J. C. Häberlen: Beauty is in the Street

Cover
Titel
Beauty is in the Street. Protest and Counterculture in Post-War Europe


Autor(en)
Häberlen, Joachim C.
Erschienen
Milton Keynes 2023: Allen Lane
Anzahl Seiten
XIV, 492 S.
Preis
£ 23.37
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Kristoff Kerl, University of Copenhagen

Als Mitte April 2024 eine von der Ampelregierung eingesetzte Expert:innenkommission ihren Bericht zum Paragrafen 218 vorstellte und darin die Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen befürwortete, reagierten unter anderem konservative Politiker:innen und Vertreter:innen der katholischen Kirche mit vehementer Ablehnung. Die CSU-Politikerin Dorothee Bär sprach gar von einem „Dammbruch für unser Werteverständnis“.1 Diese gegenwärtige Auseinandersetzung reiht sich ein in eine gut fünfzigjährige Geschichte der leidenschaftlich geführten Kämpfe um das Thema „Abtreibung“, das von Feminist:innen in den 1970er-Jahren zum Gegenstand öffentlicher Debatten gemacht wurde.

Auch zahlreiche andere Anliegen, die verschiedene Protestbewegungen und Gegenkulturen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf die Agenda gesetzt haben, sind in gegenwärtigen gesellschaftlichen Diskussionen in Europa nach wie vor virulent. Vor diesem Hintergrund lassen sich über die Geschichte des Protests bedeutende Einsichten in das historische Gewordensein des Gegenwärtigen gewinnen. Dies verdeutlicht der Historiker Joachim C. Häberlen in seinem Buch, das sich auch als ein Plädoyer für linken Protest in der Gegenwart verstehen lässt. Darin wirft Häberlen Schlaglichter auf verschiedene Aspekte des linken und gegenkulturellen Protests – konservative und rechte Protestbewegungen und -formen sind nicht Gegenstand des Buches – und beleuchtet deren kurz- und langfristigen Effekte. Dabei legt er einen weiten Protestbegriff zugrunde, unter dem er beispielsweise auch Techniken der spirituellen und emotionalen Selbsttransformation oder Rap- und Technomusik subsumiert. Beleuchtet werden die verschiedenen Aspekte der Protestgeschichte primär anhand einzelner Fallstudien. Zeitlich nimmt das Buch den Zeitraum zwischen den 1950er-Jahren und 1989 in den Blick, wobei das Hauptaugenmerk auf den 1970er-Jahren liegt. Geografisch werden sowohl west- als auch osteuropäische nationale Kontexte beleuchtet.

Das Buch umfasst 15 Kapitel, die vier thematischen Komplexen zugeordnet sind. Im ersten Teil („Setting the Scene“), der zwei Kapitel beinhaltet und sich zeitlich in den 1950er- und 1960er-Jahren bewegt, beschäftigt sich Häberlen mit den frühen Protestkulturen und -bewegungen im Nachkriegseuropa. Dabei spannt er den Bogen von Rockern und Rock ’n’ Roll-faszinierten Jugendlichen, die die bundesrepublikanische Nachkriegsgesellschaft durch eine rebellische und auf „cool“ gestellte Lebensführung zum Tanzen bringen wollten, über die Situationistische Internationale um Guy Debord und Raoul Vaneigem und die Provos bis hin zur Formierung der sogenannten Gegenkultur, die sich in den späten 1960er Jahren herausbildete (Kapitel 1). Eine wichtige Etappe in der Geschichte des (radikalen) Protests bildeten die späten 1960er-Jahre.

Kapitel 2 beschäftigt sich mit 1968 in der BRD, Frankreich, der Tschechoslowakei und Italien. Während es in diesen Ländern – wie auch in zahlreichen weiteren – in den späten 1960er-Jahren zu radikalen und militanten Protesten kam, die die Gesellschaften in unterschiedlichem Ausmaß erschütterten und unter den Protestierenden für Euphorie sorgten, beschreibt Häberlen zudem die Besonderheiten, die „1968“ in den jeweiligen nationalen Kontexten ausmachte.

Die vier Kapitel des zweiten Teils („Forms of Protest“) fokussieren auf einzelne Protestformen. Der Terrorismus von Organisationen wie der Roten Armee Fraktion in der BRD und den Brigate Rosse in Italien, aber auch Straßenschlachten, die sich radikale Linke mit der Polizei lieferten, bilden den Gegenstand des dritten Kapitels. Eine gänzlich andere Strategie der Unterminierung der bestehenden Machtverhältnisse ist seit den 1960er-Jahren der Einsatz von Humor, der darauf abzielte, den Staat und seine Repräsentant:innen der Lächerlichkeit preiszugeben, wie sich beispielsweise an den Auftritten von Mitgliedern der Kommune 1 in Gerichtsprozessen zeigte (Kapitel 4). Kapitel 5 wiederum wirft Schlaglichter auf Theoriearbeit und Publizistik als Praktiken des Protests, während das sechste Kapitel „rebellischen Sounds“ und „utopischen Körpern“ (S. 145) nachgeht und in diesem Kontext die Subkulturen beleuchtet, die sich um Rockmusik, Punk, Techno und Hiphop herausbildeten.

Protestbewegungen und -kampagnen, die im Europa der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts Wirkmacht entfalteten, nimmt sich Häberlen im dritten Teil an („A Better Future. Movements and Campaigns“). In Kapitel 7 spürt er zum einen der im Zeitraum zwischen den 1960er- und 1980er-Jahren so bedeutsamen internationalen Solidarität nach. Zum anderen umreißt er den Aufstieg des sogenannten Humanitarismus, der, so Häberlen, seit dem Biafra-Krieg zunehmend an die Stelle der internationalen Solidarität trat und in den 1980er-Jahren zu Massenevents wie den von Bob Geldof organisierten „Live Aid“-Konzerten führte. (Migrantische) Kämpfe gegen Rassismus und Diskriminierung – der „wilde“ Streik bei Ford in Köln im Jahr 1973, die Kampagnen von Nordafrikaner:innen im Frankreich der frühen 1970er-Jahre und die „Rock against Racism“-Konzerte im UK – nimmt Häberlen im achten Kapitel in den Blick, um anschließend die Geschichte der Friedens- und Umweltbewegten zu skizzieren (Kapitel 9). Auch das Recht auf eine lebenswerte Stadt und auf bezahlbaren Wohnraum wurde in den 1970er-Jahren in zahlreichen europäischen Städten zum Anliegen unterschiedlicher Protestbewegungen (Kapitel 10). Den Abschluss dieses Parts wiederum bilden die eingangs erwähnten Kämpfe der feministischen Bewegung gegen Sexismus sowie die Aktionen homosexueller Menschen gegen Diskriminierung (Kapitel 11).

Der vierte und letzte Teil des Buches („A Better Life. The Here and Now“) setzt sich in drei Kapiteln mit Praktiken des Protests auseinander, die darauf abzielten, ein besseres Leben in der Gegenwart zu ermöglichen. Insbesondere in den Gegen- und Alternativkulturen strebten Menschen danach, durch die Neugestaltung des Alltagslebens den als entfremdend empfundenen Formen kapitalistischer Lebensführung zu begegnen. In diesem Kontext, so Häberlen, spielten insbesondere alternative Formen des Arbeitens, des Reisens und des Wohnens eine bedeutende Rolle (Kapitel 12). Aber auch mittels der Kultivierung neuer emotionaler Normen das beispielsweise der Kälte des Kapitalismus „Wärme“ und Zärtlichkeit entgegensetzte, zielten Menschen darauf ab, ihre Lebensrealität zu verändern (Kapitel 13). Darüber hinaus wurde seit den späten 1960er-Jahren auch der mit kapitalistischer Vergesellschaftung einhergehende Rationalismus zum Gegenstand von Kritik und mit einer Hinwendung zu Spiritualität herausgefordert (Kapitel 14). Im letzten Kapitel wirft Häberlen einen Blick auf den Zusammenbruch des sogenannten Ostblocks und richtet dabei den Fokus auf zentrale Akteursgruppen wie die Solidarność in Polen, Oppositionsgruppen wie das Neue Forum in der DDR und die Proteste und Aktivitäten von Studierenden und Gruppen wie dem Bürgerforum in der Tschechoslowakei.

Mit „Beauty is in the Street“ hat Joachim C. Häberlen ein gut leserliches und ein breiteres Publikum adressierendes Buch vorgelegt. Gekonnt gibt er einen Überblick über interessante Aspekte der europäischen Protestgeschichte, in der verschiedene Formen und Praktiken des Protests in unterschiedlichen nationalen Kontexten betrachtet werden. Die Auswahl der in dem Buch behandelten Protestformen und Akteursgruppen allerdings ist mitunter begründungsbedürftig. Beispielsweise überrascht es, dass die Ende der 1950er-Jahre im UK gegründete Campaign for Nuclear Disarmament in dem Buch fast keine Beachtung findet, obwohl sie für die Politisierung vieler dortiger Linker und Gegenkultureller von großer Bedeutung war. Ebenso ließe sich fragen, warum die Protestaktivitäten der sogenannten K-Gruppen keine Aufmerksamkeit finden; und genereller, ob ein Buch über linken Protest die Aktivitäten der „Alten Linken“ weitgehend unberücksichtigt lassen kann. Auch wäre es wünschenswert gewesen, wenn Häberlen den roten Faden des Buches stärker herausgearbeitet und übergeordnete Thesen formuliert hätte, um die einzelnen Kapitel argumentativ zusammenzuführen. Kritisch anzumerken wäre auch, dass Häberlen zu manchen von ihm behandelten Themenkomplexen wichtige Literatur außer Acht lässt.2

Abschließend lässt sich festhalten, dass das Buch insbesondere für solche Leser:innen großen Erkenntnisgewinn verspricht, die gerade anfangen, sich mit diesem Thema zu beschäftigen, und die nach einem Überblick linker Protestgeschichte suchen. Aber auch Leser:innen, die sich besser auskennen, werden das Buch wegen seiner thematischen und geographischen Breite mit Gewinn lesen.

Anmerkungen:
1 Unbekannt, Paragraf 2018: CSU stellt Unabhängigkeit der Kommission infrage, https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/150547/Paragraf-218-CSU-stellt-Unabhaengigkeit-der-Kommission-infrage (18.04.2024).
2 Im Unterkapitel zu alternativem Reisen etwa, um nur ein Beispiel zu nennen, lässt Häberlen wichtige Arbeiten unberücksichtigt. Vgl. unter anderem Sharif Gemie / Brian Ireland, The Hippie Trail. A History, 1957-78, Manchester 2017; Isabel Richter, Alternativer Tourismus in den 1960er und 1970er Jahren. Transkulturelle Flows und Resonanzen im 20. Jahrhundert, in: Alexander Gallus / Axel Schildt / Detlef Siegfried (Hrsg.), Deutsche Zeitgeschichte – Transnational, Göttingen 2015, S. 155–178; Detlef Siegfried, Alternative Dänemark. Kosmopolitismus im westdeutschen Alternativmilieu, 1965–1985, Göttingen 2023.

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