Die Studien dieses Sammelbandes behandeln die Brandenburger Wandlungsprozesse vor und nach dem ostdeutschen Systembruch von 1989/90, vor allem die mit dem Begriff „Transformationszeit“ umschriebenen Vorgänge seit 1990. Ihr thematisches Spektrum ist weit gespannt, der für den Band verwendete Begriff „Transformationszeit“ allerdings inhaltlich vage. „Transformation“ definieren die Herausgeber als „ergebnis- und zeitoffenen Systemübergang“. Das schließt vieles ein, ohne genauer bestimmt zu sein – ein generelles Problem des häufig und für verschiedene Geschichtsperioden verwendeten Terminus. Der Begriff „Transformation“ hat sich in den letzten Jahren vor allem für die Vorgänge nach dem Ende der SED-Diktatur und der DDR eingebürgert, deren Langzeitfolgen umso spürbarer und umstrittener werden, je größer der zeitliche Abstand zu ihnen wird. Die Rekonstruktion dieser bislang für Brandenburg wenig erforschten Vorgänge ist das Kernanliegen des Bandes.
Dafür verweisen die Herausgeber:innen einleitend auf die Konjunktur politik- und sozialwissenschaftlicher Forschungen zur „Transformationszeit“ der 1990er/2000er-Jahre, der die Geschichtswissenschaft erst später folgte. Meist bezogen sich diese Forschungen auf die Umgestaltung des deutschen Zweitstaates DDR und seiner Teilbereiche nach bundesdeutschem Muster insgesamt, seltener auf die Transformationsprozesse in den einzelnen „neuen Bundesländern“. Als dezidiert regionalgeschichtlicher Beitrag zur Forschung über die ostdeutsche Transformation seit 1989/90 beschreitet der Sammelband also über Brandenburg hinaus Neuland. Er ist aus einer Ringvorlesung hervorgegangen, die das Haus der Brandenburgisch-Preußischen Geschichte (HBPG) 2020/21 in Kooperation mit der Universität Potsdam und dem Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung (ZZF) begleitend zur HBPG-Ausstellung „Mensch Brandenburg. 30 Jahre. 30 Orte. 30 Geschichten“ veranstaltet hat.
Dem Band haften freilich auch die Probleme eines solchen Sammelbandes an. Seine thematische Breite ist zweifellos ein Vorzug. Sie birgt aber die Gefahr der Heterogenität. Die Herausgeber:innen haben das erkannt und gaben deshalb einige Leitfragen vor: erstens nach den Auswirkungen der Transformation auf die Menschen vor Ort, zweitens nach dem Spannungsverhältnis von Zäsur und Kontinuität, drittens nach der Erblast kommunistischer Herrschaft, viertens nach dem Umgang mit dem DDR- und SED-Erbe. Die Beiträger:innen sind diesen Leitfragen in unterschiedlichem Grade gefolgt, zumal sie freie Hand erhielten, ihre Beiträge inhaltlich, stilistisch und formal zu gestalten. „Die Pluralität der Perspektiven ist gewollt“, betonen die Herausgeber:innen. Seine Beiträge sind denn auch sehr verschieden – und von unterschiedlicher Qualität. Es fiel offensichtlich schwer, sie einander zuzuordnen und sie in eine überzeugende Struktur zu bringen. Der Band ist in drei Teile mit den allgemein gehaltenen Überschriften „politischer Neuanfang und wirtschaftliche Herausforderungen“, „gesellschaftliches Erbe und kulturelle Veränderungen“, „mediale Verarbeitung und kollektive Erinnerungen“ gegliedert; eine recht konventionelle Gliederung, die man ähnlich auch bei anderen Sammelbänden finden könnte.
Die mit „Systemwechsel in Brandenburg“ überschriebenen „einleitenden Überlegungen“ der Herausgeber:innen befassen sich mit dem „Aufstand gegen die SED-Herrschaft“ in den drei brandenburgischen Bezirken Potsdam, Frankfurt (Oder) und Cottbus 1989, mit dem Regime- und DDR-Ende, mit der „Transformationsgesellschaft“ der Übergangszeit, mit dem öffentlich umstrittenen „Fall Stolpe“ und mit den „Brandenburger Lücken“ im kritischen Umgang mit der DDR-Vorgeschichte. In Brandenburg wurden erst 2009/10 eine Enquete-Kommission und eine Landesbeauftragte zur Aufarbeitung der SED-Herrschaft eingesetzt, was für diesen zögerlichen Umgang bezeichnend sei. Die Einleitung skizziert zudem Vorgeschichte und Charakter des Sammelbandes. Und sie benennt Themen, bei denen sich keine geeigneten Bearbeiter:innen fanden und die mögliche Anschluss-Studien bilden könnten: ländlicher Wandel, Migrationsentwicklung, Rolle des Militärs, Architekturgeschichte.
Der Einleitung folgt im Teil 1 des Bandes zunächst ein vorzüglicher Essay des ZZF-Mitarbeiters Jens Gieseke über „Brandenburger Wege in die Demokratie“ zum Wandel der politischen Kultur von 1980 bis 1990. Nach Überlegungen zu „freien Wahlen als Befreiungstheorem“, zum Verbleib weltanschaulicher Sozialmilieus in der DDR und zum „kommunistischen Politikmodus“ befasst sich Gieseke mit den Repolitisierungs-Tendenzen der 1980er-Jahre als prägender Vorgeschichte der „friedlichen Revolution“ von 1989. Er verfolgt damit einen ähnlichen Ansatz wie das 2023 erschienene Buch „Tausend Aufbrüche“ von Christina Morina. Danach wendet er sich der Neuformierung der Politik im Land Brandenburg in den 1990er-Jahren zu. Abschließend geht er auf den umstrittenen „Brandenburger Weg“ ein – jenes Konzept der SPD-geführten Landesregierung, das auf möglichst breite, auch Funktionseliten der DDR/SED einschließende gesellschaftliche Integration abzielte und einen brandenburgisch-preußisch geprägten Regionalismus anbot. Ihm bescheinigt Gieseke, auch künftig ein Element gelingender Transformation sein zu können. Die drei weiteren Beiträge dieses ersten Teiles befassen sich mit der Rolle der Treuhandanstalt in Brandenburg und der als „märkisches Bischofferode“ bekannt gewordenen Privatisierung des Chemiefaserwerkes Premnitz (Marcus Böick und Wolf-Rüdiger Knoll), mit dem Westbrandenburger Handwerk (Ronny Grundig) und mit der Einkommensungleichheit in der Brandenburger Arbeitnehmerschaft (Christopher Banditt) vor und nach dem Systemumbruch von 1989/90.
Teil 2 des Bandes schließt fünf Beiträge ein: zu „Transformation und Aufarbeitung im Sport“ mit einer knappen Charakteristik der Brandenburger Sportlandschaft (Jutta Braun), zur rechtsextremen Jugendkultur der 1980er/90er-Jahre in Brandenburg (Christoph Schulze), zu Hausbesetzungen und Alternativkultur der 1990er-Jahre in den Städten Potsdam und Brandenburg (Jakob Warnecke), zum Wandel des Brandenburger kirchlichen Lebens vor und nach 1989/90 (Anke Silomon) und zur Umgestaltung der Potsdamer Hochschullandschaft (Lara Büchel / Dorothea Horas / Axel-Wolfgang Kahl). Dieser Beitrag ist mit gutem Grund noch einmal ausdrücklich mit „Ein Brandenburger Weg?“ überschrieben. Denn die Vorgänge, die 1991 zur Gründung der Universität Potsdam in dem bis dahin „universitätsfreien“ Brandenburger Gebiet führten, sind bis heute umstritten. Die Vorgänge und die DDR-Vorgeschichte der Potsdamer Universität waren mehrfach – vor allem 1993 und 2016 – Gegenstand heftiger Kontroversen. Dazu trugen drei Sachverhalte besonders bei, die der Beitrag vorzüglich herausarbeitet: (1.) der besondere „Brandenburger Weg“ der Hochschulpolitik mit dem (ersten) Brandenburger Hochschulgesetz 1991; (2.) die Gründung der Universität aus der Pädagogischen Hochschule Potsdam heraus unter Integration weiterer früher „systemnaher“ DDR-Einrichtungen – der Akademie für Staats- und Rechtswissenschaft Potsdam-Babelsberg und der Hochschule des Ministeriums für Staatssicherheit in Golm, von der allerdings nur technisches Personal und Liegenschaften übernommen wurden; (3.) die von bundesdeutscher Hochschulrahmen-Gesetzgebung abweichende Integration großer Teile des „akademischen Mittelbaus“ der Pädagogischen Hochschule, denen die Möglichkeit geboten wurde, zwischen dem Festhalten an ihren bisherigen – unbefristeten – DDR-Verträgen oder dem Abschluss neuer – befristeter – Verträge nach bundesdeutschem Hochschulrecht zu wählen.
Der letzte Teil 3 des Bandes umfasst vier Beiträge: eine Skizze zur Geschichte des Landessenders, der sich 1991 als „Ostdeutscher Rundfunk Brandenburg“ (ORB) konstituierte und erst 2003 zum „Rundfunk Berlin-Brandenburg“ (RBB) fusionierte, mit einer Analyse der DDR-Bezüge in seinen Fernsehprogrammen (Peter Ulrich Weiß und Nikolai Okunew); einen Überblick zur Brandenburger Museen- und Gedenkstätten-Landschaft seit 1990 (Irmgard Zündorf); einen Bericht über „arbeitsbiographische Transformationserfahrungen“ 2021/22 beim Aufbau des Industriemuseums am früheren Stahl- und Walzwerk-Standort Brandenburg (Marius Krohn) sowie ein abschließendes Interview des Mitherausgebers Peter Ulrich Weiß mit der Kuratorin der Ausstellung „Mensch Brandenburg“ und Band-Mitherausgeberin Florentine Schmidtmann über die kuratorischen Erfahrungen mit dieser – die Ringvorlesung und damit auch den vorliegenden Sammelband anregenden – Ausstellung.
Der Forschungsertrag des Sammelbandes und seiner einzelnen Beiträge fällt sehr unterschiedlich aus. Die Frage, welche Erträge regionale Untersuchungen über den jeweils vertiefenden Informationsgehalt hinaus für die Transformationsforschung erbringen, ist für die Themen seiner einzelnen Studien sehr verschieden. Am überzeugendsten sind sie dann, wenn sie die Brandenburger Besonderheiten in vergleichender Perspektive herausarbeiten: den im Band mehrfach angesprochenen „Brandenburger Weg“, die von den anderen „neuen Bundesländern“ abweichende SPD-geführte Regierungskoalition unter Manfred Stolpe, die späte kritische Aufarbeitung der DDR-Vorgeschichte. Es ist bedauerlich, dass sich für die ländlichen Wandlungsprozesse in einer ja immer noch stark ländlich geprägten Region wie Brandenburg kein Bearbeiter finden ließ – zumal ja gerade das Berlin-nahe ländliche Brandenburg und der Wandel seines sozialen Gefüges durch die Romane der Schriftstellerin Juli Zeh und die Chiffre „Unterleuten“ in den letzten Jahren stark in die Schlagzeilen geraten sind.