Cover
Titel
The Gender of Capital. How Families Perpetuate Wealth Inequality


Autor(en)
Bessière, Céline; Gollac, Sibylle
Erschienen
Anzahl Seiten
XIV, 330 S.
Preis
$ 39.95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jürgen Dinkel, Historisches Seminar, Universität Leipzig

Warum erwerben und besitzen Frauen weniger Kapital als Männer, obwohl sie vor dem Gesetz gleichgestellt sind? So lautet in aller Kürze die zentrale Frage der beiden Soziologinnen Céline Bessière und Sibylle Gollac in ihrer Studie „The Gender of Capital“. In der Tradition von Thomas Piketty stehend und auf dessen Arbeiten aufbauend, rücken sie mit diesem Erkenntnisinteresse einen Aspekt ins Zentrum, der bei Piketty kaum eine Rolle spielt: den Zusammenhang von Vermögensungleichheiten und Geschlecht.1 Während Piketty und daran anschließende Studien vor allem Veränderungen von Vermögensungleichheiten zwischen verschiedenen sozialen Schichten oder Klassen in der gesamten Gesellschaft untersuchten, interessieren sich Bessière und Gollac für Vermögensunterschiede zwischen Männer und Frauen in allen gesellschaftlichen Schichten.

Ihre Studie basiert auf zwei Beobachtungen: Erstens habe die rechtliche Diskriminierung von Frauen seit dem 19. Jahrhundert in Europa und den USA abgenommen. Vor dem Gesetz seien Frauen und Männer mittlerweile im transatlantischen Raum gleichgestellt; sie besitzen gleiche (Eigentums-)Rechte und Pflichten. Zugleich haben zweitens die Vermögensunterschiede zwischen Männer und Frauen in Frankreich in den letzten Jahrzehnten wieder zugenommen (S. xi). Hiervon ausgehend fragen sie, wie diese Entwicklung zu erklären ist.

Um diese Frage zu beantworten, untersuchen die beiden Autorinnen hauptsächlich das Vermögenshandeln von Männern und Frauen in Frankreich etwa seit den 2000er-Jahren, mit vergleichenden Blicken in die USA und die europäischen Nachbarländer. Sie kombinieren qualitative und quantitative Methoden. Sie führten Interviews, begleiteten einzelne Familien über mehrere Jahre, um innerfamiliale ökonomische Transaktionen zu beobachten, und werteten vorhandene Statistiken und Erhebungen zur Vermögensverteilung, vor allem den French Wealth Survey, aus. Aus diesem empirischen Material destillieren sie anschließend fünf Faktoren, die aus ihrer Sicht die Vermögensungleichheiten zwischen Männern und Frauen in allen sozialen Schichten erklären: 1.) Die Benachteiligung von Frauen bei der Erwerbsarbeit (Gender Pay Gap) und die umfangreichere, von Frauen geleistete unbezahlte Care-Arbeit; 2.) die Benachteiligung von weiblichen Nachkommen bei der Verteilung von Erbe; 3.) die Benachteiligung von Frauen bei Scheidungsprozessen und der damit einhergehenden Aufteilung von gemeinsamen Familienvermögen; 4.) die Benachteiligung von Frauen in rechtlichen Auseinandersetzungen um Erbe oder Vermögen nach Scheidungen durch überwiegend männliche Rechtsanwälte und Notare; und 5.) Die Benachteiligung von Frauen bei grenzüberschreitenden Eigentumstransfers.

Bessière und Gollac betonen, dass diese Faktoren insgesamt die Vermögensungleichheiten zwischen Männern und Frauen in der französischen Gesellschaft erklären, dass je nach sozialer Schicht aber die Bedeutung der einzelnen Faktoren variiert. Während transnationale Eigentumstransfers und rechtliche Beratungen stärker Vermögensungleichheiten in der Mittelklasse und unter Reichen erklären, spielen sie für Vermögensunterschiede in der ärmeren Bevölkerung eine vergleichsweise geringe Rolle. Dort kommen demgegenüber sehr viel stärker die unbezahlte Care-Arbeit und der Gender Pay Gap zum Tragen. Ebenso heben die Autorinnen hervor, dass es sich bei diesen Benachteiligungen nicht um rechtliche Diskriminierungen handelt, sondern diese die im rechtlichen Rahmen möglich sind und sich aus den Handlungsspielräumen ergeben, die der französische Gesetzgeber seinen Bürgerinnen und Bürgern in Vermögensangelegenheiten einräumt. Umso drängender stellt sich daher die Frage, warum Frauen in allen sozialen Schichten in Vermögensangelegenheiten benachteiligt werden.

Bessière und Gollac sehen die Antwort darauf im Fortwirken patriarchaler Strukturen und Denkmuster. Die patriarchale, französische Gesellschaft im 21. Jahrhundert beruhe auf der Bevorzugung von Männern und der Benachteiligung von Frauen und reproduziere diese Strukturen. Für die Ungleichheitsforschung bedeute dies, dass die Analyse von Ungleichheiten immer auch die Kategorie Gender berücksichtigen müsse, und für politische Aktivisten, dass es nicht ausreiche, sich für die Minimierung von Vermögensungleichheiten in der Gesamtgesellschaft einzusetzen, solange die sich perpetuierenden Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern nicht adressiert werden.

Aus historischer Perspektive ist die Studie der beiden Autorinnen inspirierend und frustrierend gleichermaßen. Die Vehemenz, der Facettenreichtum und die empirische Dichte, mit der sie auf Wechselwirkungen zwischen Vermögensungleichheiten und Geschlechterordnung aufmerksam machen, ist als dringender Appell zu verstehen, diese Dimension bei der Analyse von Ungleichheiten nicht zu vernachlässigen. Allerdings haben zahlreiche, von Bessière und Gollac weitgehend ignorierte historische Studien für frühere Epochen genau auf diese Wechselwirkungen von Eigentumshandeln und Gender schon differenziert hingewiesen.2 Das gleiche gilt auch für die anderen von ihnen angeführten Faktoren, beispielsweise zur Rolle von Rechtanwälten und Ratgebern in Finanzangelegenheiten und bei Eigentumstransfers.3 Letztendlich bleiben zudem zwei Grundannahmen der Studie – nämlich dass sich die rechtliche Gleichstellung der Frau nicht auf deren Vermögenssituation ausgewirkt habe und dass die Vermögensungleichheiten zwischen Männern und Frauen in den letzten Jahrzehnten zugenommen haben – empirisch nicht belegte Behauptungen. Um beide Hypothesen zu untermauern, müssten Vermögensungleichheiten und Eigentumspraktiken zwischen den Geschlechtern über einen längeren Zeitraum und mehrere Generationen untersucht werden und nicht nur über knapp 20 Jahre.

Vor diesem Hintergrund wäre es wünschenswert, dass zukünftige Studien zu Vermögensungleichheiten im 20. und 21. Jahrhundert die Ergebnisse historischer Arbeiten mit denen von Bessière und Gollac verzahnen. Dadurch ließe sich nicht nur feststellen, dass Frauen in der französischen Gesellschaft des 21. Jahrhunderts weniger Eigentum besitzen als Männer, sondern auch die Entstehungsgeschichte dieser strukturellen Ungleichheit untersuchen. Darüber hinaus könnte ein Dialog mit den Geschichtswissenschaften die zentrale Erklärung von Bessière und Gollac ausdifferenzieren. In der Anlage ihres Buches wird das Patriachat als starre, überzeitliche Struktur präsentiert, die auf Vermögensungleichheiten basiert und diese reproduziert. Der Logik dieser Erklärung folgend gibt es eigentlich keine Möglichkeit für gesellschaftlichen Wandel. Genau diesen Wandel möchten die Autorinnen jedoch sogar selbst – in die Zukunft gedacht – herbeiführen: Durch Studien wie ihre und politischen Aktivismus – so das Fazit – ließen sich patriarchale Strukturen überwinden und auch eine praktische Vermögensgleichheit zwischen den Geschlechtern herstellen. Diesem politischen Anliegen ist zweifellos zuzustimmen; nur fände ich es wissenschaftlich überzeugender, wenn auch für die Vergangenheit und Gegenwart von der Wandlungs- und Anpassungsfähigkeit patriarchaler Strukturen ausgegangen wird und deren Flexibilität und Beharrungskraft erklärt und untersucht werden.

Schließich nehmen die Autorinnen keinen Bezug auf den von zahlreichen historischen Studien herausgearbeiteten wichtigsten Trend bei innerfamilialen Eigentumstransfers und der Wahrnehmung von Familie: dem sich ausbildenden Ideal, alle Kinder – unabhängig von ihrem Geschlecht – gleich zu behandeln. Bei Bessière und Gollac laufen alle empirischen Befunde darauf hinaus, dass in der französischen Gesellschaft des 21. Jahrhunderts Männer in Eigentumsangelegenheiten bevorzugt und Frauen benachteiligt werden. Dieser Befund widerspricht nahezu allen mir bekannten historischen und soziologischen Studien zu anderen Ländern und Regionen in den USA und Europa, die zu dem Ergebnis kommen, dass zum Beispiel Nachlassplanungen zunehmend darauf ausgelegt sind, alle gleich zu behandeln und ihnen auch wertmäßig gleiche Erbanteile zu hinterlassen. Dies führte letztendlich dazu, dass zumindest bei Erbtransfers Männer und Frauen nicht nur rechtlich gleichgestellt wurden, sondern auch ganz konkret die Vermögensunterschiede zwischen Männern und Frauen abnahmen.4 Bessière und Gollac kommen in ihrer Studie für die französische Gesellschaft des 21. Jahrhunderts zum gegenteiligen Ergebnis und an diesem Punkt kann ich ihrem Schlussplädoyer nur zustimmen: Es braucht weitere Studien, die den Zusammenhang von Geschlecht und Eigentumshandeln vergleichend für verschiedene gesellschaftliche Gruppen, Regionen und Länder im 20. und 21. Jahrhundert untersuchen.

Anmerkungen:
1 Vgl. das Review-Symposium zu Thomas Piketty, Das Kapital im 21. Jahrhundert, München 2014, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-21515 (27.08.2024).
2 Karin Gottschalk, Does Property have a Gender? Household Goods and Conceptions of Law and Justice in Late Mediaval and Early Modern Saxony, in: The Medieval History Journal 8 (2005), S. 7–24; Sonja Niederacher, Eigentum und Geschlecht. Jüdische Unternehmerfamilien in Wien (1900–1960), Wien 2012; David R. Green u.a. (Hrsg.), Men, Women, and Money. Perspectives on Gender, Wealth, and Investment, 1850–1930, Oxford 2011; Margareth Lanzinger, Propriété, famille et arrangements de genre dans le monde rural, in: Encyclopédie d'histoire numérique de l'Europe [en ligne], 4.11.2020, https://ehne.fr/fr/node/21434 (27.08.2024).
3 Simone Derix, Hidden Helpers: Biographical Insights into Early and Mid-Twentieth Century Legal and Financial Advisors, in: Jahrbuch für Europäische Geschichte 16 (2015), S. 47–62.
4 Jürgen Dinkel, Alles bleibt in der Familie. Erbe und Eigentum in Deutschland, Russland und den USA seit dem 19. Jahrhundert, Köln 2023; Marianne Kosmann, Wie Frauen erben. Geschlechterverhältnis und Erbprozeß, Opladen 1998; Ronny Grundig, Vermögen vererben. Politiken und Praktiken in der Bundesrepublik und Großbritannien 1945–1990, Göttingen 2022.