Editorial Transnationale Perspektiven stehen im Fokus der aktuellen Filmblatt-Ausgabe. Jan-Christopher Horak schildert den steilen beruflichen Abstieg des vor den Nationalsozialisten emigrierten Ufa-Regisseurs Alfred Zeisler bis an Hollywoods Poverty Row, wo er neben billigen Krimis einen Anti-Nazi-Film dreht. Zur gleichen Zeit arbeitet auch der französische Regisseur Julien Duvivier im Exil in Hollywood, allerdings innerhalb des Studiosystems. In Deutschland inspiriert sein international erfolgreicher Episodenfilm UN CARNET DE BAL (1937) die Drehbuchautorin Gerta Ital zur Vorlage von REISE IN DIE VERGANGENHEIT (1943), wie Friedemann Beyer in seinem Text ausführt. Auch ALARM IN PEKING (1937), ein Spielfilm über den Boxeraufstand im von westlichen Kolonialmächten drangsalierten China, basiert auf einer Vorlage, deren Autor aus dem „Dritten Reich“ fliehen musste. Neben zahlreichen chinesischen Komparsen spielt die heute vergessene deutsch-chinesische Schauspielerin Rosa Jung eine der Hauptrollen, wie Qinna Shen in ihrem Beitrag darlegt. In Nigeria entsteht 1965 mit TAIWO SHANGO die erste Koproduktion zwischen der Bundesrepublik und dem kurz zuvor unabhängig gewordenen afrikanischen Staat – ein Fernsehfilm mit fast vollständig nigerianischer Besetzung. Wolfgang Fuhrmann zeigt in seinem Text auf, wie der Film für ein verändertes Afrika-Bild und einen kritischen Umgang mit dem postkolonialen Erbe eintritt. Sorgte die Besetzung hier noch für Irritationen beim Publikum, so ändert sich das in den 1970er Jahren, als ostasiatische Eastern dutzendweise in westdeutschen Kinos laufen und chinesische Kampfkünstler und -künstlerinnen bewundert werden. Philipp Stiasny spürt diesem Erfolgsphänomen in seinem Beitrag nach.
Vor exakt 100 Jahren erschien der Text „Bildgedanke“ des Filmkritikers Willy Haas, in dem sich zentrale Aspekte der Theorien Sergej Eisensteins andeuten, wie Michael Wedel erläutert. Einige Jahre später sah und rezensierte Haas Eisensteins Filme und ließ sich in seiner Arbeit als Drehbuchautor von ihnen beeinflussen.
Eine traurige Nachricht erreichte die Redaktion Anfang des Jahres. Im Alter von 83 Jahren starb kurz vor dem Jahreswechsel der CineGraph Babelsberg freundschaftlich verbundene Filmhistoriker und Filmblatt-Autor Horst Claus, der bis zu seiner Pensionierung an der University of the West of England in Bristol unterrichtet hatte.
In eigener Sache: Ältere Ausgaben des Filmblatts sind nun online im Open- Access-Repositorium media/rep (https://mediarep.org/communities/18af05eb-227f-4984-ab3e-3c63f4f71ca0) nachlesbar.
Die Redaktion im Frühjahr 2024
1 Editorial
3 Michael Wedel: Bildgedanken. Willy Haas zwischen Hauptmann, Hofmannsthal und Eisenstein
21 Friedemann Beyer: Poetischer Realismus im Kriegsalltag. Hans H. Zerletts REISE IN DIE VERGANGENHEIT (1943)
33 Jan-Christopher Horak: Vom Babelsberger Tonkreuz zur Poverty Row Hollywoods. Alfred Zeislers Kriminalfilme im Exil
51 Wolfgang Fuhrmann: Seiner Zeit voraus. Das deutsch-nigerianische Filmexperiment TAIWO SHANGO ODER: DER ZWEITE TAG NACH DEM TOD (1965) von Klaus Stephan
67 Philipp Stiasny: Gelbe Tiger, schwarze Schwerter. Wie die Welle der Eastern in den 1970er Jahren die westdeutsche Kinolandschaft veränderte
83 Qinna Shen: Chinesische Patrioten und deutsch-britische Kameraden. Der Boxeraufstand in Herbert Selpins Abenteuerfilm ALARM IN PEKING (1937)
Fundstück 99 Christopher Blackmore: Ein deutscher Abenteuerfilm im japanisch-besetzten China. Was ostasiatische Quellen über die Rezeption von ALARM IN PEKING (1937) verraten
Review 103 Frederik Lang: 60 Jahre Deutsche Kinemathek. Ausstellung – Retrospektive – Ausblick
109 Maja Roth: Das andere Andere Kino? Überlegungen im Anschluss an die Berlinale Retrospektive 2024
Filmeditionen 115 ABSCHIED (D 1930, R: Robert Siodmak). DVD + Blu-ray Disc. Berlin: B-Spree Classics 2023 (Michael Wedel)
116 ALRAUNE (BRD 1952, R: Artur Maria Rabenalt). Blu-ray Disc. Haibach: Anolis Entertainment 2023 / DIE NACKTE UND DER SATAN (BRD 1959, R: Victor Trivas). Blu-ray Disc. Haibach: Anolis Entertainment 2022 (Philipp Stiasny)
119 HÄSCHEN IN DER GRUBE (BRD 1968, R: Roger Fritz). Blu-ray Disc + Ultra 4K Blu-ray Disc. Schwerte: Subkultur Entertainment 2023 (Tilman Schumacher)
Rezensionen 122 Daniel Kehlmann: Lichtspiel. Roman. Hamburg: Rowohlt Verlag 2023 (Ralph Eue)
124 Jaimey Fisher: German Ways of War. The Affective Geographies and Generic Transformations of German War Films. New Brunswick: Rutgers University Press 2022 (Hauke Lehmann)
126 Rada Bieberstein (Hg.): Beyond Prince Achmed. New Perspectives on Animation Pioneer Lotte Reiniger. Marburg: Schüren Verlag 2022 (Wendy Timmons)
128 William Gillespie: Hitler YOUTH QUEX. A Guide for the English-Speaking Reader. Potts Point: German Films Dot Net 2022 (Emily Allegra Dreyfus)
129 Lisa Schoß: Von verschiedenen Standpunkten. Die Darstellung jüdischer Erfahrungen im Film der DDR. Berlin: DEFA-Stiftung 2023 (Andreas Kötzing)
131 Alejandro Bachmann, Michelle Koch (Hg.): Österreich real. Dokumentarfilm 1981–2021. Wien: Verlag Filmarchiv Austria 2022 (Kay Hoffmann)
133 Corina Erk, Matteo Galli, Jörn Glasenapp (Hg.): Lola, Toni, Yella und die anderen. Der deutsche Film nach 1990. Ein Kanon. Paderborn: Brill Fink 2023 (Philipp Stiasny)
135 Florian Pauer, Thomas Jelinek: Die Wiener Kinos. Dokumentation 1896–2022. Bd. 3: Kinos der Bezirke X–XV und Bd. 4: Kinos der Bezirke XVI–XXIII. Wien: Verlag Filmarchiv Austria 2023 (Philipp Stiasny)
138 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter dieser Ausgabe
141 Impressum