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Titel
Regionale Entscheidungsfindung zum Krieg. Die Weimarer Herzöge zwischen fürstlicher Beratung und gelehrtem Diskurs (1603–1623)


Autor(en)
Stiebing, Marcus
Reihe
Schriftenreihe zur neueren Geschichte
Erschienen
Münster 2023: Aschendorff Verlag
Anzahl Seiten
XIV, 418 S.
Preis
€ 63,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Frank Kleinehagenbrock, Forschungsstelle Bonn, Kommission für Zeitgeschichte e.V.

Marcus Stiebing hat seine Dissertationsschrift im Sommersemester 2020 an der Philosophischen Fakultät der Friedrich-Schiller-Universität Jena vorgelegt. Betreut wurde sie von Georg Schmidt. Sie reiht sich in die Vielzahl von Studien über die ernestinischen Herrschaften ein, die in den zurückliegenden beiden Jahrzehnten entstanden sind und einen spezifischen dynastisch-politischen Aktionsraum im Alten Reich profiliert haben. Die zentrale Fragestellung des Autors zielt auf das Nachvollziehen und das Verstehen von Entscheidungsfindungsprozessen der Weimarer Herzöge. Dafür wurde ein sehr wichtiger Untersuchungszeitraum gewählt, nämlich die beiden Jahrzehnte vor und die ersten Jahre nach Ausbruch des Dreißigjährigen Krieges. Dabei handelt es sich um eine Periode besonderer Krisendynamik, in der die Kunst des Dissimulierens, die für die politische Kultur und die Einhegung von Konflikten im Alten Reich wichtig war, an ihre Grenzen stieß. Diese Grenzen macht Marcus Stiebing sichtbar.

Mit der für eine Promotionsschrift eigentümlichen Gründlichkeit holt er für seine Analyse weit aus. So weit, dass man fast fragen möchte, ob der Untersuchungszeitraum nicht eigentlich früher ansetzt. Er klärt in den ersten Kapiteln Schlüsselbegriffe, hinterfragt ganz allgemein das Verhältnis von Fürsten und Beratern entlang der zeitgenössischen Fachliteratur, beschreibt den fürstlichen Rat als Typus und stellt den politischen Kosmos der Wettiner im Heiligen Römischen Reich seit den 1530er-Jahren vor. Dabei ist wichtig, dass er sich nicht allein auf die Reichspolitik beschränkt, sondern die spezifischen Interessen der Dynastie hervorhebt und zugleich die unterschiedlichen Interessen einzelner Akteure herausarbeitet. So gelingt es ihm, die Krisenphänomene der Jahre vor dem Ausbruch des Dreißigjährigen Krieges aus wettinischen Perspektiven zu beleuchten. Dazu zählen insbesondere die Herausforderungen für die Habsburger in Böhmen, deren Position dort seit 1608 mehr und mehr zu erodieren schien. Damit sind – fast – alle wichtigen Faktoren benannt, welche für die Entscheidungsfindung der Weimarer Herzöge von besonderer Relevanz waren: das Alte Reich als politisches sowie rechtliches System und seine Weiterentwicklung, die Konkurrenz der Dynastien und diesbezüglich insbesondere das Fortkommen der ernestinischen Wettiner. Etwas blass bleibt hingegen die Bedeutung des Konfessionellen, das aber gleichwohl nicht unbeachtet bleibt.

Höhepunkt der Analyse ist schließlich die Entscheidung über das Verhalten Herzog Johann Ernsts d. J. von Sachsen-Weimar in der frühen Phase des Dreißigjährigen Krieges, als dieser die Schwelle vom lokalen böhmischen Konflikt zu einem reichsweiten Krieg überschritt. Wie kam es zur offensichtlich riskanten Unterstützung des Herzogs für den pfälzischen Kurfürsten sowie kurzzeitigen böhmischen König Friedrich (V.) und damit zur Positionierung gegen das Haus Habsburg und Kaiser Ferdinand II., wiewohl die Mehrheit der politisch Einflussreichen im Herzogtum – Räte bei Hofe, die Landstände und Jenaer Professoren – genau davor warnten? Dies taten sie nicht zuletzt, weil sie mehrheitlich nach der Begrenzung des böhmischen Konfliktes strebten und seine Ausweitung über das den wettinischen Ländern benachbarte Königreich hinaus fürchteten. Bei ihren Analysen des Geschehens in Böhmen rekurrierten sie auf jeweils eigene Lektüreerfahrungen oder beispielsweise unterschiedliche Interpretationen des Augsburger Religionsfriedens und versuchten diese dem Herrscher nahezubringen.

In diesem Kontext unterstreicht Marcus Stiebing das jahrelange Wirken und den bestimmenden Einfluss Friedrich Hortleders, dessen Meinung offenbar sehr intensiv auf Herzog Johann Ernst d. J. einwirkte. Dieser verfestigte beim Herzog eine Reihe von für ihn letztlich entscheidungsleitenden Narrativen: Erstens das Unrecht, das den Ernestinern in den 1540er-Jahren durch Kaiser Karl V. und das Haus Habsburg nicht zuletzt durch den Entzug der Kurwürde widerfahren war; zweitens die anscheinend überwiegend für die Interessen des Hauses Habsburg arbeitenden Reichsinstitutionen (nicht zuletzt der Reichshofrat) sowie drittens die gegen Reichsrecht und böhmisches Recht verstoßenden Maßnahmen Ferdinands II. gegen die Protestanten in Böhmen. Nach Auffassung Hortleders gefährdete der Kaiser das System der Reichsverfassung und die Interessen der Weimarer Herzöge, überhaupt der ernestinischen Wettiner. Dieser Einfluss samt der letztlich entscheidungsleitenden Argumentationsmuster ließen ab einem bestimmten Zeitpunkt gegen Ende des Jahres 1619 keinen Platz mehr für friedenssichernde Kompromisse und frühe Formen von Neutralität, sondern führten geradewegs in die Kriegsbeteiligung des Weimarer Herzogs und trugen somit zur Ausweitung des Konfliktes über Böhmen hinaus bei.

Mitunter scheint es, als würde Marcus Stiebing sich in seiner eigenen Argumentation jenen der Protagonisten seiner Studie anschließen. Man könnte nach der Lektüre zu dem pointierten Schluss gelangen, dass der Herzog sich mehr und mehr in einer Kommunikationsblase befunden hat und in ihr sowohl die Vergangenheit seiner Dynastie als auch die für ihn aktuelle Politik der Habsburger als erlittenes Unrecht gedeutet und erfahren hat (siehe Zwischenfazit, S. 289–290). Denn nach Stiebing haben der Herzog und Hortleder andere Meinungen wohl gehört, aber zunehmend ausgeblendet. Die neuere Forschung zum Alten Reich – zumal sich der Autor explizit von Treitschke absetzt (S. 6–7) – ermöglichte gleichwohl intensivere differenzierende Kontextualisierungen. Das ändert freilich nichts daran, dass die wichtigsten Protagonisten – der Kaiser, die böhmischen Stände und der Pfälzer Kurfürst – tatsächlich einen kompromisslosen Kurs zur Durchsetzung ihrer Ziele fuhren, etwa in Bezug auf die Reetablierung habsburgischer Macht in Böhmen, den Bestand der Konföderationsakte und die böhmische Königswürde. Und so hielt sich der Weimarer Herzog schließlich nicht mehr zurück, so wie die meisten anderen einschließlich des sächsischen Kurfürsten es taten, sondern schlug sich dezidiert auf eine Seite (siehe Zwischenfazit, S. 250–252). Wie es dazu kam, zeigt die Studie von Marcus Stiebing in hervorragender Weise. Am Ende vermag sie noch darauf verweisen, wie die Akteure diese Entscheidung und ihre Konsequenzen mit einem Freiheitsnarrativ verbinden und so den sich ausweitenden Krieg legitimierten (S. 330).

Es kann insgesamt kein Zweifel bestehen, dass die Ergebnisse dieser wichtigen Studie, die insbesondere in ihrem geradezu packend geschriebenen letzten Drittel entfaltet werden, gründlich erarbeitet wurden. Der Autor hat dafür nicht weniger als elf Archive (und Handschriftenabteilungen von Bibliotheken) genutzt. Herausgekommen ist dabei ein Buch, das über den thüringischen Geschichtsraum hinaus breite Wahrnehmung und Anerkennung verdient. Es ist ein wichtiger Beitrag zur politischen Kultur des Alten Reiches, zumal in einer entscheidenden Phase seiner Geschichte. Es werden die Kommunikationsprozesse sichtbar, in denen politische Entscheidungen heranreiften. Herzöge waren auch in der Frühen Neuzeit von einer Vielzahl von Personen mit spezifischen Eigeninteressen abhängig. Die Personen in der zweiten Reihe, deren große Bedeutung die Geschichtswissenschaft inzwischen deutlich erkennt, sind aufgrund ihrer Prägungen, ihrer politischen Analysefähigkeiten und nicht zu unterschätzenden Einflussmöglichkeiten eine wichtige Akteursgruppe des Alten Reiches, die dessen Funktionieren – oder wie im hier analysierten Fall – dessen Nicht-Funktionieren wesentlich bestimmt haben.

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