischer Möglichkeiten, unter anderem „echtes“ direktes Forschen sozusagen in Echtzeit.

H-Soz-Kult: Herr Schmale, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Wolfgang Schmale: Sehr gerne.

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