H-Soz-Kult: Lieber Herr Bernhardt, Sie haben als Professor für Didaktik der Geschichte an der Universität Duisburg-Essen bereits langjährige Erfahrung mit digital gestützter Lehre. Vor diesem Hintergrund: Welche Besonderheiten sehen Sie für Veranstaltungen der Geschichtsdidaktik im Hinblick auf digitale oder digital gestützte Lehre?
Markus Bernhardt: Zunächst scheint es mir wichtig, mit bestimmten Erwartungen zu brechen, die in den vergangenen Jahren immer wieder mit der digital gestützten Lehre in Verbindung gebracht worden sind. Das sind zum einen der Ressourcen-Effekt, zum anderen die aus meiner Sicht nutzlose Diskussion um den didaktischen Mehrwert und zum dritten die Vorstellungen vom „digital native“. Im Hinblick auf die „smarte“ Technologie war die Diskussion über die Einführung digitaler Lehr- und Lernformate immer von der Auffassung grundiert, man könne dadurch alle möglichen Ressourcen einsparen. Im Hinblick auf die Erstellung und Etablierung solcher Formate ist das Gegenteil richtig. Gute und professionelle digitale Lehr- und Lernformen zu konstruieren, ist teuer und verschlingt Unmassen an Arbeitszeit. Es ist nicht damit getan, auf die Schnelle ein paar Texte zu scannen und Multiple-Choice-Tests dazu zu verfassen. Unehrlich ist zweitens die Diskussion um den didaktischen Mehrwert von digitalen Medien. Dahinter verbirgt sich eine kulturpessimistische Perspektive. Mir ist nicht bekannt, dass die Frage nach einem derartigen Mehrwert an Bücher oder Zeitungen gestellt worden ist. Gleichwohl ist es notwendig, mit klarem Blick Chancen und Probleme des Medienwandels zu erkennen und zu benennen, um digitale Werkzeuge didaktisch sinnvoll zu nutzen. Drittens taucht in der Diskussion häufig die Figur des „digital native“ auf, der angeblich qua digitaler Sozialisation seit Geburt das Knowhow zur problemfreien Bedienung von technischen Geräten, Software und Apps erworben hat. Auch das ist eine Fehlvorstellung. Wir stellen in unseren Seminaren immer wieder fest, dass Studierende wohl ihr Smartphone bedienen können, aber bereits mit dem Handling von Tablets überfordert sind, ganz zu schweigen von der Nutzung der Software für ein interaktives Whiteboard. Ihnen fremde Betriebssysteme wie Mac OS stellen sie vor allergrößte Hürden. Auf der anderen Seite nehmen sie schnell diese Hürden, wenn man ihnen ermöglicht, unter Anleitung mit entsprechenden Programmen zu arbeiten. Um auf Ihre Frage zurückzukommen: Die Veranstaltungen in der Geschichtsdidaktik im Hinblick auf digitale Lehre sind in der Vorbereitung sehr zeitaufwändig, erfordern genaue Kenntnisse im Hinblick auf die digitalen Tools und eine enorme Geduld bei der Betreuung der Studierenden. Ein Letztes noch dazu: Ohne die Finanzierung durch ein digitales Fellowship, das wir einwerben konnten, hätten wir unsere derzeitige IT-Infrastruktur nicht aufbauen können, weil die Haushaltsmittel dafür nicht ausgereicht hätten.
H-Soz-Kult: Lehrveranstaltungen zeichnen sich in den Geisteswissenschaften vor allem durch die Kommunikation aus. Wie können die kommunikativen Aspekte der Wissensvermittlung und Gruppendiskussion, die ein Seminar oder eine Übung auszeichnen, in den virtuellen Raum transferiert werden? Wie lassen sich intellektuelle Auseinandersetzungen virtuell produktiv führen? Haben Sie Empfehlungen zu didaktischen Methoden oder digitalen Werkzeugen?
Markus Bernhardt: In Ihrer Frage steckt die Annahme, dass das Diskursive allein bereits ein Qualitätsmerkmal von geisteswissenschaftlicher Lehre sein soll. Nur entspricht das ganz und gar nicht meinen Beobachtungen. Seminare und Übungen sind aus didaktischer Perspektive stattdessen oft sehr schlecht, zum Teil bizarr, die hochschuldidaktischen Überlegungen, die ihnen zugrunde liegen, mehr als schlicht. Reden allein genügt ja nicht, sondern es bedarf einer didaktischen Fragestellung. Studierende profitieren kaum von Lehrveranstaltungen, die darauf setzen, dass die/der Dozent/in einen Text oder eine Quelle „bespricht“, das heißt eine Art Unterrichtsgespräch führt, bei dem die Studierenden erahnen müssen, was die/der Dozent/in gerne hören möchte. Das ist doch kein Diskurs. Oder denken Sie an die unseligen Referatsgruppen, die mit einer an einem Wochenende erstellten Präsentation am Thema mehr oder weniger erfolgreich herumstümpern. Natürlich gibt es auch Kolleg/innen, die ganz hervorragende Lehre erteilen. Was ich damit sagen will: Der virtuelle Raum, das digitale Werkzeug allein macht aus didaktisch grenzwertigen Veranstaltungen noch keine gute Lehre. Für solche Lehrveranstaltungen hilft auch keine Übertragung in den digitalen Raum. Für diejenigen, die sich ernsthaft hochschuldidaktisch mit der Frage der Transformation von Lehre in den digitalen Raum befassen, gibt es eine ganze Reihe von Empfehlungen. Ich habe mit meinem Mitarbeiter Sven Neeb in dem gerade herausgekommenen Heft der Zeitschrift Geschichte lernen unter dem Titel „Geschichtsunterricht im Medienwandel“ ein Glossar erstellt, das geeignete Software und Apps vorstellt. Das dürfte auch für Hochschuldozent/innen interessant sein. Was Sie ansprechen, sind ja kollaborative Formate, in denen man sich gemeinsam mit einer Sache auseinandersetzt. Mit der Software „Freeplane“ (https://sourceforge.net/projects/freeplane) lassen sich etwa Mind Maps oder Concept Maps erstellen, also Inhalte systematisieren und visualisieren, die etwa die Grundlage eines Gesprächs bilden. Ein hervorragendes Tool zur Zusammenarbeit ist zum Beispiel Padlet (https://de.padlet.com.<) Damit lassen sich Pinnwände, Plakate, Chatverläufe, Karten oder Zeitleisten kollaborativ erstellen, womit Sie Diskussionen und Arbeitsergebnisse strukturieren können. Die Moodle-Applikation „TEXTLABOR (PDF-Annotationen)“ ist für die kooperative Annotation und Diskussion gescannter Texte geeignet, also zentral für die Lehre in historischen Seminaren einsetzbar. Moodle ist ja die Lernplattform, die bereits von vielen Universitäten genutzt wird. Für Video-Konferenzen kann man auf das Tool „Jitsi“ (https://meet.jit.si/) zurückgreifen, das auch in Moodle integrierbar ist. Besonders damit sind diskursive Phasen in Lehrveranstaltungen durchführbar, allerdings kaum mit mehr als 15 Teilnehmer/innen. Ohne jetzt zu ausführlich zu werden, es gibt für die meisten Lehrformate digitale Surrogate. Die entscheidende Anforderung an die-/denjenigen, die/der sie einsetzt, besteht darin, Software, Apps und digitale Tools didaktisch zu qualifizieren, also die Frage nach dem Lerneffekt durch ihren Einsatz zu stellen und zu beantworten.
H-Soz-Kult: Sie bereiten Studierende der Geschichtswissenschaften auf das Lehramt an Schulen vor. Auch die Schulen sehen sich derzeit gezwungen, den Unterricht in digitaler Form stattfinden zu lassen – mit sehr unterschiedlicher Expertise und ebenso unterschiedlichem Erfolg. Welche notwendigen Voraussetzungen würden Sie für ein adäquates E-Learning an den Schulen definieren und was können die Universitäten im Hinblick auf die Lehrerausbildung hierfür tun? Sehen Sie Probleme oder Defizite und wenn ja, auf welcher Ebene?
Markus Bernhardt: Die Schulen stehen vor der gleichen Herausforderung wie die Universitäten und treffen auf die gleichen Probleme. Aus einer empirischen Untersuchung, die in meiner Abteilung durchgeführt wurde, wissen wir, dass entgegen mancher Erwartung Lehrer/innen eher aufgeschlossen gegenüber dem digitalen Wandel sind. Sie beklagen aber zu Recht, dass die digitale Infrastruktur, etwa ein funktionierendes WLAN, häufig nicht vorhanden ist und dass es kaum Fortbildungen gibt. Dahinter steckt unter anderem das Problem, dass für den Aufbau und die Wartung der schulinternen IT häufig ein oder zwei Lehrer/innen ein bis zwei Stunden aus ihrem Deputat erhalten und diesen wichtigen Job mit vielen Stunden in der Woche darüber hinaus gleichsam nebenberuflich machen. An den Universitäten behilft man sich ja oft mit studentischen Hilfskräften. Gelegentlich werden IT-Stellen in Fakultäten auch zur Versorgung von gescheiterten Wissenschaftler/innen benutzt, ohne dass diese über einschlägige Expertise verfügen. Mit anderen Worten: Das A und O für ein adäquates E-Learning an Schulen ist das reibungslose Funktionieren der IT-Infrastruktur (ausreichende Netz-Kapazitäten, belastbare Zugangspunkte für WLAN, risikoarme Sicherheitsarchitektur, ausreichende Geräte und Software). Vor allem sollte man endlich anerkennen, dass für die Betreuung der IT Expertise notwendig ist, die Geld kostet. Wenn das gewährleistet wäre, bin ich mir sicher, dass sich noch viel mehr Lehrer/innen auf E-Learning-Formate einlassen würden. Denn hier bieten sich ja auch viele Chancen. Wir haben zum Beispiel etliche Studierende, die gerade in solchen Formaten intellektuell aufblühen. Die Universitäten können zu einer derartigen Lehrerausbildung beitragen, indem sie ihre Studierenden für digitale Lernumgebungen (geschichts-)didaktisch qualifizieren und für Lehrer/innen entsprechende Fortbildungen anbieten. Wir machen das seit einigen Semestern mit großem Erfolg. Um es aber nochmal zu betonen: Digitalisierung von Lehre und Unterricht bedeutet nicht lediglich die Ausstattung mit technischen Geräten und Software. Nur die didaktisch qualifizierte digitale Anwendung kann einen funktionalen Sinn in den jeweiligen Vermittlungs- und Rezeptionsprozessen generieren.
H-Soz-Kult: Gibt es Forderungen oder Vorschläge, die Sie der Kultusministerkonferenz unterbreiten möchten?
Markus Bernhardt: Die Kultusministerkonferenz hat mit ihren Empfehlungen „Bildung in der digitalen Welt“ von 2016 (https://www.kmk.org/fileadmin/Dateien/veroeffentlichungen_beschluesse/2018/Strategie_Bildung_in_der_digitalen_Welt_idF._vom_07.12.2017.pdf) schon die richtigen Konsequenzen gezogen, indem sie die Komplexität des Problems anerkannt und eine langfristige Strategie auf mehreren Handlungsfeldern empfohlen hat. Hervorgehoben wird die „Kompetenz der Lehrkräfte, die in der Lage sein müssen, digitale Lernumgebungen professionell und didaktisch sinnvoll in ihrem jeweiligen Fachunterricht zu nutzen.“ Für die curriculare Umsetzung dieser Forderung liegt ein Medienkompetenzrahmen vor, den beispielsweise das Land Nordrhein-Westfalen für die Unterrichtspraxis umgesetzt hat (https://medienkompetenzrahmen.nrw/). Für fünf dieser sechs Kompetenzbereiche ist das Fach Geschichte sehr gut aufgestellt, vor allem für den Bereich „Analysieren und Reflektieren“. Hier spielt etwa die geschichtswissenschaftlich seit jeher wichtige Frage der Unterscheidung von Fakten und Fiktionen eine zentrale Rolle. Probleme liegen meiner Ansicht nicht auf der Ebene der Kultusministerkonferenz vor, sondern bei der Übertragung der Empfehlungen durch die Länder in die konkrete Unterrichtspraxis. Die neuen Kernlehrpläne des Landes Nordrhein-Westfalen für die Fächer Geschichte und Gesellschaftslehre von 2019 bzw. von 2020 implementieren die Digitalisierung zwar als Querschnittsaufgabe, das heißt dieses Thema soll bei möglichst vielen Unterrichtsgegenständen gleichsam mitlaufen. Die konkreten Vorschläge dafür sind allerdings mehr als dürftig und nicht mehr als digitale Kosmetik. Ähnliches spiegelt sich in der Ausbildungsverordnung für Referendar/innen (Ordnung des Vorbereitungsdienstes und der Staatsprüfung für Lehrämter an Schulen i.d.F. v. 28.3.2020). Einer der vorgesehenen Unterrichtsbesuche soll sich „in besonderer Weise Fragen der Medienkompetenz und des lernfördernden Einsatzes von modernen Informations- und Kommunikationstechniken“ widmen (§ 11 Abs. 3). Das klingt gut, allerdings ist an keiner Stelle definiert, was darunter zu verstehen ist. Möglicherweise ist die Forderung bereits mit dem Einsatz eines Beamers erfüllt.
H-Soz-Kult: Welche Anregungen möchten Sie abschließend den Kolleginnen und Kollegen für die Planung und Durchführung digital gestützter Lehre, aber auch den Lehrerinnen und Lehrern für digitalen Unterricht mit auf den Weg geben?
Markus Bernhardt: Ich würde den Kolleginnen und Kollegen zunächst Gelassenheit empfehlen. Die aktuelle Erwartung kann ja nicht darin bestehen, was bis vor ein paar Wochen noch akzeptierte Veranstaltungsformate waren, innerhalb kürzester Zeit in eine digitale Form zu gießen. Sie sollten sich genau überlegen, bei welchen Veranstaltungen das ohne viel Aufwand möglich ist, zum Beispiel bei Vorlesungen, die man gut auch zu Hause produzieren kann, was zugegebenermaßen ein bisschen gewöhnungsbedürftig ist. Bei anderen Veranstaltungsformen wie Seminaren und Übungen ist das schon wesentlich schwieriger. Hier wäre meine Empfehlung, diese Veranstaltungen zunächst in Moodle oder eine andere Lernplattform einzupflegen. Dann könnten die angemeldeten Studierenden auf Vorbereitungstexte und Arbeitsmaterialien zurückgreifen, zu denen man jede Woche eine oder mehrere Aufgaben geben kann. Vermutlich gibt es aber auch Veranstaltungen wie praktische Kurse oder spezifische Quellenübungen, die sich nicht ohne Weiteres in den digitalen Raum übertragen zu lassen. In diesem Fall könnte man mit anderen Kolleg/innen zusammenarbeiten oder überlegen, die Veranstaltung zu verlegen. Auch sollte man nicht davor zurückschrecken, bereits durchgeführte Seminare in aktualisierter Form erneut anzubieten. Das hätte den Vorteil, dass man sich nicht vollständig in eine neue Thematik einarbeiten muss. Möglicherweise liegen in der gegenwärtigen Lage auch Chancen, die eigene Lehre durch die Umstellung sogar zu verbessern. Man sollte allerdings den Hochschulleitungen deutlich machen, dass dies alles nicht zum Nulltarif zu haben ist, sondern ganz erhebliche Ressourcen beansprucht.
H-Soz-Kult: Herr Bernhardt, wir danken Ihnen herzlich für das Gespräch!
Markus Bernhardt: Sehr gern!