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Titel
Vererbte Regionen. Aneignungen und Nutzungen von regionalem Heritage im Wendland und in der Lausitz im Vergleich


Autor(en)
Hagemann, Jenny
Reihe
Edition Kulturwissenschaft
Anzahl Seiten
356 S.
Preis
€ 47,00
Rezensiert für den Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie / Kulturanthropologie / Volkskunde" bei H-Soz-Kult von:
Thomas Schürmann, Kulturanthropologisches Institut Oldenburger Münsterland

Die Lausitz und das (Hannoversche) Wendland haben vieles gemeinsam. Auf dem Gebiet des heutigen Deutschlands sind sie die Regionen, in denen sich die slawische Sprache am längsten gehalten hat: Das Drawehnopolabische im Wendland starb um die Mitte des 18. Jahrhunderts aus; das Ober- und Niedersorbische wird in der Lausitz bis heute gesprochen. In beiden Landschaften ist das (historische und gegenwärtige) slawische Element Teil des heutigen regionalen Selbstverständnisses. Beide Landschaften wurden mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges zu Grenzregionen: das Wendland bis 1990 durch seine Lage an der innerdeutschen Grenze, die Lausitz mit ihrer Teilung durch die Oder-Neiße-Grenze. Hier konzentriert sich die Studie notgedrungen auf die westliche, bundesdeutsche Seite; der heute polnische Teil der Lausitz stößt sowohl in Polen als auch in der Bundesrepublik Deutschland auf geringes Interesse (vgl. S. 42). Beide Landschaften sind in jüngster Zeit von energiepolitischen Auseinandersetzungen geprägt: das Wendland seit Ende der 1970er-Jahre von den Protesten gegen das Endlager für Atommüll, die Lausitz seit den 1990er-Jahren von den zunehmenden Protesten gegen die Vernichtung zahlreicher Orte für den Braunkohlentagebau.

Unterschiedlich waren die von Jenny Hagemann in der Diskursanalyse, die den Großteil des Buches ausmacht, beschriebenen Energie-Debatten in Wendland und Lausitz. Während im Wendland die Atomindustrie vor allem als Bedrohung wahrgenommen wurde, bildete die Braunkohlengewinnung in der Lausitz einen über Jahrhunderte gewachsenen, wenngleich von unterschiedlichen Interessen geprägten Wirtschaftsfaktor, der zwar zahlreiche Arbeitsplätze schuf, dafür aber große Teile der Landschaft zerstörte (S. 170f.).

Im Wendland hatte, wie die Verfasserin herausstellt, die Anti-Atomkraft-Bewegung, die im Kampf gegen den atomaren Endlagerstandort Gorleben 1980 die „Freie Republik Wendland“ ausgerufen hatte, einen großen Anteil an der veränderten Selbst- und Fremdwahrnehmung der Region und an der Aufwertung des „Wendischen“ (S. 140–155, S. 161, S. 166 u.ö.). Da das Wendische als sprachlich-ethnische Kategorie im Hannoverschen Wendland bereits längst historisch geworden war, als die Proteste einsetzten, konnte der Begriff des Wendischen mit deutlich größerer Freiheit genutzt werden als etwa der Begriff des Sorbischen in der Lausitz. „Wendisch“ stand nun für Widerständigkeit und Sturheit. Und weil sie mit lokaler Gemeinschaft und demokratischen Werten in Verbindung gebracht wurden, erfuhren sogar die Rundlingsdörfer im Gefolge der Anti-Atom-Bewegung eine Aufwertung (S. 237). Durch die Verwandlung in Heritage gerieten allerdings das Gorleben Archiv, das in ehrenamtlicher Initiative die Auseinandersetzungen um den Atomstandort Gorleben dokumentiert, und andere Beteiligte angesichts der noch nicht gelösten Endlager-Frage in einen Zwiespalt zwischen der tagesaktuellen Relevanz und der Historisierung des regionalen Erbes (S. 185).

Eine weitere Gemeinsamkeit beider Landschaften bildet das Bemühen um die Anerkennung als UNESCO-Welterbe. In der Lausitz gibt es bereits fünf Welterbestätten: das Biosphärenreservat Spreewald (1991), das Biosphärenreservat Oberlausitzer Heide und Teichlandschaft (1996), die Welterbestätte Muskauer Park (2004), den Global Geopark Muskauer Faltenbogen (2011) und als Immaterielles Kulturerbe die Gesellschaftlichen Bräuche und Feste der Lausitzer Sorben/Wenden im Jahreslauf (2014); möglicherweise kommt in den nächsten Jahren eine weitere Welterbestätte hinzu: Ein Tentativantrag auf den Welterbestatus der Lausitzer Tagebaufolgelandschaft wurde 2021 gestellt. Im Hannoverschen Wendland gibt es seit Längerem (vergebliche) Anstrengungen, die landestypischen Rundlingsdörfer als Weltkulturerbe eintragen zu lassen.

Das Bemühen um die Anerkennung als Welterbe bildet denn auch den Ausgangspunkt der vorliegenden Studie. Der Schlüsselbegriff für die Untersuchung ist das regionale Heritage. Heritage versteht Jenny Hagemann in Anlehnung an Markus Tauschek als sozialen Prozess der Inwertsetzung kulturellen Erbes1; der Ansatz des Buches ist, „den Prozess des Hervorbringens kulturellen Erbes und seiner Verräumlichung zu verstehen“ (S. 24).

Um weiteren Aufschluss über regionale Heritage-Prozesse zu gewinnen, führte Jenny Hagemann jeweils acht narrative Interviews in der Lausitz und im Wendland mit insgesamt 23 Personen (S. 53f.). Die Befragten sind beruflich und ehrenamtlich in Museen, Kulturvereinen, in Regionalarchiven, in Forschung und Trachtenpflege mit kulturellem Erbe befasst. Zu den mit dem Kulturerbe beschäftigten Personen kann die Verfasserin sich letztlich auch selbst rechnen, weil sie im Sorbischen Institut in Cottbus arbeitet und auch am Tentativantrag für die Anerkennung der Tagebaufolgelandschaften beteiligt war (S. 41, Anm. 127). Dies ist indes kein Mangel, zumal sie ihre eigene Stellung im Forschungsfeld offenlegt und reflektiert (S. 46–48).

Etwas aufwendig mutet die Erschließung der Interviews an: Die Gespräche wurden zunächst nicht vollständig transkribiert, sondern nach Kategorien und für die Fragestellung relevanten Analyseeinheiten gegliedert (S. 55–60). Hierdurch gewann die Verfasserin 3.566 Einzelaussagen (1.999 im Wendland und 1.567 in der Lausitz) zu den verschiedenen Kategorien (S. 62, Anm. 2). Dies erlaubt der Verfasserin einen in begrenztem Maße ergänzenden quantifizierenden Ansatz. So konnte sie zum Beispiel in Bezug auf die slawische Vergangenheit der Regionen 510 Aussagen der Subkategorie „Das Sorbische“ in der Lausitz und 475 der Subkategorie „Das Wendische“ im Wendland zuordnen (S. 265, Anm. 39). Deutlich geringer ist die Zahl von 22 der insgesamt 3.566 Aussagen, in denen die DDR bzw. die deutsche Teilung mit dem Heritage in Beziehung gesetzt wurde (S. 218). Überhaupt scheint, wie Jenny Hagemann feststellt, das Konzept der Grenzregionen ebenso wie die heutige deutsch-polnische Staatsgrenze für die Befragten keine große Rolle im Zusammenhang mit dem Heritage zu spielen (S. 220f., S. 277–280). Und anders als der Blick von außen vermuten lassen könnte, benennen die wendländischen Befragten mit einer Ausnahme den Gorleben-Protest nicht als Cultural Heritage (S. 274); auch der Braunkohletagebau in der Lausitz wird von den dort Befragten nicht als Heritage benannt (S. 275f.).

In der Lausitz wie im Wendland beobachtet Jenny Hagemann bei den Befragten alle drei Umgangsweisen mit dem Heritage. Die Verwendung des Heritage verleiht sowohl Deutungsmacht als auch Zugehörigkeit. Wichtig ist es der Verfasserin, zwischen Kulturerbe und Heritage zu unterscheiden (S. 280–293). Das Making of Heritage, als dessen Ergebnis das Kulturerbe erscheint, hat das größte normative Potential (S. 291). Heritage wird, so könnte man es übersetzen, praktiziert (Doing), für andere dargestellt (Performing) und gesetzt (Making).

Zu den von Jenny Hagemann benannten Befunden der Studie gehört, dass sich „aktuelle Vererbungen“ des Sorbischen und des Wendischen nur bedingt unterscheiden. Gemeinsamkeiten im Umgang mit der slawischen Vergangenheit macht die Verfasserin in der Musealisierung und Vorführung als Tracht oder Brauch aus (S. 296). Das Sorbische, das gleichsam eine ethnische Zuschreibung bildet, sei allerdings nicht völlig heritagisiert (S. 297).

Unterschiedlich zwischen dem Sorbischen und dem Wendischen ist das Maß, in dem es beim Ringen um das Heritage auch um materielle Ressourcen geht. Anders als im Wendland wird das Cultural Heritage in der Lausitz im professionellen Regionalmarketing für den Fremdenverkehr eingesetzt (vgl. S. 187). Bedeutsam für das Sorbische ist dabei auch, dass die „kulturökonomischen Inwertsetzungen“ nicht nur stärker institutionalisiert, sondern dadurch auch von öffentlicher Finanzierung abhängig und damit auch auf die Anerkennung als Kulturerbe angewiesen sind (S. 297).

Und hier begegnen sich auch die öffentlichen Diskurse und die Aussagen derer, die sich in der Region mit dem kulturellen Heritage beschäftigen. „Weil gerade im Heritage-Bereich finanzielle Förderung oftmals durch die EU geleistet wird, nähern sich zudem offizielle, europäische Heritage-Narrative und regional vorgefundene Narrationen an – insbesondere, was die Inwertsetzung der Diversität und Einzigartigkeit der Räume als Regionen betrifft“ (S. 250). Als ein Hinweis, wie wichtig das anerkannte kulturelle und Naturerbe für die Lausitz und für die Wirtschaft der Region ist, kann schon die große Zahl der Welterbestätten angesehen werden.

Wenngleich die Interviews für manchen nicht mit sehr großen Überraschungen aufwarten werden, gehört es doch zu den großen Verdiensten der Studie, dass sie nicht nur die Prozesse der Inwertsetzung der Kultur im Wendland und in der Lausitz als regionales Erbe aufzeigt, sondern darüber hinaus jenseits der analysierten öffentlichen Diskurse gleichsam Blicke in die Innenperspektive derer ermöglicht, die mit Kulturerbe und Heritage befasst sind.

Anmerkung:
1 Markus Tauschek, Kulturerbe. Eine Einführung, Berlin 2013, hier S. 14.

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Diese Rezension entstand in Kooperation mit dem Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie/Kulturanthropologie/Volkskunde" http://www.euroethno.hu-berlin.de/forschung/publikationen/rezensionen/
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