Das neue Heft der Militärgeschichtlichen Zeitschrift ist erschienen, wir wünschen anregende Lektüre.
Einleitung
Felix Ackermann, Janine Fubel und Claudia Weber Der Zweite Weltkrieg als Evakuierungskrieg. Praktiken der Deportation, Räumung und Zerstörung im militärischen Rückzug S. 1
Aufsätze
Felix Ackermann Gewalt und die Verknappung von Herrschaft, Raum und Zeit. Die historischen Kontexte der Erschießung von Gefängnisinsassen nach dem deutschen Überfall auf die Republik Polen im September 1939 S. 28
Anhand der Polnischen Republik nach dem deutschen Überfall am 1. September 1939 zeigt der Text, dass die Evakuierungsplanungen zum Transport der wichtigsten Gefangenen noch auf die Erfahrungen des Zusammenbruchs staatlicher Herrschaft des Russischen Reichs am Beginn und Ende des Ersten Weltkriegs zurückgingen. Ein Teil der Aufseher der im Süden Polens unweit der deutsch-polnischen Grenze gelegenen Strafvollzugsanstalt Święty Krzyż eskortierte die ihnen unterstellten Gefangenen in Fußmärschen nach Osten. Währendessen ließ der Direktor der Anstalt mehrere Dutzend wegen Hochverrats zu lebenslänglichen Strafen verurteilter polnischer Staatsbürger noch auf dem Gelände des Gefängnisses hinrichten. Die meisten Opfer waren wahrscheinlich Teil eines von der Gestapo bereits vor dem September 1939 aufgebauten Spitzelnetzes in Polen. Das erklärt, warum dieser Gefangenenmord – anders als die als Todesmärsche beschriebene Evakuierung polnischer Staatsbürger deutscher Herkunft sowie die Gefangenenmorde des NKVD im Osten Polens – nicht von der deutschen Propaganda aufgegriffen wurde und damit bis heute weitgehend unbekannt ist. Statt Św. Krzyż in eine direkte Kontinuität mit den im Juni 1941 durchgeführten sowjetischen Massenmorden in polnischen Gefängnissen zu stellen, werden im Beitrag die Kontexte herausgearbeitet, in denen das Handeln des Direktors von Św. Krzyż zu erklären ist. Der Beitrag argumentiert, dass dafür seine früheren und vielfältigen Evakuierungserfahrungen während des Ersten Weltkriegs sowie das hohe Maß an Gewalt innerhalb des Gefängnisses wichtig waren.
Laura Eckl Sowjetische Evakuierung und deutscher Rückzug – Evakuierungserfahrungen der Charkiver Bevölkerung im Zweiten Weltkrieg S. 62
Die Stadt Charkiv war zu Beginn des Zweiten Weltkriegs ein wichtiger Ballungsraum der sowjetischen Rüstungs und Metallindustrie im Nordosten der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik. Nach dem Angriff der Wehrmacht auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 entwickelte sich die Stadt aufgrund ihrer kriegswichtigen Ressourcen zu einem intensiv umkämpften Standort, der in ständiger Frontnähe mehrmals evakuiert wurde. Dieser Beitrag untersucht zwei der insgesamt vier Evakuierungen bzw. Räumungen der Stadt – zum einen die sowjetische Evakuierungspolitik im Herbst 1941 vor Beginn der deutschen Besatzung und zum anderen die deutsche Räumung im Januar/Februar 1943 vor der kurzzeitigen Rückereroberung durch die Rote Armee. Im Mittelpunkt steht, wie die Charkiver Bevölkerung diese zwei Phasen erlebte, sie sich als Alltagserfahrungen aneignete und in Teilen in Beziehung zueinander setzte. Eine zentrale These des Beitrags ist, dass sich Evakuierungs und Rückzugspraktiken während des Zweiten Weltkriegs inhärent in (Vor )Kriegs und Besatzungspraktiken einfügten, sodass auch Evakuierungserfahrungen und Aneignungsprozesse der Bevölkerung untrennbar mit (Vor )Kriegs und Besatzungsalltag verknüpft waren.
Christian Stein Kontrollverlust und unumkehrbare Tatsachen. Die deutschen Rückzüge im Zweiten Weltkrieg S. 91
In diesem Beitrag werden die Rückzüge der Wehrmacht während des Deutsch-Sowjetischen Krieges untersucht. Ein besonderes Augenmerk liegt dabei auf dem Rückzug der Heeresgruppe Mitte im Sommer 1944. Hier kulminierten zwei Entwicklungen: Erstens war es für die Rückzugskonzepte hochrangiger deutscher Offiziere wesentlich, auch in der potenziell chaotischen Situation des Rückzugs die Kontrolle zu behalten. Sowohl die Zerstörung ländlicher und städtischer Infrastrukturen, die als »Politik der verbrannten Erde« bezeichnet wird, als auch die Evakuierung der sowjetischen Zivilbevölkerung wurden auch in dieser Situation als Mittel eingesetzt, um die Aufrechterhaltung von Kontrolle zu demonstrieren. Im Sommer 1944 war die Wehrmacht angesichts einer weit überlegenen und mobileren Roten Armee zumeist nicht mehr in der Lage, einen kontrollierten Rückzug durchzuführen. Zweitens begingen die deutschen Verbände in dem Wissen, dass sie während der eigentlichen Rückzüge oft nicht mehr in der Lage sein würden, systematische Zerstörungen, Evakuierungen usw. durchzuführen, bereits vorab – oft lange vor einer erwarteten sowjetischen Offensive – irreversible Handlungen. Die Summe dieser Kriegsverbrechen veränderte das Antlitz Osteuropas weit über das Ende des Zweiten Weltkriegs hinaus.
Johannes Spohr »Evakuierende« und »Evakuierte«. Die doppelte Rolle der ukrainischen Hilfspolizei im Kontext der Kriegswende 1943/44 S. 116
Die mobilen Formationen der ukrainischen Hilfspolizei, genannt Schutzmannschaften (kurz Schuma), wurden bereits 1941 nach dem Einmarsch deutscher Truppen in die Ukrainische SSR gebildet. Im Kontext der Kriegswende, die sich im in dieser Studie untersuchten, zivil verwalteten »Generalbezirk Shitomir« ab 1943 immer stärker wahrnehmbar machte, und des Rückzugs der Wehrmacht durch diese Gebiete änderten sich die Aufgaben, die den Schutzmannschaften seitens der Besatzer zugeordnet wurden. Vor allem nahmen Einsätze im Partisanenkampf stark zu, der häufig auch Terror gegen die Zivilbevölkerung beinhaltete. Gleichzeitig schlug sich der allgemeine Trend einer Re-Sowjetisierung bei den Angehörigen der Hilfspolizei nieder, etwa in Form von Meutereien. Sie wurden gleichsam zu Evakuierten wie auch zu Evakuierenden und nahmen teils widersprüchliche Rollen ein, um ihre Überlebenschancen zu erhöhen.
Martin Zückert Militärischer Rückzug und konkurrierende Gebietsräumungen. Akteure, Planungen und Praktiken der Evakuierung in der Slowakei 1944/45 S. 146
Während des Slowakischen Nationalaufstands begannen deutsche Stellen im Herbst 1944 mit der Evakuierung der Bevölkerung deutscher Nationalität aus der Slowakei. Dieser Vorgang stand im Zusammenhang mit der kriegsbedingten »Rückführung« deutscher Bevölkerungsgruppen aus Ost- und Südosteuropa. Teilweise parallel dazu versuchten slowakische Stellen, die Zivilbevölkerung, Behörden und weitere Einrichtungen vor der sich nähernden Front in Sicherheit zu bringen. Beide Evakuierungen fanden vor dem Hintergrund des Rückzugs der deutschen Wehrmacht statt, das Geschehen wurde in der Forschung jedoch bisher nicht in einem größeren Zusammenhang betrachtet. Der vorliegende Beitrag untersucht die Wechselwirkungen zwischen militärischem Rückzug und der Evakuierung der Zivilbevölkerung. Analysiert wird in diesem Zusammenhang auch, wie die nationalsozialistische »Volkstumspolitik«, aber auch die Praktiken der Verfolgung in dieser Phase weiterwirkten bzw. sich nochmals dynamisierten.
Janine Fubel Evakuierungs- und Kriegsschauplatz Mark Brandenburg. Das Aufeinandertreffen von Ostfront und »innerer« Front im Januar 1945 S. 174
Die Berlin ummantelnde Region Brandenburg stellte 1945 den wichtigsten Kriegsschauplatz zu Ende des Zweiten Weltkrieges in Europa dar. Ende Januar 1945 war es sowjetischen Einheiten gelungen, auf breiter Front in die Region und damit auch im Mittelabschnitt der Ostfront in das Gebiet des »Altreiches« einzudringen und bis an die Oder vorzurücken. Damit befanden sie sich keine 100 Kilometer mehr von der deutschen Reichshauptstadt entfernt. An einigen Stellen war es ihnen zudem gelungen, auf das Westufer des Flusses zu setzen und erste Brückenköpfe einzurichten. Im Rahmen des Beitrages werden die östlichen Kreise der Region als Kriegs und Evakuierungsschauplatz untersucht. Die deutschen Evakuierungsmaßnahmen waren hier einerseits dadurch gekennzeichnet, dass Verbote und zu spät angeordnete Räumungsbefehle für die Zivilbevölkerung ausgegeben wurden, während Gefangene westwärts verschleppt oder noch vor Ort ermordet wurden, als sich die gegnerische Front den dort befindlichen Haftstätten und NS-Zwangslagern näherte. Im Mittelpunkt des Beitrags steht die Untersuchung, welche Praktiken freigesetzt wurden, als die Kriegsfront auf die »innere« Front zu treffen drohte und sich tatsächlich räumlich mit ihr überlagerte. Zentrale These ist, dass sowohl im Hinblick auf den Einsatz seiner Akteure als auch auf das zum Einsatz kommende (Gewalt )Wissen der deutsche Vernichtungskrieg – als Holocaust »vor Ort« und Evakuierungskrieg gegen bestimmte Personengruppen geführt – 1945 in der Mark Brandenburg Fortsetzung gefunden hatte.
Forschungsberichte
Heiko Biehl und Sven Lange Agenda 2028: Ein Programm für die interdisziplinäre Forschung des ZMSBw S. 209
Ina Kraft Multinationalität im Militär S. 224
Nina Leonhard Veteranen und Zivilgesellschaft S. 237
Frank Reichherzer Militär und Gewalt erforschen! S. 249
Martin Hofbauer und Martin Rink Neue Kriege? Militär, Kriege und Konflikte seit 1990 – Die Bundeswehr in der doppelten Transformation S. 265
Buchbesprechungen
Allgemeines
Martin Moll Margaret MacMillan, Krieg. Wie Konflikte die Menschheit prägten S. 280
Frank Ganseuer Kölsch Militär. Vom Römerlager zum Amt für Heeresentwicklung. Im Auftrag des Amtschefs des Amtes für Heeresentwicklung hrsg. von Heinrich Walle und Dirk Sieg S. 283
Hiram Kümper Max Plassmann, Eine Stadt als Feldherr. Studien zur Kriegsführung Kölns (12.–18. Jahrhundert) S. 286
Martin Moll Gedächtnisort der Republik. Das Österreichische Heldendenkmal im Äußeren Burgtor der Wiener Hofburg. Geschichte – Kontroversen – Perspektiven. Hrsg. von Heidemarie Uhl, Richard Hufschmied und Dieter A. Binder S. 288
Martin Moll Arnd Bauerkämper, Sicherheit und Humanität im Ersten und Zweiten Weltkrieg. Der Umgang mit zivilen Feindstaatenangehörigen im Ausnahmezustand, Bd 1: Erster Weltkrieg; Bd 2: Zweiter Weltkrieg S. 291
Altertum und Mittelalter
Michael Epkenhans Michael Sommer, Schwarze Tage. Roms Kriege gegen Karthago S. 295
Hiram Kümper Konzepte und Funktionen der Gewalt im Mittelalter. Hrsg. von Claudia Garnier S. 297
Hiram Kümper Werner Meyer, Haferbrei und Hellebarde. Leben im Mittelalter zwischen Alltag und Krieg S. 298
Hiram Kümper Gerd Krumeich, Jeanne d’Arc. Seherin – Kriegerin – Heilige. Eine Biographie S. 300
Hiram Kümper Pierre Monnet, Karl IV. Der europäische Kaiser S. 302
Frühe Neuzeit
Michael Epkenhans Alan Mikhail, Gottes Schatten. Sultan Selim und die Geburt der modernen Welt S. 305
Martin Rink Simon Karstens, Gescheiterte Kolonien – Erträumte Imperien. Eine andere Geschichte der europäischen Expansion 1492–1615 S. 308
Max Plassmann Johannes Burkhardt, Der Krieg der Kriege. Eine neue Geschichte des Dreißigjährigen Krieges S. 312
Thomas Lindner Frank Göse, Friedrich Wilhelm I. Die vielen Gesichter des Soldatenkönigs S. 315
1789–1870
Ulrich van der Heyden Dietmar Kuegler, Die Welt in Flammen. Der Franzosen-und-Indianerkrieg 1754–1763 S. 320
Thomas Lindner Chelion Begass, Armer Adel in Preußen 1770–1830 S. 322
Martin Meier Florian Schönfuß, Mars im hohen Haus. Zum Verhältnis von Familienpolitik und Militärkarriere beim rheinischen Adel 1770–1830 S. 325
Andreas R. Hofmann Karen Hagemann, Umkämpftes Gedächtnis. Die Antinapoleonischen Kriege in der deutschen Erinnerung S. 329
1871–1918
Michael Epkenhans Peter Max Gutzwiller, Vizeadmiral Paul G. Hoffmann (1846–1917). Wirken in bewegter Zeit S. 333
Michael Epkenhans Christoph Jahr, Blut und Eisen. Wie Preußen Deutschland erzwang 1864–187 Christoph Nonn, 12 Tage und ein halbes Jahrhundert. Eine Geschichte des deutschen Kaiserreiches 1871–1918 S. 335
Lukas Grawe John Zimmermann, Tannenberg 1914. Der Erste Weltkrieg in Ostpreußen S. 341
Georg Wurzer German Prisoners of the Great War. Life in a Yorkshire Camp. Ed. By Anne Buckley S. 344
Axel Niestlé Reinhard Nachtigal, Ruses and Perfidy – Submarine Warfare and the Sinking of Hospital Ships During World War I S. 346
1919–1945
Bastian Matteo Scianna Oswald Überegger, Im Schatten des Krieges. Geschichte Tirols 1918–1920 S. 351
Winfried Heinemann Silvio Kobel, Henning v. Tresckow. Prägende Jahre, geistige Grundlagen, Ambivalenzen S. 353
John Zimmermann Aufrüstung, Krieg und Verbrechen. Die Wehrmacht und die Kaserne Bergen-Hohne. Begleitband zur Ausstellung. Hrsg. von Jens-Christian Wagner S. 355
Winfried Heinemann Regina Mentner, Das Kriegsgefangenenlager Dortmund Westfalenhalle (Stalag VI D), 1939–1945 S. 358
Stefan Sauer Ian Jeffrey, All at War: Photography by German soldiers 1939–45 S. 361
Christian Streit Jean Lopez et Lasha Otkhmezuri, Barbarossa. 1941. La guerre absolue S. 363
Stefan Sauer Anthony Tucker-Jones, The Battle for Warsaw, 1939–1945. Rare Photographs from Wartime Archives Auf beiden Seiten der Barrikade. Fotografie und Kriegsberichterstattung im Warschauer Aufstand 1944/Po obu stronach barykady. Fotografia i reportaż wojenny w powstaniu warszawskim 1944/On Both Sides of the Barricade. Photography and War Reporting in the Warsaw Uprising of 1944. Hrsg. von Peter Haslinger, Sabine Bamberger-Stemmann und Tatjana Tönsmeyer S. 371
Lars-Broder Keil Uwe Neumärker und Johannes Tuchel, Der 20. Juli 1944 im »Führerhauptquartier Wolfschanze« S. 374
Harald Potempa Walter Waiss, Kommando Bienenstock. Letzter Einsatz der Luftwaffe Mai 1945 S. 377
André Müllerschön Nico Biermanns, Landarzt und SS-Sturmbannführer. Der Kreuzauer Arzt Dr. med. August Bender. Eine kritische Biografie S. 379
Nach 1945
André Postert Jürgen Gückel, Heimkehr eines Auschwitz-Kommandanten. Wie Fritz Hartjenstein drei Todesurteile überlebte S. 382
Winfried Heinemann Henning Tümmers, Nach Verfolgung und Vernichtung. Das Dritte Reich und die Deutschen nach 1945 S. 384
Benedikt Neuwöhner Belgisch-deutsche Kontakträume in Rheinland und Westfalen 1945–1995. Hrsg. von Christoph Brüll, Christian Henrich-Franke, Claudia Hiepel und Guido Thiemeyer S. 386
Carsten Siegel Hans-Werner Ahrens, Die Transportflieger der Luftwaffe 1956 bis 1971. Konzeption – Aufbau – Einsatz S. 389
Andreas Eichner Hans-Günter Behrendt, Flugabwehr in Deutschland. Stationierungsorte und Systeme 1956–2012 S. 391
Alexander Zinn Klaus Storkmann, Tabu und Toleranz. Der Umgang mit Homosexualität in der Bundeswehr 1955 bis 2000. Hrsg. vom Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr S. 394
Reiner Pommerin Harald van Nes, Das Ringen um Berlin im Kalten Krieg. Die Geschichte von Live Oak S. 397
Rüdiger Wenzke Die DDR im Blick der Stasi 1983. Die geheimen Berichte an die SED-Führung. Hrsg. von Daniela Münkel im Auftrag der BStU S. 400
Michael F. Scholz Jan-Olof Grahn, Om underrättelsetjänstens vägval Michael Fredholm, Hemlig Stämplat. Svensk underrättelsetjänst från Erlander till Bildt S. 403
Martin Rink Malte Riemann, Der Krieg im 20. und 21. Jahrhundert. Entwicklungen und Strategien S. 408
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter S. 413