Erreicht der Besucher oder die Besucherin im kürzlich eröffneten Nationaal Holocaustmuseum in Amsterdam den zweiten Stock und den Ausstellungsteil „Das Morden beginnt“1, sieht er oder sie eine großflächige Bild- und Karteninstallation, die überblicksartig die Dimensionen der Verbrechen an den europäischen Juden und Jüdinnen zwischen 1939 und 1945 erklärt. Darin ist für einen kurzen Moment ein Schwarzweiß-Foto zu sehen, das am 13. Oktober 1941 im nordukrainischen Dorf Myropil aufgenommen wurde und eine Frau und zwei Kinder im Moment ihrer Erschießung an einer Grube im nahegelegenen Wald zeigt.
Die Geschichte dieses Fotos und wer darauf zu sehen ist, hat die US-amerikanische Historikerin Wendy Lower in jahrelanger Recherche zu rekonstruieren versucht. Ihr daraus entstandenes Buch mit dem Titel „The Ravine“, in dem sie ihre Ergebnisse ebenso wie ihre Suche nachzeichnet, ist ein herausragendes Beispiel dafür, wie Historikerinnen und Historiker sich der Geschichte der Shoah nähern und wie sie darüber für eine breite Leserschaft schreiben können. Ausgehend von dem Foto aus Myropil gelingt es ihr in beeindruckender Weise, die Monstrosität der NS-Verbrechen an individuelle Biografien und einen einzelnen Ort zu binden. In ihrer Darstellung verdeutlicht sie einmal mehr, was wir über die Verfolgung und Ermordung von Juden und Jüdinnen in der sowjetischen Ukraine herausfinden können – und was wir nicht wissen und niemals wissen werden. Oder anders gesagt: „This book is about the potential of discovery that exists if we dare look closer. It is also about the voids that exist in the history of genocide.” (S. 20) Trotzdem – oder gerade deswegen – ist ihr Buch auch ein Plädoyer für eine umfassende, multiperspektivische Forschung (S. 176f.).
Lowers Arbeit mit der Aufnahme aus Myropil beginnt 2009 im Archiv des United States Holocaust Memorial Museum (USHMM), als ein Mitarbeiter es ihr vorlegte. Das Buch hat keine klassische Einleitung, sondern bietet zunächst eine Beschreibung des Fotos im Kontext von Bildern der Shoah als geschichtswissenschaftliche Quellen. Das Foto ist, so Lower, eine der wenigen bekannten Fotografien, die den Moment des Mordens selbst, die Täter und ihre Opfer zeigen (S. 4). Um sie zu identifizieren, reiste Lower in die Ukraine, durchforstete Unterlagen in diversen Archiven weltweit und befragte Menschen, die möglichweise etwas wissen könnten. Retrospektiv nimmt sie ihren Leser oder ihre Leserin dorthin mit, indem sie sich selbst als Ich-Erzählerin im Text positioniert. Diese Suche strukturiert sie narrativ anhand der einzelnen Bildelemente (die Opfer, die deutschen und ukrainischen Täter, die Landschaft, die abgebildeten Schuhe sowie das Foto selbst) und entwickelt daraus sechs Analysekapitel. Diese sind unterschiedlich lang und spiegeln auf einen Blick wider, wie viele Informationen Lower jeweils finden konnte. Wiederkehrend flechtet sie die Lebensgeschichte von Ludmilla Blekhman (1929–2015), der einzigen bekannten Überlebenden der Massaker in Myropil, ein, die stellvertretend für insgesamt etwa 960 Opfer zu Wort kommt. Hingegen kaum zu finden sind inhaltliche Vorgriffe, sodass das Buch spannend zu lesen ist. Dieser Stil macht es für ein interessiertes Publikum jenseits der Geschichtswissenschaft anschlussfähig.
Zunächst widmet sich Lower dem Dorf Myropil, einem von unzähligen Verbrechensorten in der Ukraine (Kapitel 2). Wechselseitig beschreibt die Autorin dessen jüdische Geschichte seit dem 17. Jahrhundert und ihre eigenen Erfahrungen und Wahrnehmungen während ihres Besuchs 2014. Dorthin kehrt sie zwei Jahre später zurück (Kapitel 6) und zeigt auf, dass einerseits die Verbrechen in Myropil und Umgebung nach wie vor unübersehbar sind, andererseits die Landschaft aber auch massiv verändert wurde. Sie wird damit ebenfalls zur Quelle (S. 120). Dies ist ein Beispiel, dass und wie die Autorin den allgegenwärtigen Anspruch einlöst, möglichst viele verschiedene Überbleibsel aus der Vergangenheit zu berücksichtigen und, soweit möglich, zu einem Gesamtbild zusammenzusetzen (z.B. S. 45, S. 64, S. 93).
Wie lückenhaft und schwierig aufzufinden die Überlieferung ist, wird in den weiteren Kapiteln zu den Ermordeten, den Tätern und dem Foto als Objekt deutlich. Der erste inhaltliche Abschnitt (Kapitel 3) rekonstruiert zunächst das Massaker im Kontext der ersten Phase des „Holocaust by Bullets“2 und die Identität der beiden auf dem Foto zu sehenden deutschen Täter, die Zollbeamte waren (Kapitel 3). Im Unterschied zu den ukrainischen Schützen (Kapitel 8) wurden sie nie für ihre Verbrechen belangt. Überraschend viel fand Lower über den Fotografen, die Kamera und die Überlieferungsgeschichte des Fotos heraus (Kapitel 4). Aufgenommen hatte es ein slowakischer Soldat, der sich später im Widerstand engagierte. Von ihm existieren vier weitere Aufnahmen des Massakers in Myropil (S. 70–72). 1958 beschlagnahmte der tschechoslowakische Geheimdienst die Abzüge und weitere Negative aus der Kriegszeit, die sich heute, sofern sie überliefert sind, in einem Archiv in Prag befinden. An dieser Konstellation zeigt sich einmal mehr die Vielschichtigkeit und Transnationalität der Verbrechen, die es auch bei der Erforschung zu berücksichtigen gilt.
Gleichermaßen erschreckend wie sinnbildlich für den „Holocaust by Bullets“ in der Sowjetunion und anderswo ist, dass Lower über die auf dem Foto zu sehende Frau und die beiden Kinder am wenigsten gesicherte Informationen herausfinden konnte (Kapitel 5, 7). Ein Großteil der Opfer in der Ukraine war und ist namentlich unbekannt, in Myropil sind es etwa die Hälfte (S. 99f.). Lower nennt sie „the missing missing“ (S. 141). Möglicherweise handelt es sich bei den Abgebildeten um Mitglieder der Familie Vaselyuk, vielleicht aber auch nicht (S. 101–103, S. 141, S. 151). An dieser Stelle fügt die Autorin Überlegungen ein zur Familie als wichtigstes soziales Gefüge, gegen das sich der Vernichtungswillen der Nationalsozialisten nicht zufällig richtete. Vielmehr war sie ein zentrales Element der NS-Ideologie. Dies ist eine der vielen Stellen, an denen die Autorin ihrer Leserin oder ihrem Leser eine Menge zum Nachdenken gibt. Eine weitere ist der abschließende Epilog, in dem es um das abgebildete Paar Schuhe geht. Verwaiste Schuhe sind eines der bekanntesten Symbole des Holocaust. Darauf greift auch Lower zurück und verdeutlicht damit nachdrücklich die Abwesenheit seiner Besitzerinnen und Besitzer.
Wendy Lower hat schon einige wegweisende Arbeiten zur Geschichte der Shoah in der Ukraine vorgelegt.3 Ihr neuestes Buch steht diesen nicht nach, im Gegenteil. Bemerkenswert ist nicht nur ihre Rechercheleistung und ihre Akribie, sondern auch ihr respektvoller Umgang mit den Ermordeten und die Art der Darstellung, die versucht, das Nichtvorstellbare in geschriebene Sprache zu fassen, die zugleich verständlich ist. Mit der wissenschaftlichen Brille gelesen, überzeugt einzig die Auslagerung von Hin- und Nachweisen in die Endnoten ohne konkrete Verweise im Text nicht, die sehr unübersichtlich sind und eine Nachnutzung erschweren. Generell ist aber zu hoffen, dass Lowers Buch – das bisher leider nur auf Englisch vorliegt – eine möglichst große Leserschaft inner- und außerhalb der akademischen Welt findet.
Anmerkungen:
1 Stephan Jaeger, Ausstellungsrezension zu: The Netherlands and the Shoah, Amsterdam 2024, in: H-Soz-Kult, 12.10.2024, https://www.hsozkult.de/exhibitionreview/id/reex-142711 (12.10.2024).
2 Zum Begriff siehe Patrick Desbois, Der vergessene Holocaust. Die Ermordung der ukrainischen Juden, Berlin 2009.
3 Um die wichtigsten Monografien zu nennen: Wendy Lower, Hitler’s Furies. German Women in the Nazi Killing Fields, London 2013; Ray Brandon / Wendy Lower (Hrsg.), The Shoah in Ukraine. History, Testimony, Memorialization, Bloomington 2008; Wendy Lower, Nazi Empire-Building and the Holocaust in Ukraine, Chapel Hill 2005.