Rainer Willmanns kürzlich erschienene Biografie über Ernst Haeckel bietet eine umfassende Darstellung des Lebens und Wirkens eines der einflussreichsten, aber auch umstrittensten Naturwissenschaftler des 19. Jahrhunderts. Auf anschauliche Weise vermittelt Willmann in seinem Buch nicht nur Haeckels Weltansichten, wissenschaftliche Errungenschaften und künstlerische Tätigkeiten, sondern auch seine persönliche Entwicklung und – vor allem – die historischen Kontexte, in denen er lebte und arbeitete.
Die Biografie beschreibt Haeckels Leben auf chronologisch-thematische Weise, indem sie seine wichtigsten wissenschaftlichen, künstlerischen und philosophischen Arbeiten den Lebensabschnitten sowie den zeitgenössischen politischen und wissenschaftlichen Ereignissen zuordnet. Willmann widmet sich auch Haeckels Vermächtnis, womit er keine einfache Aufgabe gewählt hat. Schließlich war und ist Haeckels Einfluss weitreichend, zum Beispiel mit seiner Popularisierung der Evolutionstheorie und der damit verbundenen Prägung von Begriffen wie Ökologie und Phylogenie, der Verbreitung einer monistischen Weltanschauung, der Inspiration des Jugendstils, der „psychischen“ Emanzipation von Frauen und vieles mehr.
Der erste Teil des Buches konzentriert sich auf die frühe persönliche Entwicklung Haeckels und beleuchtet seine Kindheit in Merseburg sowie sein bürgerliches Umfeld. Bereits während seiner folgenden Studienzeit wird in Briefen an seine Eltern und Studienkollegen Haeckels spätere intellektuelle und persönliche Herausforderung deutlich, einen Weg durch die zeitgenössischen, kontrastierenden Wissensausrichtungen der Naturphilosophie und des Materialismus zu finden. Die folgenden Kapitel strukturiert Willmann thematisch entlang der entscheidenden wissenschaftlichen Meilensteine von Haeckels Karriere: Nach Habilitation und der Veröffentlichung seiner „Radiolarien“ (1862) beleuchtet Willmann anhand seiner bedeutenden Schriften „Generelle Morphologie der Organismen“ (1866), „Natürliche Schöpfungsgeschichte“ (1868) und „Anthropogenie“ (1874) Haeckels Auseinandersetzung mit der Evolutionstheorie im Kontext der Veröffentlichung von Charles Darwins „On the Origin of Species“ (1859). Auch die (bildungs-)politische Einstellung Haeckels und seine Auseinandersetzungen mit seinem ehemaligen Mentor Rudolf Virchow werden in den Diskussionen über die Konsequenzen der Veröffentlichungen dieser Bücher behandelt.
Anhand der späteren Lebensabschnitte und Werke beleuchtet der Autor die philosophischen und künstlerischen Seiten Haeckels, die sich in den leidenschaftlichen Briefwechseln mit Frida von Uslar-Gleichen sowie die Veröffentlichung der Werke „Kunstformen der Natur“ (1899–1904), „Welträthsel“ (1899) und „Lebenswunder“ (1904) verdichten. In diesen Werken manifestieren sich Haeckels monistische Weltanschauung und sein Talent, die Natur detailliert wiederzugeben und so zu organisieren, dass sie als ästhetisch ansprechend empfunden wird.
Gegenüber früheren Biografien räumt Willmann Haeckels Forschungsreisen einen angemessenen Platz ein; sie waren für seine Entwicklung als Wissenschaftler, aber auch für seine monistische Naturanschauung und künstlerische Tätigkeiten von großer Bedeutung. Willmann berichtet nicht nur über die große Italienreise, sondern auch über Haeckels Reisen ans Rote Meer, nach Korsika, nach Algerien und die – bis dato besonders wenig beachtete – Russlandreise. Das letzte Kapitel des Buches namens „Haeckel nach Haeckel“ (S. 299–305) liefert einen guten Wegweiser in die umfangreiche und teilweise sehr voneinander abweichende Haeckel-Rezeption bis zum Jahr 2014 (die jedoch um die Entwicklungen der letzten zehn Jahre in der Haeckel-Forschung hätte erweitert werden können – zumal man anhand der Bibliografie erkennen kann, dass Willmann diese rezipiert hat).
Gleich zu Beginn seiner Biografie zitiert Willmann aus Robert J. Richards’ „The Tragic Sense of Life“ (2008).1 In dieser vor Willmanns Veröffentlichung zuletzt erschienenen Haeckel-Biografie hat Richards einen wichtigen Beitrag zur Differenzierung des Blicks auf Ernst Haeckel geleistet. Besonders im englischsprachigen Raum – und unterstützt von Autoren wie Richard Weikart und Stephan Jay Gould – leidet Haeckels Ruf stark unter Vorwürfen des Rassismus und Antisemitismus.2 Diese Debatten folgten größtenteils auf Daniel Gasmans „The Scientific Origins of National Socialism“ (1971): Gasman vertritt in diesem Werk die Ansicht, Haeckel sei ein Wegbereiter des Nationalsozialismus gewesen.3 Diese Hypothese ist jedoch von Richards und anderen Wissenschaftshistorikern teilweise widerlegt, teilweise als eindimensional charakterisiert worden.4 Gasmans Werk wird jedoch noch unreflektiert in diversen und auch etwas neueren Zeitschriftenartikeln herangezogen, wenn Rassismus und Kolonialismus – wie heute oft und auch berechtigt – erforscht und thematisiert werden.5 Für eine historisch valide Beschreibung von Leben und Wirken des Wissenschaftlers Haeckel sind aber Kontextualisierungen und Differenzierungen notwendig.
Mit solchen Differenzierungen und der offensichtlichen Bewunderung des Werkes von Richards kann es zunächst so wirken, als trete Willmann in Richards’ Fußstapfen, um Haeckel vor diesen Vorwürfen zu schützen (Richards’ Biografie scheint manchmal sehr verteidigend).6 Willmann versucht mit seiner Biografie aber etwas anderes: In einem zurückgenommenen Ton schildert er Haeckels persönliche Lebensumstände und die historischen Kontexte. Bei kontroversen Themen differenziert er immer wieder zwischen heutiger Ethik, den damaligen wissenschaftlichen Erkenntnissen und Haeckels historischer Lebenswelt. Wie Willmann selbst hervorhebt, „bleibt [es] trotz mancher Richtigstellungen für die Leserinnen und Leser der vorliegenden Biografie Spielraum genug, sich anhand von Haeckels manchmal ausführlich wiedergegebenen Äußerungen ein eigenes Urteil zu bilden“ (S. 306).
Willmann profitiert in seinen Differenzierungen und Kontextualisierungen von Haeckels Aussagen stark von dessen umfangreichem Briefwechsel, der derzeit von einem Forschungsteam an der Friedrich-Schiller-Universität Jena sorgfältig ausgewählt und transkribiert wird.7 Durch diese Briefe und die historischen Einordnungen erfahren die Leser:innen, wie Haeckel seine Positionen zu verschiedenen historischen Ereignissen änderte. Ein Beispiel hierfür ist seine Haltung zu Bismarck: Anfangs war Haeckel kein Anhänger des preußischen Ministerpräsidenten und kritisierte ihn besonders in den Jahren nach dem Deutsch-Dänischen Krieg (1864); in den 1870er-Jahren wurde er jedoch zu dessen Verehrer, wie viele Zeitgenossen nach der Reichsgründung 1871 (S. 152, 158–159). Haeckel zeigt sich somit in vielerlei Hinsicht als Spiegel seiner Zeit – und wenn nicht als Spiegel, dann zumindest als ein Mensch, der sich bewusst zu den historischen Ereignissen und neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen äußerte und auf diese reagierte. Eine solche Spurensuche nach der chronologischen Entwicklung seiner Ansichten hat das Potenzial, mehr Klarheit über die von Forschenden als ambivalent oder widersprüchlich empfundenen Aussagen Haeckels zu erlangen und damit sein Vermächtnis besser zu verstehen.8 Wie Willmann erwähnt und allgemein anerkannt ist, veränderten sich auch einige von Haeckels wissenschaftlichen Hypothesen, was beispielsweise die ständig modifizierten Menschenstammbäume in den verschiedenen Ausgaben der „Natürlichen Schöpfungsgeschichte“ zeigen (vgl. S. 231–236).
Als besonders positiv und interessant für Wissenschaftshistoriker:innen, die sich erstmals mit Haeckel befassen, ist hervorzuheben, dass Willmann sich nicht scheut, die Kritik an und Literatur zu Haeckels Leben und Werken aus den letzten zwanzig Jahren zu diskutieren und gelegentlich auch konträre Positionen einzunehmen. Dies zeigt sich beispielsweise in seinen Diskussionen mit Forschern wie Christoph Kockerbeck und Bernhard Kleeberg, welche die Ansicht vertreten, dass Haeckel die kühne These aufstellte, menschliche Kunst und organische Formen demonstrierten denselben schöpferischen Kunsttrieb (S. 250). Willmann verdeutlicht stattdessen, dass Haeckel „eine Konvergenz beider Produkte“ hervorhob (ebd.). So bietet er Klarheit über den aktuellen Forschungsstand zu den verschiedenen Bereichen von Haeckels Lebenswerk, hebt aber auch – ganz dezent – seine eigenen Einschätzungen hervor. Dies ist jedoch für die Leser:innen bei der Lektüre keineswegs hinderlich. Durch die chronologische Erzählweise mit thematischen Einschüben und die sorgfältige Einbettung in den historischen Kontext liest sich das Buch auch gut für Interessierte, die nicht direkt im Thema sind. Dies gilt auch für Leser:innen, die – wie die Rezensentin – nicht aus einem deutschsprachigen Land kommen.
Etwas künstlich platziert wirkt Willmanns Kapitel zu Haeckels Verständnis des „Menschen als Teil der Natur“ (S. 255–256). Es ist das kürzeste in der gesamten Biografie und wurde möglicherweise aufgrund seiner Relevanz für die aktuellen Diskussionen über Klima- und Umweltkrisen eingefügt. Andere thematische Kapitel im Buch sind deutlich länger: „Rassismus und die Vielfalt des Menschen“ (S. 218–242), das ebenfalls aktuelle Relevanz besitzt, ist vierundzwanzig Seiten lang und behandelt ausführlich die Kontroverse um Haeckels Ansichten zur Entstehung und Vielfalt der Menschenformen sowie seine abwertenden Positionen gegenüber verschiedenen Ethnien. Man fragt sich aber, warum dem Thema „Menschen als Teil der Natur“ nur zwei Seiten gewidmet sind. Im Kapitel werden keine aktuellen wissenschaftlichen Diskussionen erwähnt; Willmann zitiert sich selbst, Haeckels Briefe und Werke, zeitgenössische Quellen und einen Zeitungsartikel aus der „Welt“ von 2017.9 Sollte die prominente Stellung dieses Kapitels eine Aufforderung an andere Forschende sein, sich intensiver mit diesem Thema und Haeckel zu beschäftigen, vielleicht insbesondere im Rahmen des Anthropozäns? In diesem Fall hätte eine Erwähnung von Haeckels Konzept des „Anthropozoischen Zeitalters“ eine gute Ausgangsposition für ein längeres und umfassenderes Kapitel sein können, da erste Forschungsansätze hierzu bereits vorliegen.10 Haeckel war der erste Wissenschaftler, „der den Begriff des Anthropozoischen Zeitalters verwendete, um auf die zerstörerischen Auswirkungen des Menschen auf den Planeten hinzuweisen“.11
Willmanns Biografie bietet eine notwendige Aktualisierung der Haeckel-Forschung, sowohl hinsichtlich seines privaten als auch seines öffentlichen Lebens. Außer allgemein interessierten Leser:innen ist sie besonders für Personen zu empfehlen, die sich wissenschaftlich zum ersten Mal mit Haeckel und seinem biologischen, künstlerischen und freidenkenden Umfeld beschäftigen möchten. Angesichts der bereits erwähnten Diskrepanz zwischen der deutsch- und englischsprachigen Forschungsliteratur und Wahrnehmung Haeckels wäre eine Übersetzung ins Englische ebenfalls wünschenswert.
Anmerkungen:
1 Robert J. Richards, The Tragic Sense of Life. Ernst Haeckel and the Struggle over Evolutionary Thought, Chicago 2008.
2 Vgl. Stephan Jay Gould, Abscheulich! (Atrocious!). Haeckel’s Distortions Did Not Help Darwin, in: Natural History, 190 (2000) 2, S. 42–49; Richard Weikart, From Darwin to Hitler. Evolutionary Ethics, Eugenics, and Racism in Germany, New York 2004, S. 105–110.
3 Daniel Gasman, The Scientific Origins of National Socialism. Social Darwinism in Ernst Haeckel and the German Monist League, London 1971, S. XXVII.
4 Vgl. Richards, S. 269–276, 448–451; Paul Weindling, Social Darwinism as Disputed Legacy. Divergences over Ernst Haeckel under National Socialism, in: Thomas Bach u.a. (Hrsg.), Haeckels ambivalentes Vermächtnis, Halle an der Saale 2023, S. 101–125.
5 Perry Myers, Monistic Visions and Colonial Consciousness. Ernst Haeckel’s Indische Reisebriefe, in: Seminar. A Journal of Germanic Studies, 44 (2008) 2, S. 190–209, hier S. 199.
6 Vgl. Richards, S. 500–512.
7 Thomas Bach, Das Projekt, in: Ernst Haeckel (1834–1919). Briefedition, https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/project (04.08.2024).
8 Vgl. Thomas Bach u.a., Einleitung, in: Haeckels ambivalentes Vermächtnis, Halle an der Saale 2023; Isabella Maria Engberg, The Discrepancies of the “Anthropozoic Age“ in Ernst Haeckel’s Indische Reisebriefe (1882), in: German Life and Letters, 76 (2023) 4, S. 465–486.
9 Michael Pilz, Selbst ist die Schöpfung, in: Die Welt, 21.10.2017.
10 Haeckel war jedoch nicht die erste Person, die den Begriff des Anthropozoischen Zeitalters benutzte. Vgl. Ulrich Kutschera / Steve Farmer, Ernst Haeckel, Ancient Forests, and the Anthropocene, in: Plant Signaling & Behavior, 15 (2020) 2.
11 Ebd. (Übersetzung durch die Rezensentin).