Der Verfasser der zu besprechenden geradezu monumentalen Untersuchung, der Historiker Walter Sperling, wurde 1975 in Karaganda (Kasachstan) geboren – seine Großeltern waren als Deutsche 1941 von der Halbinsel Krim und aus dem Westkaukasus deportiert worden (S. 192) – und ist als Kind aus der UdSSR in die Bundesrepublik Deutschland emigriert. Die grundsätzlichen Forschungsfragen, die sich Sperling in neun Kapiteln plus Einleitung und Epilog stellt, gehen vom Charakter des Vielvölkerstaats Sowjetunion, von der Funktionsweise ihrer multinationalen Gesellschaft und dem „Miteinander der multiethnischen Gemeinschaften“ (S. 12) in den sowjetischen Städten aus. Konkret im Hinblick auf die „multiethnische Stadt Grosny“ im östlichen Nordkaukasus interessiert sich der Autor für „Lebenswege, Lebensstile, Lebensweisen und die materielle Welt“, die sich die alteingesessenen Stadtbewohner und die Zugewanderten anzueignen wussten (S. 18), sowie für das Gefälle und die Wechselwirkungen zwischen Stadt und Land. Zudem möchte Sperling erkunden, wie die multiethnische Bevölkerung im städtischen Raum Grosnys vor dem Hintergrund der sowjetischen Realität auch und gerade angesichts verschiedener Konflikte miteinander umging (S. 18).
Der Autor skizziert die Geschichte Grosnys, das aus einer vom russischen General Alexej Jermolow 1818 angelegten Festung hervorging (S. 20ff.). Jermolow war für seine brutalen „Strafexpeditionen“ gegen angeblich oder tatsächlich „aufständische Dörfer“ der Nordkaukasier berüchtigt (S. 29). Es ist zweifellos angemessen, das Vordringen des zaristischen Russlands in den Nordkaukasus in den Kontext der globalen Kolonialgeschichte zu stellen (S. 15f.). „Die Nordkaukasier“ waren vor der Ankunft der Russen „zweifelsohne keine genuinen Räuber“, als die sie von zahlreichen russischen und auch nichtrussischen europäischen Autoren des 19. Jahrhunderts oft dargestellt wurden; erst die Ansiedlung von Kosaken an der Terek-Linie führte zu einer Eigendynamik der Gewalt (S. 29). Die Ankunft der Eisenbahn und Funde von Erdöl in der Nähe von Grosny noch zur Zarenzeit veränderten das Leben dort grundlegend (S. 52). Unter den Sowjets wurden das Öl und seine Verarbeitung noch bedeutender als zuvor – konkret war es im Zweiten Weltkrieg und auch während des bald darauf folgenden Kalten Krieges unverzichtbar (S. 205f.).
Den Umstand, dass die Eliten des Nordkaukasus nach 1918 schließlich auf die Bolschewiki setzten beziehungsweise sich mit ihnen abfanden, erklärt Sperling damit, dass diese Eliten nicht in der Lage gewesen seien, alleine konkurrierende Warlords auszuschalten; zudem sei die von den Bolschewiki zugesagte nationale Autonomie attraktiv gewesen (S. 17). Anfang der 1920er-Jahre stand potenziell jeder tschetschenische Neuankömmling in Grosny im Verdacht, „ein Feind, wenn nicht gar Mitglied einer ganzen ‚Bande‘ zu sein“ (S. 113). In Grosny waren die sowjetischen Institutionen zwangsläufig viel präsenter als auf dem Land; somit wurden in der Stadt die traditionelle patriarchale Ordnung und die soziale Ordnung des Dorfes verstärkt infrage gestellt (S. 130).
Die sowjetischen Kampagnen für Requirierung, Kollektivierung und „Entkulakisierung“ der Landwirtschaft zu Beginn der 1930er-Jahre stießen (auch) im Nordkaukasus auf Widerstand. Moskau schickte die Armee nach Tschetschenien, um diesen zu brechen (S. 121f.). Im Zweiten Weltkrieg bombardierte die deutsche Luftwaffe Grosny. Hitler wollte das Erdöl des Kaukasus unter seine Kontrolle bringen, schaffte es aber bekanntlich nicht. Interessant (und wohl zutreffend) ist die Feststellung Sperlings, wonach das Sowjetregime „dieselben orientalistischen Klischees über den Kaukasus und seine Bewohner“ wie die deutschen Eroberer gepflegt habe (S. 168). Auf dieser „Grundlage“ ließ Stalin 1944 alle Tschetschenen und Inguschen nach Zentralasien deportieren (S. 178, S. 187ff.); dabei und in der Folge starb ein Viertel ihrer Gesamtpopulation (S. 196). Zur Kollaboration mit der Deutschen Wehrmacht in der UdSSR meint der Autor, dass weder die Völker des Nordkaukasus noch die (ebenfalls 1944 deportierten) Krimtataren „das Alleinstellungsmarkmal ‚Kollaborateure‘“ verdient hätten (S. 187).
Das „Tauwetter“ ab 1956 war im Nordkaukasus von der Rückkehr der deportierten Völker geprägt (S. 242ff.). Die aufgelösten autonomen Republiken – darunter Tschetscheno-Inguschetien mit der Hauptstadt Grosny – wurden wiederhergestellt. Dagegen opponierten die lokalen – russisch dominierten – sowjetischen Eliten vehement – tatsächlich hielten viele Russen die Deportation von Tschetschenen und Inguschen für berechtigt (S. 252ff., S. 274). 1958 kam es zum russischen „August-Aufstand“ gegen die aus der Verbannung eingetroffenen Tschetschenen, den erst nach Grosny geschickte sowjetische Militäreinheiten unterdrücken konnten (S. 268ff.). Im Januar 1973 hielten Inguschen in Grosny Demonstrationen gegen die Diskriminierung ihrer Nation ab (S. 292ff.), welche die sowjetischen Behörden – wenig überraschend – als „nationalistische Aktion“ brandmarkten (S. 303). In fast allen russischen und auch in vielen westlichen Darstellungen wird die massive russische Gewalt gegen Nordkaukasier – so der Kaukasuskrieg des 19. Jahrhunderts (S. 29ff.), ein Pogrom an Tschetschenen von 1905 (S. 83f.), die Deportationen 1944, die Ereignisse von 1958 und die Kriege ab 1994 – nur kurz erwähnt, „uminterpretiert“, relativiert oder verharmlost.
Gegen Ende der 1980er-Jahre explodierten die Kriminalitätsraten (auch) in Grosny, sodass die Unsicherheit im öffentlichen Raum massiv zunahm (S. 440ff.). Sperling untersucht den Zerfall der multiethnischen sowjetischen Gesellschaft während der von KPdSU-Generalsekretär Michail Gorbatschow initiierten „Perestrojka“ (Umbau) über viele Seiten hinweg. Auch und gerade in Grosny kam es zu einer „Politisierung des Nationalen in städtischen Räumen“ (S. 449). Ein vorläufiger Höhepunkt dieser Entwicklung trat im Spätsommer und Herbst 1991 ein, als der sowjetische Staat die Kontrolle über Tschetschenien und Grosny vollends verlor und der Luftwaffengeneral Dschochar Dudajew die Macht ergriff. Dies zeitigte massive Konsequenzen für die multiethnische Gesellschaft (S. 467). Die russische Bevölkerung verließ zu einem erheblichen Teil die Stadt und die ganze Republik. Der „multiethnische Alltag“ von Grosny war auf dem „sowjetischen Parteistaat gegründet“ gewesen – und dieser zerbrach (S. 490f.).
Nicht völlig neu, doch immer noch relevant ist die Erkenntnis, dass Boris Jelzin, Präsident Russlands 1991 bis 1999, versuchte, seine Macht mit „Symbolen der imperialen Nation“ zu konsolidieren (S. 509). So veranlasste er 1994 den ersten postsowjetischen Krieg gegen das separatistische Tschetschenien, der in den ersten drei Monaten allein in Grosny 27.000 zivile Tote forderte (S. 512). Für diese interessierten sich im Westen nur wenige – im Gegensatz zu Sperlings Behauptung, dass damals „jedem Nachrichtenkonsumenten […] die Ruinenstadt“ Grosny „ein Begriff“ gewesen sei (S. 514). Gleichgültigkeit und Passivität im Westen angesichts der beiden russischen Kriege in Tschetschenien waren im Rückblick auch deswegen verhängnisvoll, weil sich damals in Moskau der Eindruck herauszubilden und zu verfestigen begann, dass sich der Westen auch bei noch so vielen zivilen Opfern nicht engagieren werde – was in letzter Konsequenz dazu führte, dass Putin die Entscheidung traf, die Ukraine seit dem 24. Februar 2022 mit einem Großangriff zu zerstören.
Immer wieder verfolgt Sperling die Karrieren von für Grosny bedeutenden Funktionären. Er behandelt/erwähnt auch Architektur und Stadtplanung, Film und Fotografie (S. 235ff.), Kleidung (so unter anderem das Kopftuch islamischer Frauen, S. 340ff.; Herrenhüte, S. 354ff.) und sogar die ersten Misswahlen in Grosny 1988 (S. 408ff.) als Quellen von historischer Forschung und Erkenntnis. Sperling stützt sich auf eine sehr breite Grundlage, von der über 1.300 Anmerkungen auf 100 (!) Seiten plus fast 40 Seiten Literatur- und Quellenverzeichnis zeugen. Zudem verwertet er zahllose persönliche Erlebnisse und Eindrücke aus Grosny selbst (S. 333) sowie Interviews mit Vertretern der tschetschenischen Diaspora in Wien, Paris und New York. Ihm wurden sogar Einblicke in verschiedene Privatarchive gewährt, bis hin zu Familien-Fotoalben.
Bei einem so umfangreichen Werk kann es aber kaum ausbleiben, dass sich auch frag- und diskussionswürdige Punkte ergeben. So heißt es gleich zu Beginn, dass „die Nation […] ein Mythos“ sei (S. 11). Was ist ein Mythos in diesem Kontext genau? Das zu bestimmen wäre sehr wichtig gewesen, weil in der Folge ständig und in verschiedenen Zusammenhängen (Schaffung von Nationen durch die Sowjets, Nationalitätenkonflikte etc.) von „der Nation“ beziehungsweise „Nationen“ die Rede ist. Zentral ist der Hinweis, dass für Lenin und Stalin Nationen „keine Konstrukte“, sondern „nicht hintergehbare Tatsachen“ (S. 111) waren.
Die Oktoberrevolution 1917 sei, so Sperling, eine „in ihrem Anspruch antiimperiale Veranstaltung“ gewesen, das Selbstbestimmungsrecht der Nationen für die Bolschewiki „nicht Floskel, sondern Glaubenssatz“ (S. 12). Doch stellten die Bolschewiki das 1917/18 zerfallene russische Imperium durch ihren Sieg im Bürgerkrieg faktisch wieder her (wenngleich nun unter sowjetischen Vorzeichen) – und betraten sofort eine neue, eigene Ebene des Imperialismus, indem sie keinen Zweifel an ihrer Absicht ließen, das Sowjetsystem weiter zu verbreiten (mit dem Ziel einer „Weltrevolution“). Zwar ist nicht zu bezweifeln, dass die Sowjetunion eine eigene „multiethnische Zivilisation“ war (S. 18). Allerdings sind solche Feststellungen ohne Hinweis auf den insbesondere seit Beginn der 1930er-Jahre ständig zunehmenden staatlichen Druck auf die nichtrussischen Völker, sich an die russische Sprache, Kultur etc. so weit wie möglich zu assimilieren, unvollständig. Der Autor erwähnt zwar die russische Sprache als „Herrschaftsinstrument“, schreibt diese Wahrnehmung aber Historikern des „nationalen Widerstandes“ im Nordkaukasus zu (S. 313). Und an manchen Stellen (zum Beispiel S. 291) stellt sich die Frage, ob Sperling die sowjetische „Völkerfreundschaft“ nicht doch zu sehr idealisiert beziehungsweise den Russifizierungszwang gegen die nichtrussischen Völker auch im Nordkaukasus unterschätzt. Immerhin zeigt er sich des Umstandes bewusst, dass diese „Freundschaft“ in Tschetscheno-Inguschetien als „Farce“ erschien – „als Feigenblatt einer neoimperialen Politik“ (S. 306).
Dazu kommen zahlreiche weitere Fragen. So schreibt Sperling, dass die Bolschewiki nicht in der Lage gewesen seien, „ihren totalen Machtanspruch in der heterogenen, ethnisch wie kulturell vielschichtigen Gesellschaft durchzusetzen“ (S. 145). Darüber hätte man gern mehr gewusst: Warum war das so? An Bemühungen zur Realisierung dieses Anspruches hat es den Sowjets nachweislich nicht gemangelt. Es ist auch nicht erkennbar, wann in der westlichen Berichterstattung über den Kaukasus ein „antikoloniales Narrativ“ bestimmend gewesen wäre (S. 33). Im Gegenteil ließ man sich in den Medien, der Politik und auch den Sozialwissenschaften des Westens (bis hin zu den USA) – und zwar auch angesichts der beiden postsowjetischen russischen Militärinterventionen gegen Tschetschenien ab 1994 – allzu leicht und oft von den Kreml-Narrativen „überzeugen“.
Ungenauigkeiten gibt es in der Behandlung der russischen Militärintervention gegen Georgien 2008, die Sperling als „Konflikt zwischen Georgien und Russland“ (S. 32) bezeichnet. Offenkundig faktisch falsch ist die Behauptung Sperlings, dass „die Südosseten“ 1989 ein „verfassungsgemäßes Anrecht auf politische Selbstbestimmung“ besessen und wahrgenommen hätten (S. 429): Im Gegenteil schlossen die Verfassungen der UdSSR und der Georgischen Sowjetrepublik eine unilaterale Aufwertung eines Autonomen Gebiets zur Sowjetrepublik eindeutig aus. Unterkomplex ist der Ansatz Sperlings, den nationalistischen georgischen Präsidenten Swiad Gamsachurdia, der 1991 nur einige Monate lang – zweifellos sehr ungeschickt und kurzsichtig – amtierte, für das „Anzetteln des Bürgerkrieges“ in Georgien praktisch alleine verantwortlich zu machen (S. 502): Gewollt oder ungewollt spricht Sperling so die von Moskau manipulierten Ethnoseparatisten in Abchasien und Südossetien von jeder Schuld für die Unruhen und Kriegsereignisse von 1990 bis 1993 frei.
Der Autor bestreitet eine „allgemeine Diskriminierung“ von Nordkaukasiern in der späten Sowjetzeit, weil diese im Handel und im Versorgungswesen von Grosny „gut Fuß fassen“ hätten können (S. 384). Dieses Argument überzeugt freilich nicht wirklich: Von den Prozessen der politischen Entscheidungsfindung war man in diesen beiden Bereichen immer sehr weit entfernt. Die Annahme der Möglichkeit einer „wichtigen Rolle“ ausgerechnet Moskaus bei der „Gestaltung des Übergangs vom diktatorischen Autoritarismus Dudajews zu einer tschetschenischen Demokratie“ (S. 508) ist realitätsfern; Jelzin und dann Putin setzten ab 1994 beziehungsweise 1999 auf militärische Gewalt gegen Tschetschenien und interessierten sich nicht für Demokratie (oder „sogar“ Menschenrechte). Wenn Russland „müde von den zermürbenden Tschetschenien-Kriegen“ war (S. 393) – warum brach es dann sofort weitere Kriege vom Zaun, so 2008 gegen Georgien, 2014/22 gegen die Ukraine, 2015 in Syrien? Und schließlich: Ist es wirklich ernst gemeint, dass im Westen angesichts des russischen Großangriffs „alles Russische […] zur Disposition“ gestanden sein soll – „vom Gas und dem Öl bis zur Literatur und dem Ballett“ (S. 528)? Um dazu nur ein Beispiel anzuführen: Es kam nicht einmal ein „Boykott“ der bekannten Opernsängerin Anna Netrebko zustande, obwohl sie „Vertrauensperson“ Putins bei den russischen Präsidentenwahlen 2012 war und bei Veranstaltungen der Donezker sowie Lugansker Pseudo-Volksrepubliken in Erscheinung getreten ist.
Ungeachtet aller dieser Fragen und Probleme – die eine Neuauflage angehen könnte – liegt hier das Zeugnis eines ambitionierten Projekts vor, an dem der Autor sichtlich lange und mit großem Aufwand gearbeitet hat und das man insgesamt mit Gewinn studiert. Es handelt sich aber keinesfalls um eine Einführung in die Thematik, werden doch Kenntnisse der vorsowjetischen und sowjetischen Geschichte Russlands und konkret des Nordkaukasus vorausgesetzt.