Leipzig – vor 1933 nicht nur Messestadt, sondern auch Zentrum des freien deutschen Buchhandels, des Verlagswesens und der Zeitungskunde – verfügte über zahlreiche Industriebetriebe, die während des Zweiten Weltkrieges – wie überall im Reichsgebiet – zahlreiche Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter in der Rüstungsproduktion einsetzten. Eine herausragende Rolle nahm jedoch die Hugo Schneider AG (HASAG) in Leipzig ein. Sie ging aus einer Lampenfabrik hervor und entwickelte sich während des Zweiten Weltkriegs zum „größten Rüstungsproduzenten Mitteldeutschlands“ (S. 9). Dennoch wurde die Geschichte der HASAG lange sowohl von der historischen Forschung als auch in der deutschen Erinnerungskultur nicht aufgearbeitet.
Schon deshalb ist es sehr verdienstvoll, dass sich die Autorinnen und Autoren des von Anne Friebel und Josephine Ulbricht herausgegebenen Sammelbandes mit facettenreichen Beiträgen der Geschichte der NS-Zwangsarbeit für dieses unbekannte Großunternehmen angenommen haben. Die Herausgeberinnen sind Mitarbeiterinnen der Gedenkstätte für Zwangsarbeit Leipzig, in deren Schriftenreihe der Band als Auftakt erscheint. Insofern ist die Publikation auch als eine Zwischenbilanz der bisherigen langjährigen, vielfach außeruniversitär erbrachten Forschung zu verstehen. Ein besonderes Anliegen der Publikation ist es, die Geschichte der NS-Zwangsarbeit bei der HASAG bekannter zu machen und zu weiteren Forschungen anzuregen.
Der Sammelband enthält 17 Beiträge, die von den Herausgeberinnen inhaltlich in zwei vom Seitenumfang her etwa gleichgewichtete Teile aufgeteilt wurden. Während sich die Beiträge des ersten Teils unter anderem mit der NS-Zwangsarbeit für die HASAG im besetzten Polen und in Leipzig befassen, geht es im zweiten Teil – im Hinblick auf Täter- und Opferperspektiven etwas arg gemischt – um Biographien einzelner spanischer und jüdischer weiblicher KZ-Häftlinge sowie um italienische und niederländische Militärinternierte beziehungsweise zivile Zwangsarbeiter. Diese Beiträge wurden von Anne Friebel, Anja Kruse, Milan Spindler, Stef Beumkes und Jan Lormis verfasst. Weitere Beiträge von Anja Kruse, Annkathrin Richter und Fania Stehmann, Josephine Ulbricht, Martin Clemens Winter, Nora Blumberg, Finja Schäfer, Isabella Beck und Lilith Günther sowie Pia Marzell befassen sich mit Lebensläufen von Aufseherinnen des KZ-Außenlagers „HASAG Leipzig“ vor und nach 1945, mit Siedlungshäusern für deutsche HASAG-Beschäftigte in Leipzig, mit Zwangsarbeit und Luftangriffen, mit der Repatriierung nach der Befreiung, mit geschlechtsspezifischen Aspekten in einem Nachkriegsprozess gegen HASAG-Angehörige und mit der politischen Geschichte eines Gedenksteins in der DDR-Zeit. Abgerundet werden die Beiträge des zweiten Teils durch eine Chronologie zur Gedenkstätte für Zwangsarbeit in Leipzig.
Josephine Ulbricht stellt in der Einführung des Bandes die Besonderheit der HASAG heraus, die ihre Fertigung seit 1934 auf die Herstellung von Munition ausrichtete und auch mit neuen Werken außerhalb Leipzigs expandierte. Rüstungsproduktion sollte langfristig zum neuen Unternehmenszweck werden. Die HASAG gehörte zu den ersten Unternehmen mit Produktionsstätten im besetzten Polen. Ab 1943 avancierte sie zum Hauptlieferanten für Panzerfäuste. Maßgeblich verantwortlich für diese Entwicklungen war Generaldirektor Paul Budin. Er scheint sogar bereit gewesen zu sein, die HASAG als parteinahe Stiftung den neuen Machthabern faktisch zu übergeben. Es verwundert kaum, dass die HASAG die Rüstungsproduktion während des Krieges zu einem sehr großen Teil auf Zwangsarbeit stützte: Fast zwei Drittel – 40.000 von 64.000 Beschäftigten – waren zivile Zwangsarbeitende, Kriegsgefangene und KZ-Häftlinge. 1944 arbeiteten in den HASAG-Werken mehr als 14.000 männliche und weibliche KZ-Häftlinge, die in sieben Außenlagern des KZ Buchenwald untergebracht waren. Das größte Außenlager befand sich am Stammwerk in Leipzig.
Im ersten Teil befasst sich zunächst Martin Clemens Winter, der seit 2021 an der Universität Leipzig zu „Unternehmenskultur, Zwangsarbeit und Judenmord beim Leipziger Rüstungskonzern HASAG“ forscht, mit der Geschichte von Zwangsarbeit von Jüdinnen und Juden für die HASAG im besetzten Polen. Sie sollen nicht nur die ersten jüdischen Zwangsarbeitenden für ein Privatunternehmen im „Generalgouvernement“, sondern, wie es die Gliederung nahelegt, offenbar auch die ersten Zwangsarbeitenden im HASAG-Konzern gewesen sein. Winter hebt unter anderem die Bedeutung des Transfers von Deutschen und Zwangsarbeitenden zwischen den HASAG-Werken im Reichsgebiet und Polen hervor.
Anne Friebel geht dann auf die Zwangsarbeit im HASAG-Stammwerk Leipzig-Schönfeld ein, die 1941 mit dem Einsatz von polnischen Arbeitskräften begann. Friebel beleuchtet auch Arbeits- und Lebensbedingungen der Zwangsarbeitenden. Mit den allein dort eingesetzten etwa 10.000 zivilen Zwangsarbeitenden, Kriegsgefangenen und KZ-Häftlingen war die HASAG, so Friebel, „die größte Arbeitgeberin von ausländischen Zwangsarbeiter:innen im Raum Leipzig“ (S. 47). Im Jahr 1942 arbeiteten Zwangsarbeitende aus zwölf Nationen im Leipziger Werk. Im Sommer 1944 erhöhte sich ihre Zahl schlagartig um mehr als das Doppelte, als allein in Leipzig über 5.000 weibliche KZ-Häftlinge eingesetzt wurden. Darunter befanden sich 1.200 Jüdinnen, die zuvor im besetzten Polen für die HASAG gearbeitet hatten.
Anja Kruse und Josephine Ulbricht beschäftigen sich mit dem Einsatz weiblicher KZ-Häftlinge. Sie untersuchen die Entstehungsgeschichte und Struktur des Außenlagers, die Wachmannschaften sowie den „Alltag“ der Häftlinge im Außenlager und in der Fabrik. Den besonders umfangreichen Einsatz von KZ-Häftlingen bei der HASAG führen die Autorinnen auf deren „herausragende Stellung innerhalb der Rüstungsindustrie“ (S. 101) zurück.
Abschließend beleuchtet noch einmal Martin Clemens Winter die juristische Ahndung nach 1945. Er geht auf zwei zwischen 1947 und 1951 in Leipzig geführte HASAG-Prozesse sowie drei Verfahren in der Bundesrepublik ein. Im Mittelpunkt aller Verfahren standen HASAG-Werke in Polen, wo ebenfalls Ermittlungen gegen Angehörige des Leipziger Konzerns durchgeführt wurden. Der Werksstandort Leipzig selbst blieb in den Prozessen eine Leerstelle.
Die ebenso interessanten Beiträge des zweiten Teils können hier aus Platzgründen leider nicht alle besprochen werden. Unter den biographischen Darstellungen befasst sich Anja Friebel mit der Spanierin Mercedes Núñez Targa, deren Memoiren in deutscher Übersetzung erschienen sind.1 Die kommunistische Widerstandskämpferin kam 1944 als politischer Häftling aus dem Konzentrationslager Ravensbrück nach Leipzig. In dem Leipziger Außenlager befanden sich auch jüdische Häftlinge, die, wie Anja Kruse und Anne Friebel zeigen, bereits im besetzten Polen für die HASAG Zwangsarbeit leisten mussten. Finja Schäfer untersucht die Urteilsschrift des medial vergleichsweise gut dokumentierten Leipziger „Kammiena-Prozesses“2, der 1948 vor dem Landgericht Leipzig gegen 25 ehemals im besetzten Polen tätige HASAG-Mitarbeitende geführt wurde. Sie untersucht einen Abschnitt über die einzige weibliche Angeklagte und weist darauf hin, dass diese im Gegensatz zu den männlichen Angeklagten auch mit sexualisierten und „geschlechtsspezifischen Annahmen über Weiblichkeit“ (S. 212) beurteilt worden sei.
Der Band macht deutlich, wie vielversprechend und erforderlich weitere Forschungen zur HASAG sind. Er zeigt einmal mehr, wie lohnend es für die Wissenschaft und die Erinnerungskultur sein kann, sich jenseits von Themenkonjunkturen mit der Geschichte der NS-Zwangsarbeit in den Regionen zu befassen, da diese im Kriegsverlauf vermehrt in den Fokus der Rüstungsproduktion gerieten.
Anmerkungen:
1 Mercedes Núñez Targa, Der Wert der Erinnerung. Aus dem Spanischen von Carsten Hinz. Herausgegeben von der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten (ÜberLebenszeugnisse 12), Berlin 2022.
2 Vgl. Martin Clemens Winter, Der Leipziger „Kamienna-Prozess“ im westdeutschen Rundfunk, in: Das HASAG Puzzle. Forschungsblog zu nationalsozialistischer Unternehmenskultur, Zwangsarbeit und Judenmord, 04.05.2021, https://hasagpuzzle.hypotheses.org/64 (09.08.2024).