Cover
Titel
La Suisse et les Empires. Affirmation d’une puissance économique (1857-1914)


Autor(en)
Humair, Cédric
Reihe
Collection Focus 41
Erschienen
Neuchâtel 2024: Livreo-Alphil
Anzahl Seiten
176 S.
Preis
€ 14,00
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Philipp Horn, Historisches Institut, Universität Bern

Jene Teile der Schweizer Geschichte, die sich jenseits der Landesgrenzen abspielten, hatten in der Öffentlichkeit bis vor kurzem nur einen marginalen Platz – ganz zu schweigen von den imperialen Verflechtungen der Konföderation. Das hat sich inzwischen geändert. Im Jahr 2024 suchen gleich drei renommierte Schweizer Institutionen, das Landesmuseum in Zürich, das Musée d‘ethnographie de Genève und die ETH-Zürich mithilfe von Ausstellungen den Dialog über die Einbindung der Schweiz in koloniale und imperiale Projekte. Cédric Humair, Historiker an der Universität Lausanne, gibt diesem jüngsten Dialog mit seinem Buch „La Suisse et les Empires. Affirmation d’une puissance économique (1857-1914)“ einen historiographischen Impuls. Seine Überblicksdarstellung fokussiert auf wirtschafts- und diplomatiehistorische Aspekte der imperialen Verflechtung der Schweiz.

Von kleineren Kritikpunkten abgesehen gelingt dem Autor eine lesenswerte Studie zur transnationalen Geschichte des Landes. Humair zeigt anschaulich, wie sich die Konföderation im Untersuchungszeitraum durch diplomatische Manöver und dank wirtschaftspolitischer Entschlossenheit von der Schiedsrichterin Europas zur Koordinatorin der Globalisierung entwickelte. Im Verlauf von insgesamt zwanzig Kurzkapiteln geht er der Frage nach, warum ein Staat, der noch Mitte des 19. Jahrhunderts selbst von imperialen Expansionsgelüsten bedroht war, am Vorabend des Ersten Weltkriegs zu deren größten Nutznießern zählte.

In einem ersten Teil (Kapitel 1–5) beschreibt Humair die Konsolidierung der Schweizer Souveränität in den 1850er- und 1860er-Jahren. Mit der politischen Tektonik Europas verschoben sich in dieser Umbruchphase die Staatsgrenzen benachbarter Länder und nahmen neue Nationalstaaten in unmittelbarer Nähe Form an. Die Eigenständigkeit der Schweiz bildete sich in dieser Zeit in einem Wechselspiel aus politisch-ökonomischem Druck vonseiten der Nachbarstaaten und diplomatischen Manövern Schweizer Außenpolitiker. Letztere mussten beim Absichern der eigenen geopolitischen Position vor allem drei Faktoren berücksichtigen: Zum einen verlangten die transatlantischen Beziehungen der Schweiz mit Blick auf Großbritannien und die Vereinigten Staaten nach einer Neuausrichtung (Kapitel 2). Die Notwendigkeit dazu ergab sich, so Humair, durch eine strengere Zollpolitik der USA, dem ausbrechenden Sezessionskrieg, der Reglementierung der transatlantischen Auswanderung sowie dem sukzessiven Rückzug Großbritanniens aus der europäischen Festlandpolitik, wodurch es als „ange gardien de la nouvelle Suisse libérale“ (S.27) wegfiel. Zweitens stand die Schweiz unter wachsendem wirtschafts- und finanzpolitischem Druck des französischen Second Empires (Kapitel 1). Französische Banken versuchten in den 1850er- und 1860er-Jahren durch Investitionen in das Schweizer Eisenbahnnetz, die Kontrolle über den neuralgischen Punkt europäischen Warentransfers zu gewinnen. Gleichzeitig kam es durch die Einführung des Francs bzw. Frankens in der Schweiz auch zu einer monetären Verflechtung. Ein dritter Faktor bestand in der sogenannten Diskriminierungsklausel, die ausländischen, nicht-christlichen Staatsbürgern bis 1866 die Ansiedlung in der Schweiz untersagte. Als 1859 ein Handelsvertrag mit Persien an dieser Klausel scheiterte und sich die Möglichkeit ergab, durch ihre Abschaffung die Öffnung des französischen Marktes für Schweizer Produkte zu erreichen (Kapitel 5), gaben die Entscheidungsträger nach. Indem er die Außen- und Wirtschaftspolitik anhand dieser drei Faktoren analysiert, zeigt Humair, wie sich Innen- und Außenpolitik schrittweise in den Dienst der wirtschaftlichen Expansion Schweizer Unternehmen stellten.

Im zweiten Teil der Studie (Kapitel 6–10) diskutiert Humair die politische Kehrtwende zwischen 1871 und 1895. Nach der Niederlage Frankreichs im Deutsch-Französischen Krieg vollzog die Schweiz, so der Autor, eine sukzessive Loslösung von Frankreich hin zum Deutschen Reich. Humair bezeichnet diese Neuausrichtung der Schweizer Politik, ähnlich wie die Anbindung an Frankreich in den Jahren zuvor, als Gradwanderung zwischen politischer Autonomie und der opportunistischen wirtschaftspolitischen Anbindung an den stärksten Nachbarn. Dieser ambivalente Prozess war geprägt von außen- und innenpolitischen Spannungen, die sich an der Frage nach der Wehrfähigkeit der Schweiz (Kapitel 6), dem Bau des Gotthardtunnels unter Deutsch-Italienischer Ägide (Kapitel 7), dem liberalen Asylrecht (Kapitel 9) oder dem Zollkrieg mit Frankreich ab 1892 entzündeten (Kapitel 10). Parallel zu dieser Neuausrichtung vollzog sich auch ein Wechsel mit Blick auf europäische Migrationsdynamiken: Die Schweiz, so der Autor, wurde vom Auswanderungs- zum Einwanderungsland (Kapitel 8).

Im dritten Teil (Kapitel 11–14) zeichnet der Autor nach, wie es der Schweiz zwischen 1895 und 1914 gelang, sich vor dem Hintergrund der europäischen Blockbildung wirtschaftlich zu konsolidieren und die eigene Neutralität ideologisch und politisch zu fundieren. Staatliche Souveränität wurde dafür militärpolitisch robuster in Szene gesetzt. Diese Inszenierung ging Hand in Hand mit der Herausbildung eines offensiven außenpolitischen Selbstbewusstseins und -bildes (Kapitel 11). Die Schweiz verstand sich Humair zufolge um 1900 nicht länger als neutraler Kleinstaat, sondern als neutrale Macht („puissance neutre“, S. 97). Wirtschaftlich konnte die Eigenständigkeit auch durch den Rückkauf der Schienennetze von Frankreich und Deutschland und eine schrittweise monetäre Emanzipation von Frankreich erreicht werden (Kapitel 12). Gleichzeitig musste die nationale Binnenkohärenz gegen nationalistische Zentrifugalkräfte abgesichert werden. Diese, so der Autor, zerrten aufgrund der kulturellen und sprachlichen Pluralität der Schweiz an den deutsch-, italienisch- oder französischsprachigen Gesellschaftsteilen und wurden zur innenpolitischen Belastungsprobe (Kapitel 13). In ihrem Versuch, diese Herausforderung zu meistern, mobilisierten die politischen Entscheidungsträger zwischen 1895 und 1914 die nationale Öffentlichkeit mithilfe von Fremdenfeindlichkeit. Territoriale Integrität und Neutralität der Schweiz blieben nach Humair aber auch aus einem anderen Grund erhalten: Europa profitierte davon, sowohl hinsichtlich seiner inneren politischen Ordnung als auch mit Blick auf seine imperiale Expansion in andere Teile der Welt. Im ideologischen Projekt eines nationalstaatlich organisierten Kontinents – getrennt durch nationale Rivalitäten, zusammengehalten durch geteilte Überlegenheits- und Zivilisierungsfantasien – etablierte sich die Schweiz als internationale Schiedsrichterin und schließlich als Koordinatorin einer imperialistischen Globalisierung.

Im vierten und stärksten Teil des Buchs zeigt Humair, wie der Neutralität um 1857 und 1914 eine Doppelrolle beim Aufbau eines Schweizer Wirtschaftsimperiums zukam: Sie machte das Land zu einem attraktiven Standort für internationale Organisationen und multinationale Firmen, wodurch die Schweiz einen strategischen Punkt im von Europa dominierten Welthandel besetzte. Gleichzeitig hatte die Neutralität den Charakter einer imperialen Unverbindlichkeit. Sie erlaubte es der Schweizer Wirtschaft, im Schlepptau europäischer Imperialismen globale Produktionsketten und Absatzmärkte zu etablieren.

Man hätte sich gewünscht, der Autor hätte diesem vierten Teil einen prominenteren Platz eingeräumt. Tatsächlich liest sich „La Suisse et les Empires“ eher als transnationale Wirtschafts- und Diplomatiegeschichte der Schweiz als eine imperiale Verflechtungsgeschichte. Mit Blick auf den eher konventionellen Ansatz des Buchs lassen sich zwei weitere Kritikpunkte formulieren: Zum einen hätte das Werk an Vielschichtigkeit gewonnen, wenn es jüngere Ansätze der Schweizer Diplomatiegeschichte berücksichtigt hätte, die sich analytisch nicht so krampfhaft an den souveränen Nationalstaat klammern, wie manche Schweizer Politiker:innen an die Vorstellung vom helvetischen Sonderweg ohne Kolonien. Wie Harald Fischer-Tiné, Daniel Brückenhaus oder jüngst Anna Diem in ihren Arbeiten zeigen, war die Schweiz nicht nur Nutznießerin imperialer Politik.1 Um 1900 waren Städte wie Zürich oder Lausanne auch Anlaufziele für russische, ägyptische und indische Aktivist:innen, die von hier aus weltumspannende anti-imperiale Netzwerke knüpften. Die zweite Kritik richtet sich an eine Leerstelle im Text: Frauen kommen in „La Suisse et les Empires“ so gut wie nicht vor. Humairs Studie liest sich als Geschichte großer Männer. Durch die Berücksichtigung genderhistorischer Aspekte hätte es an Qualität gewonnen. Andreas Zangger hat beispielsweise auf die Rolle von rassistisch konnotierten Gendervorstellungen bei der Disziplinierung Schweizer Kaufleute und der ideologischen Straffung ihrer globalen Netzwerke hingewiesen.2

Von diesen Kritikpunkten abgesehen, stellt „La Suisse et les Empires“ eine gelungene Überblicksdarstellung Schweizer Wirtschafts- und Diplomatiegeschichte zwischen 1857 und 1914 dar. Cédric Humair fokussiert vor allem auf Vorstellungen von Neutralität und Souveränität der Schweiz als dem roten Faden, der für dieses Buch relevanten politischen Entwicklungen seit 1857. Gleichzeitig geht er gekonnt auf kontingente Momente und Brüche ein. Das Buch besticht durch dieses Wechselspiel aus Kontinuität und Kontingenz, aber auch durch sprachliche Klarheit, Prägnanz und Faktenreichtum – eine Kombination, die das Buch als Einstiegswerk in Schweizer Geschichte aus transnationaler Perspektive prädestiniert.

Anmerkungen:
1 Daniel Brückenhaus, Policing Transnational Protest. Liberal Imperialism and the Surveillance of Anticolonialists in Europe, 1905 – 1945, Oxford 2017; Anna Diem, Aussenpolitik im Innern. Ägyptische Exilanten, Zensur und Fremdenpolizei in der Schweiz 1910–1919, in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 74,1 (2024), S. 31–50; Harald Fischer-Tiné, The Other Side of Internationalism. Switzerland as a Hub of Militant Anti-Colonialism, c. 1910 – 1920, in: Patricia Purtschert / Harald Fischer-Tiné (Hrsg.), Colonial Switzerland. Rethinking Colonialism from the Margins, Basingstoke 2015, S.221–258.
2 Andreas Zangger, Patriotic Bonds and the Danger of Estrangement. Swiss Networks in Colonial South-East Asia, 1850 – 1930, in: Patricia Purtschert / Harald Fischer-Tiné (Hrsg.), Colonial Switzerland. Rethinking Colonialism from the Margins, Basingstoke 2015, S. 91–109, bes. S.99–104.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit infoclio.ch http://www.infoclio.ch/