Parlamente sind zentrale Schauplätze der Politik. Einige ihrer Gebäude zählen zu den berühmtesten Bauwerken der Welt. Sie sind Versammlungsort und Arbeitsplatz, oft auch historisches Monument sowie Anziehungspunkt für Reisende. Vor diesem Hintergrund überrascht es, dass Parlamente und ihre Architektur nicht stärker im Fokus des wissenschaftlichen Interesses stehen. Zwar gibt es über die bekanntesten Beispiele – den Westminster Palace in London, das Kapitol in Washington D.C. oder den Reichstag in Berlin – eine Vielzahl hervorragender Einzelstudien und Kataloge, die oft im zeitlichen Zusammenhang von Umbaumaßnahmen oder Neubauprojekten entstanden sind; zudem verfolgen anregende Analysen aus der politischen Theorie sowie der Rechtsgeschichte Deutungs- und Traditionslinien von der Frühen Neuzeit bis in die Gegenwart.1 Was bisher aber fehlt, ist eine systematisierende, international vergleichende Perspektive, die den jeweils nationalen Blickwinkel weitet und nach Gemeinsamkeiten, Unterschieden sowie Querverbindungen sucht. Genau an dieser Stelle setzt der Sammelband „Parliament Buildings“ an, der aus zwei Tagungen des University College London hervorgegangen ist und frei zugänglich im Internet abgerufen werden kann.2 Nach Auffassung der Herausgeberinnen – der Professorin für Architekturgeschichte und räumliche Gestaltung Sophia Psarra sowie der Politikwissenschaftlerinnen Uta Staiger und Claudia Sternberg – ist ihr Buch „weder eine zusammenhängende Geschichte noch ein umfassender Katalog der europäischen Parlamentsgebäude“, sondern „der erste maßgeschneiderte Band, der das breite Spektrum der Parlamentsbauten in Europa aus einer disziplinübergreifenden Perspektive untersucht“ (Einleitung, S. 12, eigene Übersetzung).
Konzeptionell gehen Psarra et al. davon aus, dass Parlamente mit der Architektur ihrer Gebäude ein Bild ihrer selbst entwerfen – und in der Folge wiederum diese räumliche, materielle und ikonographische Gestalt auf die Institution einwirkt, auch auf die Menschen, die darin agieren, und ihren Umgang miteinander prägt. Zudem wird beides – die nach außen sichtbare Architektur und die Praxis der Versammlung – auf vielen Wegen in die Öffentlichkeit getragen: durch Postkarten, Fernsehberichte oder die Selfie-Kultur der Gegenwart. Denn eine weitere Besonderheit von Parlamentsarchitektur ist, dass die Gebäude symbolisch für etwas Anderes stehen. Sie verweisen auf das abstrakte Prinzip der politischen Repräsentation, nach dem gewählte Abgeordnete stellvertretend für das Volk als demokratischen Souverän sprechen und entscheiden. Dabei kommt den Gebäuden und ihrer Symbolik eine Schlüsselrolle zu; sie seien, so Psarra, Staiger und Sternberg in der Einleitung, „key mediator“ (S. 3) zwischen Wählern und Gewählten im ständigen Austausch von Politik, Medien und Öffentlichkeit, ohne den Repräsentation nicht denkbar wäre. Im Kontext dieser Vergemeinschaftungsprozesse schließlich haben Parlamentsgebäude eine wichtige Funktion für die Herausbildung und Weitergabe kollektiver, insbesondere nationaler Identitäten. Aus diesem Grund such(t)en alle Parlamente – gleich ob sie in älteren Gebäuden tagen, die aus Zeiten monarchischer, feudaler oder kirchlicher Herrschaft stammen und für die parlamentarische Nutzung umgewidmet wurden, oder es explizite Neubauten sind – „a certain grandeur“ (S. 5).
Auf dieser theoretischen Grundlage setzen die 32 Einzelbeiträge des mit rund 160 Fotos und Grafiken reich illustrierten Bandes unterschiedliche Akzente. So rekapituliert der Politikwissenschaftler Philip Norton die Vis-à-vis-Sitzordnung von Regierungsmehrheit und Opposition im britischen Unterhaus als räumliche Verdichtung des Zweiparteiensystems sowie einer konfrontativen politischen Kultur. Ziel der Abgeordneten in Westminster sei es nicht, einen Konsens zu finden, sondern die Gegenseite zu übertrumpfen und die Debatte zu gewinnen. Zugleich ähnele das Mitte des 19. Jahrhunderts im historistischen Stil der Neogotik errichtete Gebäude einem „gentlemen’s club“. Räumlich begünstige das Innere des Gesamtkomplexes dadurch den informellen Informationsaustausch, auch mit Journalisten oder Lobbyisten; atmosphärisch unterstütze das Gebäude die Sozialisation der Abgeordneten zu einer Elite – durchaus im Widerspruch und in Ergänzung zum agonalen Setting des Plenarsaals. Dass dies inmitten viktorianischer Traditionsüberhänge „ein überwältigend männlich geprägter Raum“ (S. 141) sei, betont die Historikerin Mari Takayanagi. Sie hebt hervor, wie leicht Frauen in Westminster übersehen wurden und werden – und zwar nicht nur weibliche Abgeordnete, Besucherinnen oder Aktivistinnen, sondern noch viel stärker die ungezählten Haushälterinnen, Putzfrauen und Köchinnen, die seit Jahrhunderten zum parlamentarischen Service-Personal gehören. Auch die Anthropologin Emma Crewe schildert deutliche Hierarchien von Race, Class und Gender in Westminster, vor allem aber beobachtet sie, wie wichtig den Parlamentariern die räumliche und zeitliche Verdichtung von Politik im Unterhaus sei.3 Hin- und hergerissen zwischen Wahlkreis und Hauptstadt, Termindruck und dauernder Kommunikation auf diversen Kanälen, eröffne ihnen die Anwesenheit in Westminster den Zugang zu anderen Menschen mit (noch mehr) Einfluss. Darüber hinaus mache die spezifisch parlamentarische Struktur von Raum und Zeit Politik auch physisch und emotional erfahrbar.
Für Crewe erklärt dies, wieso in Großbritannien fast alle Abgeordneten an dem baufälligen Kasten am Themse-Ufer festhalten wollen, während andere Beiträge des Bandes diese Traditionsversessenheit als riskanten Anachronismus werten. Am deutlichsten wird dabei der Politologe Matthew Flinders. Seiner Ansicht nach bleibe die britische Politik im 21. Jahrhundert in einer „institutionellen Konfiguration gefangen“, die sich in historischen Gebäuden hinter hohen Mauern materialisiere (S. 96) – und das, obwohl die Öffentlichkeit dem Spektakel dort und den darunter liegenden Strukturen zunehmend verständnislos gegenüberstehe. Angesichts von anti-institutionellem Populismus, der Forderung nach mehr Partizipation sowie dem verbreiteten Eindruck, das britische Modell sei in der Krise, stelle der politische Wille, das Londoner Parlament in seiner althergebrachten Form zu erhalten und zu renovieren (für mehrere Milliarden Pfund), eine verpasste Chance dar. Anstelle des Westminster-Palastes, dessen Architektur „eine bestimmte Form der Politik (elitär, männlich, distanziert, aggressiv, feindselig) festigen und bewahren“ soll, könne man versuchen, so Flinders, ein „Gebäude zu schaffen, das eher den Grundsätzen und Werten des 21. Jahrhunderts (integrativ, partizipativ, transparent, vermittelnd) entspreche“ (S. 104). Derartige Neubauphantasien hält hingegen die Politikwissenschaftlerin Alexandra Meakin für utopisch und unrealistisch, weil die Bauherren-Entscheidungen über alle Renovierungsmaßnahmen – so wie bei den Baubeschlüssen im 19. Jahrhundert und nach dem Zweiten Weltkrieg – eben genau von den Abgeordneten getroffen würden, die „ihr“ Westminster affektiv wertschätzten, ja sogar liebten. Da der britische Parlamentarismus seine Legitimität generell stark aus der Geschichte ziehe, gehe es, so neben Meakin auch der beteiligte Architekt Paul Monaghan, beim „Restoration and Renewal“-Programm und allen aktuellen Planungen darum, das Bekenntnis zur Tradition zeitgemäß auszugestalten.
Auch wenn fast alle Beiträge in „Parliament Buildings“ geschichtliche Aspekte thematisieren, ist der Zugriff des Bandes nicht spezifisch historisch, auch nicht kunsthistorisch; am ehesten gilt dies noch für einen systematisierenden Literatur-Essay von Remieg Aerts und Carla Hoetink aus den Niederlanden. Vielmehr argumentieren die meisten Autorinnen und Autoren aus der fachlichen Expertise von Politikwissenschaft oder Architekturtheorie, insbesondere Raumordnung. Ausgesprochen innovativ ist dabei der Ansatz der Mitherausgeberin Sophie Psarra, die unter anderem die räumlichen Verhältnisse, Blickachsen und tatsächliche Durchlässigkeit anhand von Heat Maps und Datenvisualisierung analysiert. Indem sie so etwa die für Deutschland sprichwörtliche Transparenzarchitektur relativiert, macht sie außerdem deutlich, dass beim Blick auf Parlamentsgebäude weit mehr zu berücksichtigen ist als die Sitzordnung oder die Schauflächen im Plenarsaal – auch wenn es sich dabei natürlich um das Herzstück jedes Parlaments handelt.
Generell große Aufmerksamkeit widmen die meisten Beiträge aktuellen Entwicklungen und Plänen, neuen Technologien und Medien. Hinzu kommen vier Beiträge von aktiven Architektinnen und Architekten, die Neu- bzw. Umbaukonzepte aus Sicht der Praxis erläutern. Damit ist der gesamte Band stark von einem Gegenwartsstandpunkt aus konzipiert. Ironischerweise gilt das sogar für die gute Hälfte der Beiträge, in denen der Westminster-Palast im Mittelpunkt steht – und zwar gerade deshalb, weil rund um das britische Parlamentsgebäude und seine Baufälligkeit seit mehreren Jahren intensive Diskussionen und Planungen toben. Auch dies unterstreicht die schon in den 1990er-Jahren in Deutschland zu beobachtende Tendenz, dass Umzugs- und Umbaupläne zur wissenschaftlichen Befassung mit dem Thema anregen. In dieses Bild passen die im Zuge der britischen Devolution neu gebauten Parlamente in Schottland und Wales, die im Band von Benedetta Tagliabue und Ivan Harbour vorgestellt werden. Und so handeln weitere Beiträge mit nichtbritischen Themen von Parlamentsgebäuden in Bulgarien, Rumänien und Russland – thematisieren also den politischen Systemwechsel von der Diktatur zur Demokratie im Medium der Parlamentsarchitektur seit den Umbrüchen der Jahre 1989/91. Alles in allem gelingt es den Herausgeberinnen sowie den 32 Einzelbeiträgen, ein facettenreiches Panorama der Parlamentsgebäude in Europa zu zeichnen und – auf hohem Reflexionsniveau sowie mit starkem Bezug auf das erste Drittel des 21. Jahrhunderts – das interdisziplinäre Zusammenspiel von Politikwissenschaft und Architektur zur Geltung zu bringen, die stark auf Typenbildung und Visualisierung (etwa von Grundrissen und Raummustern) setzen. Dabei geht es den Herausgeberinnen nicht um einen Abschluss, sondern um die Einladung zum weiteren Nachdenken über die Faszination politischer Architektur in Europa.4 Ein Referenzwerk haben sie dafür geliefert.
Anmerkungen:
1 Siehe etwa Heinrich Wefing, Parlamentsarchitektur. Zur Selbstdarstellung der Demokratie in ihren Bauwerken. Eine Untersuchung am Beispiel des Bonner Bundeshauses, Berlin 1995; Deborah Ascher Barnstone, The Transparent State. Architecture and Politics in Postwar Germany, London 2005; Philip Manow, Im Schatten des Königs. Die politische Anatomie demokratischer Repräsentation, Frankfurt am Main 2008; Christoph Schönberger, Auf der Bank. Die Inszenierung der Regierung im Staatstheater des Parlaments, München 2022.
2 Siehe https://uclpress.co.uk/book/parliament-buildings/ (12.08.2024). Wegen der Corona-Pandemie fanden die beiden Tagungen im November 2020 sowie im Februar 2021 online statt. Programm, Abstracts und Videos gibt es unter https://www.parliamentbuildings.org.uk/conference/ (12.08.2024).
3 Vgl. Emma Crewe, An Anthropology of Parliaments. Entanglements of Democratic Politics, London 2021.
4 Vgl. die stärker geschichtswissenschaftlich und kunsthistorisch angelegte Tagung „Built Representation – Parlamentsarchitektur in Europa“ am 4./5. September 2024 in Düsseldorf: https://www.hsozkult.de/event/id/event-145680 (12.08.2024).