Das muss erst einmal gestemmt werden: 130 Autorinnen und Autoren unterschiedlicher Disziplinen wie der Geschichtswissenschaft, der Geografie, der Soziologie, der Ethnologie oder verschiedener Regionalwissenschaften befassen sich in mehr als 100 interdisziplinär angelegten Beiträgen mit unterschiedlichsten Fragen der (Zwangs-)Migration. Auf diese Weise entstand ein Handbuch zur „Flucht- und Flüchtlingsforschung“, das allein durch sein Erscheinen belegt, dass die lange Zeit eher als randständig angesehene Migrationsforschung spätestens nach 2015 in das Zentrum vieler Forschungsdisziplinen gerückt ist. Darüber hinaus zeigt sich ähnlich wie beim Oxford Handbook of Refugee and Forced Migration Studies (das für das deutsche Handbuch einen Vorbildcharakter hat)1, dass sich die Migrationsforschung zwischenzeitlich stark ausdifferenziert hat. Es wurden viele neue Impulse aufgenommen, die sich nicht nur auf kulturwissenschaftliche, ethnologische, soziologische oder psychologische Ansätze beschränken.
Ziel des Handbuches ist es nach Angaben der vier Herausgeberinnen und Herausgeber, die jüngsten Ansätze der Flucht- und Flüchtlingsforschung aufzugreifen, zu reflektieren und für künftige Forscherinnen und Forscher aufzubereiten. Dies ist wahrlich gelungen. Denn die in den verschiedenen Teildisziplinen mittlerweile sehr spezialisierte Forschungslandschaft lässt sich kaum mehr überblicken. Das grundlegende Verdienst des Handbuches besteht also darin, die Detailforschungen auf aktuellem Stand für ein breiteres Publikum zusammenzufassen und zu problematisieren. Dies dient nicht nur den Fachwissenschaften, sondern auch Studierenden oder Praktikerinnen und Praktikern etwa von Flüchtlingsorganisationen, die auf diese Weise rasch einen Einblick in grundlegende Fragen und Antworten der Flucht- und Flüchtlingsforschung gewinnen können.
Das Handbuch ist in vier Hauptsektionen unterteilt. In einer ersten Sektion werden die Forschungsansätze in Disziplinen wie der Geschichtswissenschaft, der Politikwissenschaft, der Soziologie, der Psychologie oder der Literaturwissenschaft dargestellt, aber auch interdisziplinäre und internationale Perspektiven der Refugee and Forced Migration Studies, der Migrationsforschung, der Friedens- und Konfliktforschung. Diese Beiträge zeichnen nicht nur die Entwicklung der Forschungsfelder nach (sowie die damit verbundenen Forschungskontroversen) und ordnen diese mit interdisziplinärem Blick in die Wissenschaftslandschaft ein, sondern reflektieren auch die jeweiligen historischen, theoretischen und konzeptionellen Zugänge der Disziplinen.
Für die Geschichtswissenschaft etwa untersucht Patrice G. Poutrus die historische Flucht- und Migrationsforschung und zeigt dabei auf, wie vor allem staatliche Gewalt Fluchtbewegungen auslöste. Dabei problematisiert er den vielfach aufgestellten Gegensatz zwischen einem umfassenden staatlichen Verfolgungsdruck einerseits, der als Auslöser der Flucht gedeutet wurde, und einer vermeintlich erfolgreichen „Integration“ von Migrantinnen und Migranten andererseits. Poutrus verweist im Gegensatz dazu auf die Entscheidungsspielräume von Flüchtlingen sowie auf die historisch vielfältigen Motive für eine Flucht, aber auch auf die Konflikte bei der Aufnahme der Menschen in die Ankunftsgesellschaft. Teil dieser ersten Sektion sind außerdem zwölf Beiträge zu Forschungsmethoden und zur Forschungsethik. Sie reichen von qualitativer, partizipativer und multilokaler Forschung bis hin zu Fragen von Big Data, Mixed Methods, Eurozentrismus und Wissenstransfer.
Die zweite Sektion des Handbuches befasst sich mit Begriffen und Themen der Flucht- und Flüchtlingsforschung. Hierzu zählen etwa die Agency von Flüchtlingen, die Frage von Binnenvertriebenen, Diaspora, Emotionen und Erinnerungen, aber auch Themen wie Gender, Gewaltmigration, Integration, Traumatisierung oder Vulnerabilität. Die einzelnen Beiträge dieser Sektion untersuchen dabei sowohl die Entstehungsgeschichte der Begriffe als auch die Entwicklungsgeschichte der Begriffsverwendung.2
Für die historische Forschung besonders bereichernd sind dabei zwei Beiträge. Klaus Neumann befasst sich beim „Recht auf Asyl“ vor allem mit der völkerrechtlichen Entwicklung der Asylgewährung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Er betont, dass unter dem Begriff „Asylrecht“ im Völkerrecht bis heute das Recht von Nationalstaaten verstanden werde, Flüchtlingen Asyl gewähren zu können. Hingegen gebe es im Völkerrecht immer noch keinen Individualanspruch auf Asyl, d.h. Flüchtlinge hätten trotz der Genfer Flüchtlingskonvention weiterhin nicht überall das Privileg, den Schutz von Staaten vor einer Verfolgung in Anspruch nehmen zu dürfen. Vielmehr hätten die Staaten das Privileg, Asyl gewähren zu können. Jochen Oltmer wiederum widmet sich dem „Flüchtling“ aus einer historischen Perspektive (in zwei weiteren Beiträgen skizzieren Dana Schmalz und Marlene Rummel dann die rechtliche und die sprachliche Perspektive). Oltmer zeigt, wie der Begriff „Flüchtling“ im 17. und 18. Jahrhundert im deutschsprachigen Raum vor allem auf Hugenotten angewendet wurde. Anders als etwa in der englischen Sprache wurde die Kategorie „Flüchtling“ im 19. Jahrhundert dann kaum verwendet, was Oltmer damit erklärt, dass die deutschsprachigen Staaten in der Regel als Transitländer fungierten und Flüchtlingen nur selten Schutz boten. Nach dem Ersten sowie nach dem Zweiten Weltkrieg wurde dieser Begriff vor allem auf Deutsche bezogen, die aufgrund des Krieges aus ihrer Heimat hatten fliehen müssen. Erst seit den 1960er-Jahren zeige sich, so Oltmer, dass inzwischen vermehrt auch ausländische Migrantinnen und Migranten vom Flüchtlingsbegriff erfasst würden. Zudem verweist der Autor darauf, dass während der intensiven innenpolitischen Auseinandersetzungen über Flucht und Asyl von den 1970er- bis zu den 1990er-Jahren der Begriff „Flüchtling“ weitgehend positiv konnotiert wurde. Negativ behaftet waren eher die Begriffe „Asyl“ (z.B. im Kompositum „Asylproblem“) oder „Asylanten“ (z.B. im Kompositum „Asylantenschwemme“).3
Anders als diese ersten beiden Sektionen, die vor allem den theoretisch-konzeptionellen Rahmen der Flucht- und Flüchtlingsforschung abstecken und die zentralen wissenschaftlichen Debatten nachzeichnen, sind die beiden Folgesektionen empirisch angelegt. Sektion drei befasst sich dabei mit den Gegenständen der Flucht- und Flüchtlingsforschung. Hierzu zählen zentrale Akteure und Institutionen wie die Zivilgesellschaft, die Länder und Kommunen in der Bundesrepublik oder internationale Organisationen. Darüber hinaus werden an dieser Stelle bestimmte Gruppen von Flüchtlingen untersucht, darunter Frauen oder Männer, aber auch unbegleitete minderjährige Flüchtlinge oder LGBT-Geflüchtete.
In dieser Sektion werden zudem die Politikansätze und Regulierungsmuster mit Blick auf Flüchtlinge untersucht. Hierzu zählen internationale Abkommen, aber auch Abschiebungen, Fragen der Irregularität oder die Fluchtursachenvermeidung bzw. die Rückkehr von Flüchtlingen in ihre Heimat. Ebenso werden die Strukturen sowie die Praxis der Aufnahme von Flüchtlingen betrachtet. Das Handbuch vereint dafür nicht nur Beiträge zu Aufnahmeverfahren von Asylsuchenden oder zum Arbeitsmarkt, sondern auch etwa zu Diskriminierung und Rassismus oder zu Flucht und Kriminalität. Aus Sicht der Geschichtswissenschaft besonders interessant ist der Beitrag von Jana Mayer und Gerald Schneider zur Asylpolitik, einem vor allem seit den 1980er-Jahren sehr umstrittenen Politikbereich. Mayer / Schneider gehen der Frage nach, wie sich die Asylpolitik vor allem in Europa entwickelte und wie unterschiedliche Anerkennungsquoten in den einzelnen Staaten zu erklären sind.
Die abschließende vierte Sektion ist geographisch gegliedert; sie zeigt, wie sich Flucht und Migration in unterschiedlichen Weltregionen entwickelten. Dadurch wird der oftmals eurozentrierte Blick ausgeweitet und die Geschichte von Flucht und Migration auch in Afrika, im Nahen und Mittleren Osten, in Asien und Ozeanien sowie den Amerikas untersucht. Die Autorinnen und Autoren bieten vor allem eine historische, rechtliche und politische Einordnung von Fluchtkontexten, Migrationsregimen oder Flüchtlingsaufnahmen im außereuropäischen Raum. Diese Beiträge sind schon deshalb wichtig, weil die meisten Flüchtlinge weltweit als Binnen- oder Regionalflüchtlinge in außereuropäischen Staaten lebten und leben. Ganz aktuellen Entwicklungen konnte hingegen aufgrund der Vielfalt der Themen nicht umfassend Beachtung geschenkt werden.
Das Handbuch bietet insgesamt einen sehr guten Überblick zum Forschungsstand sowie zu den lebhaften Forschungsdiskussionen in den unterschiedlichen Disziplinen. Darüber hinaus werden die zentralen Themen und Herausforderungen der Flucht- und Flüchtlingsforschung ausführlich untersucht. Dies zeigt, wie stark sich das Feld inzwischen ausdifferenziert hat und wie schnell aktuelle Fragen Eingang in die Migrationsforschung erhalten haben. Aufgrund der sich rasch entwickelnden akademischen Debatten und der sich beständig wandelnden politischen Trends konzentrieren sich die Autorinnen und Autoren vor allem auf den gesicherten wissenschaftlichen Erkenntnisstand und beziehen jüngste Entwicklungen nur am Rande ein. Dadurch zeigen sich zwar einige Lücken in bestimmten besonders aktuellen Teilbereichen der Forschung. Andererseits war es dadurch möglich, ein Handbuch zu erstellen, das in den kommenden Jahren Grundlage für Forschung und Studium sein kann.4 Demgegenüber fallen potentielle Kritikpunkte, wie etwa die Nichtberücksichtigung bestimmter Themenfelder aus den Bereichen Gesundheitswissenschaft, Rechtswissenschaft oder Wirtschaftswissenschaft, weniger ins Gewicht.
Anmerkungen:
1 Elena Fiddian-Qasmiyeh u. a. (Hrsg.), Oxford Handbook of Refugee and Forced Migration Studies, Oxford 2014 (Paperback-Ausg. 2016).
2 Auch der Sammelband von Inken Bartels u. a. (Hrsg.), Umkämpfte Begriffe der Migration. Ein Inventar, Bielefeld 2023, https://doi.org/10.14361/9783839457122 (31.07.2024), widmet sich der Migrationsgeschichte über die zentralen Begriffe in diesem Feld.
3 Siehe mit ähnlicher Zielsetzung den frei zugänglichen Text von Jochen Oltmer, Begriff und Figur des Flüchtlings in historischer Perspektive, 13.10.2021, https://www.bpb.de/themen/migration-integration/kurzdossiers/342015/begriff-und-figur-des-fluechtlings-in-historischer-perspektive/ (31.07.2024).
4 Als Folgeband ist bereits angekündigt: Marcel Berlinghoff / J. Olaf Kleist (Hrsg.), Interdisziplinäre Flucht- und Flüchtlingsforschung. Schlüsselthemen eines neuen Feldes, Baden-Baden 2027.