Googelt man im globalen Bilderkanon den Begriff „Klimawandel“ oder „Klimakrise“, ist es nicht weit bis zu einem der prominentesten Signets der aktuellen ökologischen Katastrophe: Ein (abgemagerter) Eisbär steht isoliert und verloren auf einer kleinen Eisscholle. Der Referenzraum Arktis klappt wie selbstverständlich vor dem inneren Auge auf. Wir sehen nicht einfach ein Raubtier in seinem Habitat. Sondern wir sehen in und hinter ihm eine dysfunktionale Polarwelt, die ihre vermeintliche Ewigkeit verliert. Das Tier ist ruiniert. Da, wo endlose Schneefelder und Meereis, also tendenziell menschenleere Wildnis vorherrschen sollte, haben die Gesellschaften der Moderne mit ihrem CO2-Ausstoß die arktische Eiseskälte aufgetaut und liefern die großen Bären einem düsteren Schicksal aus. So omnipräsent ist dieses Motiv geworden, dass sich die britische Tageszeitung „The Guardian“ 2019 gar selbst verordnete, es nicht mehr unkommentiert als selbsterklärendes Bild des Klimawandels zu verwenden, weil es Diskussionen verkürze und Klischees verstärke.1 Es erzählt eben nichts von den Konsequenzen für die dort ansässigen Menschen, nichts von den Hintergründen des Wandels, nicht einmal von der konkreten Situation der Eisbären, die so viel komplexer ist als das, was das Bild vermitteln könnte.
Genau um die Komplexität der Lage, der Situation und der Bilder des Nordens und seiner Landschaften im Anthropozän geht es in dem vorliegenden Band – und auch darum, die Stereotype seiner visuellen Repräsentation zu hinterfragen und Diskurse deutlich zu erweitern. Das interdisziplinäre Herausgeberteam hat dem Sammelband einen wortreichen Titel gegeben: Mit den „gestörten Ökologien“ sollen nicht weniger als die ausufernden Themen Photographie, Geopolitik und die Landschaft des Nordens in der Ära der Umweltkrise miteinander in Beziehung gesetzt werden. Hier treffen also Politik-, Raum- und Bildpraxis in einer „geopolitic of visual cultures“ (S. 9) aufeinander. Die, so betonen Darcy White, Julia Peck und Chris Goldie in der Einleitung, verfestigen bestimmte Vorstellungen von Weltordnungen und können sie zugleich konterkarieren, hinterfragen und neue Perspektiven schaffen. Die Repräsentation von Umwelten und ihren Zerstörungen, die Bilder von Landschaften sind immer mit Deutungsmacht verbunden. Und sie haben stets auch Leerstellen, das Nichtphotographierte und Unsichtbare mit im Schlepptau. Wer photographiert also welchen Norden mit welchem Ziel? Und welche alternativen Bilderwelten sind nötig und möglich?
In zwölf Beiträgen aus den Feldern der Kunst-, Medien- und Literaturwissenschaften, Anthropologie, Geographie, der kreativen Informatik und vor allem der photographischen Praxis setzt sich im Verlauf der Lektüre eine ziemlich dynamische Bilderwelt zusammen. Hier beginnen die Environmental Humanities, also die transdisziplinär arbeitenden umweltbezogenen Geistes- und Sozialwissenschaften, zu zeigen, wie sie interagieren können, um einer visuellen Kultur des Raumes auf die Spur zu kommen. Mit einem breiten Set an Instrumentarien beginnen sie, Vorstellungswelten des vagen Nordens zu historisieren und zu sezieren. Aber sie reichen weit über einen historischen Zugriff – also die traditionellen Bilderwelten – hinaus und interessieren sich ausdrücklich für das visuelle Handeln im Hier und Jetzt. Wird Photographie genutzt, um Hegemonien zu untermauern, oder kann sie emanzipatorische Kräfte entwickeln?
Einige der Beträge widmen sich der künstlerischen und dokumentarischen Praxis von Kunstschaffenden. Liz Well beispielsweise beschäftigt sich mit photographischen Repräsentationen des Nordens, in der sich im Laufe von über hundert Jahren die Ansprüche und spezifischen Interessen externer Kräfte spiegeln. Sie verweist vor allem auf die Betrachtungsweisen des Tourismus, der militärisch-strategischen Interessen, des Ressourcenabbaus, ob Erz, Kohle oder Öl. Auch die Visualisierung des Klimawandels nutzt den Norden als Folie. Wells legt dabei mit Rückgriff auf ein breites Set an visuellen Quellen offen, wie viel historisches Verständnis eine kritische Photographie benötigt, die den Anspruch hat, bisherige Stereotypen zu überwinden. Sie zitiert dafür beispielweise die Werke des finnischen Photographen Jorma Puranen, der mit Assemblagen Vergangenheit und Gegenwart auch visuell verbindet. Der Bildwissenschaftler Tyrone Martinsson bezieht sich ebenfalls auf die Geschichte und verschneidet mit Hilfe von digitaler Technik vergangene und aktuelle Ansichten miteinander. Diesem Prozess geht eine intensive archivalische Recherche voraus – Photographie entsteht nicht nur im Labor, sie selbst entwickelt sich in diesem Prozess weiter.
Ein weiterer äußerst erhellender Beitrag im Sammelband stammt von den beiden Medienwissenschaftlern Jonas Harvard und Mats Hyvönen, die sich kenntnisreich mit neuen technischen Möglichkeiten und Repräsentationen auseinandersetzen. Dafür beleuchten sie die sich dank des Einsatzes von Satelliten- und Drohnentechnik fast schon normalisierende Perspektive „von oben“. Sie ist in den Werken von prominenten Photographen wie Edward Burtynsky zu einem Stilmittel jüngerer Umweltphotographie geworden, die das Ornamentale und die verstörende Ästhetik von brutalen Zerstörungsprozessen in die Öffentlichkeit trägt. Das besonders Spannende an den Betrachtungen von Harvard und Hyvönen ist aber in diesem Fall, dass sie zum einen die Ambivalenz dieser Vogelperspektive freilegen. Sie verschafft einen Überblick und verfremdet die Natur zugleich – die Betrachtenden entfernen sich vom Objekt. Zum anderen befragten die beiden Autoren praktizierende Photographen danach, welche Rolle die Photographie im Kontext des Klimawandels habe, wie der Norden visuell konzeptioniert werde und welchen Beitrag die Luftaufnahmen besäßen. In den Antworten spiegelt sich das Bewusstsein wider, dass kaum mehr ein Anspruch auf eine Vermittlung eindeutiger Wahrheiten erhoben wird. Die Bildschaffenden müssen sich zunehmend damit auseinandersetzen, dass ihre Aufnahmen in einer endlosen Flut von Bildern überhaupt wahrgenommen werden und dass sie sich entscheiden müssen, wie sie ihren Anspruch, auf die Notwendigkeit des menschlichen Handels in Zeiten des Klimawandels zu verweisen, vermitteln, ohne Effekthascherei zu betreiben.
Ein Thema, das im Sammelband wiederholt auftaucht, ist das koloniale und übergriffige Moment der Photographie2, die den Norden als Objekt der wissenschaftlichen Erkundung, als Ort der Härte, der Einsamkeit und des Heroismus fasste. Wie kann dieser externe Zugriff überwunden werden? Gibt es überhaupt einen gleichberechtigten Standpunkt? Besonders kritisch setzt sich beispielweise Julia Peck mit der eigenen Position der externen Betrachterin von jüngerem visuellem Material auseinander, das die indigene Inselgemeinde Shishmaref im äußersten Westen von Alaska porträtiert. Die ansässigen Menschen sind so stark von durch den Klimawandel bedingten Erosionen und Überflutungen betroffen, dass sie sich für eine Umsiedlung des Ortes ans Festland entschlossen haben. Pecks Betrachtungen ringen mit elementaren Fragen der Positionen im Prozess der Visualisierung. Wie wird diese Geschichte erzählt, ist das Dorf nur ein Stellvertreter für ein globales Phänomen? Wie interpretieren die Kunstschaffenden die Welt der dort Ansässigen, wie und wem vermitteln sie sie nach außen? Und vor allem: Wer sind dabei wir selbst, die Betrachtenden von Betroffenen?
Bisweilen mögen gerade die Beiträge, die sich mit den Werken Dritter beschäftigen, etwas zäh zu lesen sein, weil diese Werke zwar wortreich beschrieben, aber zum Teil leider von zu kleinen Abbildungen begleitet werden, sodass man ihre ästhetische Wirkung und konzeptionellen Inhalte allenfalls erahnen kann. Das gilt übrigens auch für das Titelbild, das auf den ersten Blick wie eine schlecht reproduzierte Zeichnung wirkt, aber ein komplexes Werk des bereits erwähnten Photographen Jorma Puranen zeigt, der sich seit Jahrzehnten mit Repräsentationskulturen des Nordens beschäftigt. Vor allem aber versammelt das Buch fundierte und zur Reflexion anstiftende Beiträge zur aktuellen Debatte der Umweltphotographie und ihrer historischen Dimension. Es konzentriert sich zwar auf den Norden, aber ermöglicht durchaus in einigen Fällen eine lokal-planetare Perspektive – und trägt ohne Zweifel dazu bei, die visuellen Stereotype, die sich im eingangs beschriebenen Eisbärmotiv ballen, aufzubrechen.
Anmerkungen:
1 Fiona Shields, Why we're rethinking the images we use for our climate journalism, in: The Guardian, 18. Oktober 2019, https://www.theguardian.com/environment/2019/oct/18/guardian-climate-pledge-2019-images-pictures-guidelines (28.08.2024).
2 Zur (post-)kolonialen Bildpraktik siehe auch: David Bate, Fotografie und der koloniale Blick, in: Herta Wolf (Hrsg.), Diskurse der Fotografie. Fotokritik am Ende des fotografischen Zeitalters, Frankfurt am Main 2003, S. 115–132; Petra Löffler, Bilder-Bilder – Koloniale Bildpraktiken und ihre postkolonialen Wiedergänger, in: Zeitschrift für Medienwissenschaft 13,25-2 (2021), S. 116–127; Sophie Junge (Hrsg.), Den Blick erwidern. Fotografie und Kolonialismus, Themenheft Fotogeschichte 162,41 (2021).