Cover
Titel
Öffentlichkeit als Waffe. Schmähschriften als Mittel des Konfliktaustrags in Kursachsen in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts


Autor(en)
Siegemund, Jan
Reihe
Konflikte und Kultur – Historische Perspektiven
Erschienen
Konstanz 2024: UVK Verlag
Anzahl Seiten
423 S.
Preis
€ 54,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Friedrich Huneke, Historisches Seminar, Leibniz-Universität Hannover

„Invektive: Beleidigung, Beschimpfung, Schmährede, Stichelei“1 – die Zahl der Ordnungsrufe im Deutschen Bundestag stieg im Jahr 2023 auf 51, mehr als in der ganzen Wahlperiode davor; die Pflicht sozialer Netzwerke zur Meldung von (populistischen) Hasspostings wurde mit einem Gesetz vom 3. April 2021 erhöht – wir scheinen in einem „Zeitalter der Schmähung und Herabwürdigung“2 in Räumen des Öffentlichen zu leben. Handelt es sich dabei nur um Oberflächenphänomene, oder liegen tiefergehende Konzepte der Invektivität zugrunde?3

Die vorliegende, exzellente mikrohistorische Fallstudie zum Konzept der Invektivität in der frühen Neuzeit kann somit Anschlussfähigkeit an fragwürdige Formen der Konfliktaustragung bis in die Gegenwart hinein beanspruchen und verdient vielfältige Aufmerksamkeit.

Die Arbeit geht aus einer Dissertation im Rahmen des Sonderforschungsbereichs (SFB) 1285 „Invektivität: Konstellationen und Dynamiken der Herabsetzung“4 an der Technischen Universität Dresden hervor. Auf einer transnationalen Ebene sei auch an das neu eröffnete Graduiertenkolleg „Ambivalente Feindschaft: Dynamiken des Antagonismus in Asien, Europa und dem Nahen Osten“ an der Universität Heidelberg und der Hochschule für jüdische Studien Heidelberg erinnert.5 Die Analyse von Konfliktgeschichten scheint aktuellen Bedürfnissen zu entsprechen, wie es auch ein Ausstellungsprojekt des SFB 1285 bereits 2023 zeigte.6

Siegemund konkretisiert den repräsentativen Anspruch seiner mikrohistorischen Methode, indem er in vier anschaulichen, konkreten Fallstudien aus Kursachsen im 16. Jahrhundert die soziale Verortung und Motive von Akteur:innen, die Einordnung der eingesetzten Medien in ihr Umfeld kommunikativer Prozesse und schließlich zeitgebundene Charakteristika herausarbeitet.

Das Anliegen der Monographie geht wie angedeutet über regionalgeschichtliche Forschung weit hinaus: Das Erkenntnisinteresse zielt auf die Erforschung frühneuzeitlicher Öffentlichkeit als gesellschaftlicher Instanz, auf Formen der Invektive als Mittel des öffentlichen Konfliktaustrags auf verschiedenen Konfliktfeldern, vom begrenzten juristischen Streit zwischen Bürger und Adligem bis zur Anfechtung der Landesherrschaft durch die Grafen von Mansfeld gegen den sächsischen Kurfürsten Christian I. Acht Illustrationen veranschaulichen die Fallbeispiele, deren zentrale Schmähschriften im Anhang in transkribierter Form mitgegeben werden.

Die vier untersuchten Fälle werden mit ebenso quellenkritischer Akribie wie kriminalistischem Spürsinn in tiefgreifenden Analysen entfaltet und einfühlsam erzählt. Sie reichen von den Schmähschriften des Heinrich Gratz, Bürger aus der Leipziger gehobenen Mittelschicht, welcher Nachbar:innen aus der Oberschicht wegen liederlicher Sitten dem öffentlichen Gespött preisgibt, über einen Standeskonflikt zwischen einem Bürger und einem Adligen in Dresden, des Weiteren zwischen dem Zwickauer Juristen Johann Offneyer, der zur Revolte gegen den vorgeblich korrupten Zwickauer Stadtrat aufrief, bis zum ebenfalls herrschaftsbezogenen Streit zwischen den Grafen von Mansfeld und der sächsischen Landesregierung (S. 74).

Phänomene der Herabsetzung kennzeichnen die Argumentationsstrategien der Akteure in allen vier Fällen des Quellenkorpus. Folgerichtig wird die These aufgestellt, dass Invektivität „einen zentralen Aspekt für ein angemessenes Verständnis von den Mechanismen und Dynamiken frühneuzeitlicher Öffentlichkeit“ darstelle (S. 18). Versteht man Invektivität als analytisches Konzept, so sind Akteure, Mittel, Kontexte sowie intendierte und erzielte Wirkungen kulturhistorisch zu kontextualisieren. Der Begriff führt verschiedene Akte der Herabsetzung von Personen zusammen; er verbindet kommunikative und inhaltliche Ebenen und ist als Mechanismus der Gesellschaftsformung zu befragen, denn er beruht auf Mustern des polemischen Zusammenspiels von Exklusion und Inklusion.

Siegemund konfrontiert diese konzeptionellen Grundgedanken des Konzepts der Invektivität mit Fragen zum Verständnis der frühneuzeitlichen Öffentlichkeit. Ist für das 16. und 17. Jahrhundert – so der Vorschlag von Körber7 – von fragmentierten Teilöffentlichkeiten auszugehen? Siegemund kommt auf der Basis seines zielführend zusammengestellten Korpus zu einem anderen Ergebnis: Die untersuchten Schmähschriften erreichen trotz meist ganz geringer handschriftlicher Verbreitung durch Gerücht und begleitende Handlungen eine breitere Öffentlichkeit; die Akteure handeln im Bewusstsein dieses imaginären, breiten Schauplatzes.

Da ist am gleichsam unteren Ende das Dresdener Fallbeispiel des Andreas Langener, der 1567 dem adeligen Tham Pflugk die Lieferung von Süßwaren zusagte. Es kam zu Unstimmigkeiten über Lieferung und Bezahlung, die nach unbefriedigend verlaufenden gerichtlichen Auseinandersetzungen – der adelige Pflugk erschien nicht persönlich – zu Schmähschriften führte, die Langener in der Dresdener Stadtgeographie an Orten der öffentlichen Aufmerksamkeit aufhing. Im Falle ausbleibender gerichtlicher Regelung drohte er Pflugk öffentlichen Ehrverlust an; die Schmähschrift erscheint als „weapon of the poor“ (S. 184) des Süßwarenhändlers gegen einen Adeligen, in dem die Öffentlichkeit als Schauplatz zur Durchsetzung von Recht gesucht wurde.

Komplexer erscheint das vierte Fallbeispiel, das hier noch skizziert werden soll. Im Herbst 1590 wurde in Artern in der Grafschaft Mansfeld, also im Kurfürstentum Sachsen, ein Schmähgedicht öffentlich. In dem „Colloquium“ betitelten Dialog wurde die Politik des Kurfürsten Christian I. von Sachsen scharf verurteilt, bis zur Drohung mit Aufruhr und Mord. In weiteren Schmähschriften wurden lokale Amtsträger, der Arterner Stadtrat sowie der Pfarrer des Ortes bedroht. Untersuchungen des Kurfürsten brachten mehrere Konfliktlinien zutage, die sich im komplexen Hintergrund verorten lassen: Der Kurfürst hatte gegenüber den Grafen von Mansfeld aufgrund ihrer hohen Verschuldung bereits 1570 eine Sequestration in Teilen ihres Herrschaftsgebiets durgesetzt, die ihnen nach und nach ihren Einfluss auf Verwaltung, Ämterbesetzung, Einnahmen und Jurisdiktion nahm. Der Streit um Herrschaftsrechte zog sich hin. Bis zum Eisleber Abschied von 1588 und darüber hinaus widersetzten sich Ämter dem Kurfürsten beziehungsweise vom Kurfürsten eingesetzten Oberaufsehern. Die Schmähschriften geben die Linien dieses Konflikts gegen den sächsischen Kurfürsten wieder. Erst nach dem Tod Christians I. im Jahr 1591 scheint die Verfolgung der Schmähschriften eingestellt worden zu sein. Akribisch arbeitet Siegemund verschiedene Motivstränge dieser Schmähschriftenkampagne heraus; seine Archivrecherchen lesen sich wie die Spuren eines Kriminalfalles: Da wird ein mutmaßlicher Verfasser, der zweifelhafte Pfarrer Johann Linsener, als Häftling in einem Bottich geheim zum Verhör gefahren, peinlich befragt – und später freigelassen, denn es scheint sich um eine Verwechslung mit einer anderen Person gehandelt zu haben. Eine Gesellschaft der Grafen von Mansfeld verspottet in einem Saufgelage vor den Toren der Stadt Artern Pfarrer und Magistrat – diese waren vom Kurfürsten eingesetzt worden, unter Missachtung der Herrschaftsrechte der Mansfelder Grafen. Schriftproben offenbaren die Fälschung von Akten und Briefen, davon kann sich der Leser anhand von Illustrationen exemplarisch selbst überzeugen.

Solche mikrohistorische Feinarbeit fügt der Autor wieder zu einordnenden Analysen zusammen, indem er konfessionelle und herrschaftliche Motive ebenso wie die Einbindung aller Stände der Gesellschaft in den Konflikt nachzeichnet. Die These einer epochentypischen Form von Öffentlichkeit der frühen Neuzeit, die über enge Grenzen von Stand und Handlungsfeldern hinweg nachzuzeichnen ist, kann Siegemund damit kenntnisreich belegen.

Der übersichtlich gegliederte Band ist lesefreundlich gestaltet und bei feiner Qualität der Analysen doch auch phasenweise spannend wie eine Abfolge historischer Kriminalfälle zu lesen. Die sinnvoll eingeschobenen Einführungen, Exkurse und Fazite hätten die Handlungsfäden allerdings gelegentlich ein wenig übersichtlicher darstellen können – vielleicht ein Hinweis für künftige Werke aus der Feder des Autors, der für diesen Forschungsbeitrag uneingeschränkte Anerkennung verdient.

Anmerkungen:
1 Renate Wahrig-Burfeind (Hrsg.), Wahrig Deutsches Wörterbuch, 8. Aufl., München 2008 (1. Aufl. 1978), S. 780.
2 Gerd Schwerhoff, Invektivität und Geschichtswissenschaft. Konstellationen der Herabsetzung in historischer Perspektive – ein Forschungskonzept, in: Historische Zeitschrift 311 (2020) 1, S. 1–36.
3 Schwerhoff, Invektivität, S. 2.
4 Vgl. SFB 1285 „Invektivität: Konstellationen und Dynamiken der Herabsetzung“, https://tu-dresden.de/gsw/sfb1285/forschung (29.12.2024).
5 Vgl. zum von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten Graduiertenkolleg „Ambivalente Feindschaft: Dynamiken des Antagonismus in Asien, Europa und dem Nahen Osten“: Ambivalent Enmity, https://ambivalentenmity.org/ (29.12.2024).
6 Lea Hagedorn / Marina Münkler / Felix Prautzsch (Hrsg.), Schmähung, Provokation, Stigma. Medien und Formen der Herabsetzung (Katalog zur Ausstellung des SFB 1285 vom 20.2. bis 23.4.2020 in der SLUB, Dresden), München 2023.
7 Siegemund zitiert auf S. 64f. Esther-Beate Körber, Öffentlichkeiten der Frühen Neuzeit. Teilnehmer, Formen, Institutionen und Entscheidungen öffentlicher Kommunikation im Herzogtum Preußen von 1525 bis 1618. Berlin 1998, S. 1–22, 12.

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