Mary Fulbrook, die sicher bedeutendste britische Historikerin der deutschen Zeitgeschichte, beschäftigt sich in ihrem neuen Werk mit der Figur des bystanders, und zwar nicht nur als irgendeinem, sondern dem zentralen Typus der deutschen Gesellschaft unter einer NS-Diktatur, die einen moralischen Bruch mit allen sozialen und kulturellen Werten vorheriger politischer Herrschaft vollzog und sich damit durchsetzen konnte, weil bystanding zum mehrheitlichen Muster öffentlichen und privaten Verhaltens wurde.
Der Begriff des bystanders hat im Deutschen keine Entsprechung. Hier gibt es den Mitläufer, denjenigen, der, ohne eigentlich überzeugt zu sein, aus Opportunismus, Bequemlichkeit oder Angst mitmacht, also, anders als der Zuschauer, sich sichtbar äußerlich anpasst. In den Entnazifizierungsakten wurde der „Mitläufer“ zu einer eigenen Kategorie oberhalb des „Unbelasteten“ und bezog sich meist auf NSDAP-Mitglieder, denen zugestanden wurde, nur äußerlich dem Regime zugestimmt zu haben. Der bystander erscheint als der passivere Typus, ist aber auch mehr als ein bloßer Zuschauer, wie Fulbrook in ihrer gründlichen Einleitung zeigt. Durch seine Passivität signalisiert er, dass er bereit ist, zu dulden, was ihm vielleicht missfällt, was er nicht selber angestoßen hat, was er also „nur“ zulässt. Angst, Gleichgültigkeit und Gewöhnung sind Grundhaltungen des bystanders, und diese durchlaufen eine Geschichte in den zwölf Jahren der NS-Herrschaft, die viele Millionen Menschen das Leben kostete. Im Fokus stehen deshalb die Haltung nichtjüdischer Deutscher gegenüber der Markierung, Ausgrenzung, Entrechtung und Vernichtung der Juden innerhalb des „Dritten Reichs“ und dem besetzten Europa seit 1939.
Fulbrooks Untersuchung über die Figur des bystanders und deren Entwicklung zwischen 1933 und 1945 beruht auf einer genauen Lektüre von Selbstzeugnissen. Für die Zeit bis 1939 nutzt sie vor allem eine von der Harvard University initiierte und archivierte Sammlung von – im Rahmen eines Preisausschreibens formulierten – Essays, die nach 1933 eingewanderte Deutsche über die Situation und Entwicklung im „Dritten Reich“ verfasst hatten. Die allermeisten Autoren waren von den Nazis als Juden definierte Deutsche, aber auch politische Migranten und Einzelne, die aus privaten Gründen nach 1933 in die USA eingewandert waren. Diese Quellensammlung ist, wie Fulbrook selbst anmerkt, nicht unproblematisch, lässt sich doch nicht ausschließen, dass entweder die letzten Erfahrungen in Deutschland verharmlost wurden, etwa um eine späte Emigration zu rechtfertigen, oder im Gegenteil dramatisiert wurden, um die vermutete Erwartungshaltung der Empfänger, eine besonders dramatische und drastische Geschichte zu erzählen, zu befriedigen. Fulbrook nutzt diese Quelle aber bei aller Vorsicht mit Gewinn, zumal sie deren Schlüssigkeit vor dem Hintergrund ihrer Expertise beurteilen kann. Aus der großen Zahl von mehreren hundert Einsendungen gelingt es ihr, gemeinsame Erfahrungs- und Erklärungsmuster zu definieren, die auf der Beschreibung konkreter Handlungen des nichtjüdischen Umfelds beruhen und subtile, komplexe, aber deutliche Veränderungen in den Verhaltensmustern gegenüber den deutschen Juden im Laufe der Vorkriegsentwicklung benennen – also bevor mit dem Kriegsbeginn die Vorbereitungen zur physischen Vernichtung des jüdischen Volkes begonnen hatten. Ganz anders die Quellen für die Zeit des Krieges. Hier handelt es sich überwiegend um Briefe und Tagebücher nichtjüdischer und nicht politisch Verfolgter, die ein breites Spektrum von Äußerungen aufweisen – von Entsetzen, Angst, Schadenfreude bis zu Mitgefühl, Schuldbewusstsein, Scham und überwiegend Gleichgültigkeit. Bis in die unmittelbare Nachkriegszeit dauern diese Haltungen an, wie die Selbstzeugnisse aus den 1940er-Jahren zeigen. Die Erkenntnis dessen, was geschehen war, was man hatte geschehen lassen, stellte sich erst allmählich ein, und das auch nur bei einer Minderheit der Deutschen, die sich ansonsten auf ihre eigene „Opfer“-Rolle besannen.
Im Mittelpunkt der Analyse steht nicht so sehr der mehr oder weniger explizite oder ausgeprägte Antisemitismus in der deutschen Bevölkerung, sondern die Frage, wie in einer Gesellschaft, in die die Mehrzahl der Juden voll integriert und assimiliert war, besonders in den Städten und sicher in Berlin, wo die Hälfte der deutschen Juden lebten – wie es in einer solchen Gesellschaft möglich war, die Rechte dieser Gruppe systematisch einzuschränken, ihnen die Staatsbürgerschaft zu entziehen und sie schließlich räumlich zu isolieren und „verschwinden“ zu lassen, ohne dass es zu nennenswertem Widerstand in der Mehrheitsgesellschaft kam. Die Harvard-Quellen sind hier besonders aufschlussreich, weil sie szenisch beschreiben, wie sich dieser Ausschluss vollzog; wie man schrittweise aus Freundeskreisen ausgeschlossen wurde; und wie anfangs die betroffenen Juden selbst aus Rücksicht auf ihre nichtjüdischen Freunde auf Besuche und Einladungen verzichteten. Ein solches Angebot, einmal angenommen, bedeutete in der Regel den Beginn des Abbruchs der Beziehungen auf Dauer.
So wie die Essayschreiber sich ein Stück weit in ihre deutschen Freunde und Nachbarn hineinzudenken versuchen, so geht Fulbrook darüber hinaus, indem sie – mit analytischer Schärfe – nicht nur die äußeren Bedingungen für diesen Ausschluss benennt, sondern vor allem die sozialen und psychologischen Mechanismen untersucht, die das Verhalten der Mehrheitsdeutschen steuerten. Ausgangspunkt ist immer eine konkrete soziale Situation: eine Einladung zur Hochzeit, ein Gruß auf der Straße oder in einem Café, der Verzicht auf Teilnahme an einer offiziellen Veranstaltung, die Kündigung einer Vereinsmitgliedschaft. Vieles vollzog sich vor oder außerhalb von staatlichen Regelungen oder Verboten. Nicht nur „arische“ Deutsche, sondern auch viele deutsche Juden glaubten zunächst daran, dass die Herrschaft der Nationalsozialisten von kurzer Dauer sein würde und es sich also bloß um vorübergehende Einschränkungen handeln werde, die ohne weiteres wieder zurückgenommen werden würden. Dabei ließen die nicht Betroffenen „arischen“ Deutschen den Zeitraum, in dem man noch unbehindert hätte protestieren oder sich nonkonform hätte verhalten können, ungenutzt. Dieser Zeitraum war allerdings extrem kurz, begannen die Nazis doch nach wenigen Jahren mit der „Verrechtlichung“ der antisemitischen Diskriminierung.
Mit Kriegsbeginn, und verschärft seit dem Überfall auf die Sowjetunion, änderte sich die Situation in zwei Richtungen: Einerseits wurden Millionen deutscher Soldaten Zeugen des Vernichtungskrieges besonders hinter der Ostfront; zum andern war die deutsche Bevölkerung zunehmend vom Krieg in der Heimat betroffen und mit dem eigenen Überleben beschäftigt, während zugleich Millionen Zwangsarbeiter unter ihnen lebten – zum Teil unter unmenschlichen Bedingungen – und Deportationen von Juden öffentlich sichtbar stattfanden. Für diese Zeit stehen zahlreiche Briefe und Tagebücher zur Verfügung, die Zeugnis davon ablegen, in welchem Ausmaß die beobachteten Kriegsverbrechen von den deutschen Beobachtern nicht unbedingt gebilligt, aber passiv bis gleichgültig hingenommen wurden.
Im Mittelpunkt von Fulbrooks Interesse steht die Mehrheit der deutschen Gesellschaft, und damit jene, die weder aktiv gegen noch ideologisch überzeugte Nazis waren, sich aber anpassten, opportunistisch handelten, die sich ihnen bietenden materiellen und Aufstiegsmöglichkeiten nutzten oder versuchten, ein unauffällig-unpolitisches Leben zu führen. Je länger diese Duldung anhielt, desto gefährlicher wurde der Widerstand und umso größer die Angst um sich selbst. Aber warum blieben die ersten Jahre ungenutzt?
Fulbrook geht es nicht um schlagwortartige Zuschreibungen, sie interessiert sich wirklich für die komplexen inneren Vorgänge der bystanders. Deshalb kann sie die kollektive Rede davon, dass man „nichts gewusst“ habe („innocence by ignorance“), nicht ernst nehmen. Vielmehr geht es ihr um den schnellen Wandel im gesellschaftlichen Bewusstsein, um die Selbst-Identifizierung als „arisch“, verbunden mit Statusbewusstsein der Sicherheit, im Gegensatz zu den Juden, deren Leben fortan unsicher und gefährdet war. Der sichere Status ließ sich weiter bestätigen durch die persönliche Beteiligung an der Ausgrenzung der gefährdeten Juden, sei es durch Kontaktvermeidung und -abbruch, durch die Verknüpfung dieser Ausgrenzung mit eigenem Statusgewinn, und schließlich durch die weitgehende Ausblendung der Juden aus dem sozialen Umfeld, schon bevor diese physisch „verschwanden“. „Auf einmal waren die weg“ – das war die stereotype Antwort in Oral-History-Interviews auf die Frage nach dem Schicksal jüdischer Nachbarn. Weniger primärer Antisemitismus als vielmehr massenhafte Gleichgültigkeit („indifference“) gegenüber dem Schicksal der Juden und die Bereitschaft, aus ihrer Verfolgung und ihrem „Verschwinden“ Nutzen zu ziehen, ermöglichten den Völkermord. Denn diese Gleichgültigkeit wirkte ja auch in Osteuropa angesichts der Massaker und Massenhinrichtungen, die niemandem verborgen blieben, der sich zu dieser Zeit dort aufhielt.
Bystanding erweist sich so als ein mörderisches Konzept, insoweit es den tatsächlichen Mördern erlaubte, ungestört zu agieren. Zugleich eignete es sich nach 1945 als Merkmal deutscher Unschuld, weil man ja nicht aktiv in das Morden involviert gewesen sei. Es ist ein großes Verdienst Mary Fulbrooks, wie es ihr durch eine Mikroanalyse von Szenen aus der Zeit der deutschen Gesellschaft 1933 bis 1945 gelingt, dieses große Versagen anschaulich und einleuchtend zu machen.