M. Giangiulio: Demokratie in der griechischen Antike

Cover
Titel
Demokratie in der griechischen Antike. Athen, Unteritalien, Sizilien


Autor(en)
Giangiulio, Maurizio
Erschienen
Darmstadt 2022: wbg
Anzahl Seiten
221 S.
Preis
€ 60,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Daniel Emmelius, Historisches Institut, Universität Duisburg-Essen

Dass der Erfolg einer Demokratie wesentlich davon abhängt, wie sie mit den ungleichen sozialen und ökonomischen Lebensverhältnissen der politisch Gleichen umgeht, ist eine Erkenntnis, deren aktuelle Relevanz kaum zu bestreiten sein dürfte. Dies ist auch der Ansatz von Maurizio Giangiulios Monographie „Democrazie greche. Atene, Sicilia, Magna Grecia“, die nun einer von Mark Marsh-Hunn besorgten, sehr angenehm zu lesenden deutschen Übersetzung vorliegt. Das Werk schließt vor allem insofern eine Lücke, als es gemeinsam sowohl die athenische Demokratie als auch vier weitere demokratische Ordnungen Siziliens und Unteritaliens im 5. Jh. behandelt: Syrakus, Kroton, Thurioi und Tarent. Diese waren zwar – jedenfalls im Vergleich mit Athen – von kürzerer Dauer, haben aber dennoch außerhalb der italienischen Forschung meist zu wenig Aufmerksamkeit erfahren.

Der Autor wendet sich insgesamt – wie angedeutet – gegen die Auffassung, das Politische könne von sozioökonomischen Verhältnissen getrennt betrachtet werden. Die Demokratie wird bei ihm insofern „eher als eine soziale Macht verstanden denn als institutionelle Ordnung“ (S. 8). Das Problem der Verbindung von politischer Gleichheit und sozialer Ungleichheit durchzieht dann auch das Buch als „roter Faden“. Dabei wird die Spezifität des demokratischen Athen keineswegs in Abrede gestellt; und auch die im letzten Jahrzehnt prominent gewordene These von Robinson1, die Demokratie sei insgesamt ein weit verbreitetes Phänomen im antiken Griechenland gewesen, teilt Giangiulio nicht.

Das erste Kapitel gilt der übergreifenden Frage nach dem Verhältnis von Polis und Demokratie. Giangiulio wendet sich gegen die Auffassung, die Demokratie habe sich in einer allmählichen linearen Entwicklung aus den Strukturen der Archaik herausentwickelt und sei schon in einem prinzipiell egalitären Charakter der Polisordnung angelegt. Die Entstehung von Demokratien sei vielmehr ein nicht sehr häufiges Ergebnis von durchaus abrupten Zusammenbrüchen der früheren Ordnungen, wie der Autor nicht nur in Bezug auf Athen, sondern auch auf Argos im 5 .Jh. argumentiert. Besonders bemerkenswert ist hier besonders der Einbezug auch weitgehend vergessener Forschung des 18. und frühen 19. Jh. – namentlich besonders John Gast, Cornelius de Pauw und Friedrich Wilhelm Tittmann –, die über die antike, und das heißt natürlich vor allem die athenische Demokratie weitaus positiver urteilte als die folgenden Gelehrtengenerationen und sie zugleich für die der Polis wesensmäßige Ordnung hielt. Giangiulio teilt diese Position gerade nicht, was sein ausführliches Wiederaufgreifen dieser Zweige der Forschungsgeschichte umso lobenswerter macht. Der Autor zeichnet so in anschaulicher Weise den Wandel in den Bewertungen der antiken Demokratie durch ihre modernen Betrachter vor dem Hintergrund geistesgeschichtlicher Entwicklungen der Neuzeit nach.

Das zweite und das dritte Kapitel widmen sich nun ausschließlich der Demokratie in Athen, wobei Giangiulio die Demokratie im engeren Sinne erst mit den Reformen des Ephialtes und dem Auftreten des Perikles beginnen lässt, also gegen Ende 60er Jahre des 5. Jh. v. Chr. Den etwa von Ober2 in Bezug auf Kleisthenes verwendeten Begriff der Revolution hält Giangiulio zwar nur als Metapher für zulässig, greift ihn aber in Bezug auf die Reformen des Ephialtes im Titel des entsprechenden Abschnitts auf und begründet, inwiefern die Veränderungen jener Jahre in gewisser Hinsicht so bezeichnet werden dürften. Gerade dieser sehr starken Betonung der Umbrüche der Ephialtes-Zeit als „eigentlicher“ Revolution werden nicht alle folgen wollen. Giangiulios Behandlung der athenischen Demokratie stellt jedoch eine gerade durch ihre Thesenorientierung inspirierende Auseinandersetzung mit dem Thema dar, die allerdings die zusätzliche Konsultation ausführlicherer und systematischerer Darstellungen nicht ersetzen kann.

In den Kapiteln 4 bis 7 verlässt Giangiulio Athen und wendet sich dem Raum zu, zu dem er sicher international zu den renommiertesten Experten gehört. Die Kapitel zu den sizilischen bzw. unteritalischen Städten Syrakus, Kroton, Thurioi und Tarent machen nicht nur über die Hälfte des Werkes aus, sondern haben auch deutlich anderen Charakter. Deutlich stärker als im Athen-Teil werden hier auch zahlreiche Detailfragen der politischen Ereignisgeschichte und Probleme der Quellenkritik angesprochen. Dabei geht der Autor zuweilen auch über die Analyse der Demokratie und überhaupt der politischen Ordnung hinaus.

Sowohl die Entstehung und der zeitweilige Bestand als auch der Niedergang der jeweils als Demokratie aufgefassten Ordnungen wird bei Giangiulio primär aus spezifischen, lokalen Bedingungen heraus und auf gut nachvollziehbare und quellennahe Weise erklärt. Neben der immer wieder neu und anders zu lösenden Frage nach dem Ausgleich zwischen sozialer Ungleichheit und politischer Gleichheit der Bürger kann der Autor in allen Fällen einschneidende, zumeist gewaltsame Umbrüche ausmachen, die zu Perioden demokratischer Ordnung führen. Bei Syrakus ist dies der Sturz der Tyrannis der Deinomeniden und die Frage, wie mit den durch die Umsiedlungspolitik Gelons zum Bürgerrecht gelangten Neubürgern umzugehen sei. Als Stabilitätsfaktoren sieht der Autor beispielsweise – ähnlich wie in Athen – regionale Hegemonie und Flottenbau. Im Falle Krotons stehen am Beginn der Sieg über die mächtige Nachbarpolis Sybaris und die in der Folge sich stellenden Landverteilungsprobleme, die sich auch auf die bedeutende politische Rolle des Pythagoras und seiner Anhängerschaft auswirken. Die panhellenische Gründung von Thurioi als athenische Planstadt gehört in denselben Umbruchskontext und erweist sich im Hinblick auf seine Demokratie ebenfalls als eher kurzlebiger Spezialfall, auch wenn Giangiulio hier Argumente für eine zumindest etwas längeren Bestand dieses Systems anführt als von anderen angenommen. Ein recht langlebiges demokratisches Regime hielt sich allerdings in Tarent, auch dies zunächst hervorgegangen aus einem gewaltsamen Umbruch, der Niederlage Tarents gegen die indigenen Iapyger. Den Schlüssel für die besondere Stabilität der tarentinischen Demokratie bis zur römischen Eroberung verortet Giangiulio besonders in den Maßnahmen des Pythagoreers Archytas, die auf einen sozialen Ausgleich innerhalb der Bürgerschaft abgezielt hätten.

Gerade auch angesichts der Heterogenität der Fallstudien vermisst man etwas ein Resümee am Ende des Buches, das mit dem Kapitel zu Tarent relativ unvermittelt endet. Auch fragt man sich, ob nicht ein expliziter Vergleich der Fallstudien gewinnbringend gewesen wäre und zudem auch deren Auswahl besser hätte begründet werden können. Es ist schließlich bedauerlich, dass der ausführliche Kommentar zur Bibliographie, der im italienischen Original enthalten ist, in der deutschen Fassung übergangen wurde. Die Bibliographie selbst ist indes besonders um deutschsprachige Titel ergänzt und auch aktualisiert worden, ohne dass auf diese jedoch im Text Bezug genommen würde.

Insgesamt stellt Giangiulios Buch eine unkonventionelle und vor allem in Bezug auf die unteritalischen und sizilischen Poleis wichtige Ergänzung in der jüngeren Literatur zur antiken Demokratie dar. Seine Stärke liegt in erster Linie darin, den Horizont über Athen hinaus zu weiten und sich dabei durchgehend an einem hochaktuellen Grundproblem auch moderner Demokratien, nämlich dem Umgang mit sozialer Ungleichheit, zu orientieren.

Anmerkungen:
1 Eric W. Robinson, Democracy Beyond Athens. Popular Government in the Greek Classical Age, Cambridge 2011.
2 Josiah Ober, “I besieged that man”. Democracy’s Revolutionary Start, in: Kurt A. Raaflaub, Josiah Ober, Robert W. Wallace (Hrsg.): Origins of Democracy in ancient Greece, Berkeley / Los Angeles / London 2007, 83–104.

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