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Titel
Citizens and Sodomites. Persecution and Perception of Sodomy in the Southern Low Countries (1400–1700)


Autor(en)
Roelens, Jonas
Reihe
Crime and City in History
Erschienen
Anzahl Seiten
432 S.
Preis
€ 131,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Wolfgang Burgdorf, Historisches Seminar, Ludwig-Maximilians-Universität München

Jonas Roelens, seit 2018 Ph.D., lehrt in Gent Geschlechtergeschichte. Seine Dissertation über Sodomie in den südlichen Niederlanden wurde mit dem Erik Duverger-prijs ausgezeichnet, der alle zwei Jahre für ein archivbasiertes Werk zur niederländischen Geschichte vor 1900 vergeben wird. Jonas Roelens ist zudem Co-Autor von „Verzwegen verlangen. Een geschiedenis van homoseksualiteit in België“ (2017) und seit 2015 mit mehreren Veröffentlichungen zur Geschichte des gleichgeschlechtlichen Begehrens sowie seiner kulturellen und juristischen Einbettung in den südlichen Niederlanden des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit hervorgetreten.

Die Südlichen Niederlande waren von 1400 bis 1700 eine der Regionen Europas, in denen Sodomie am intensivsten verfolgt wurde. In der ersten umfassenden Studie dazu schildert Jonas Roelens die Verfolgung von Sodomie in den Städten: Brüssel, Mechelen, Ypern, Löwen, Gent und Antwerpen, Brügge und im Brügger Freiamt (Brugse Vrije). Roelens erläutert Gründe für lokale Unterschiede und Konjunkturen der Verfolgung. Zudem wird untersucht, wie Sodomie innerhalb der lokalen Kultur wahrgenommen und thematisiert wurde – eine umfassende Kulturgeschichte der Sodomie in den frühneuzeitlichen südlichen Niederlanden. „Citizens and Sodomites“ bietet mehr als eine Geschichte von Bürgern und Sodomiten. Auch gleichgeschlechtliches Begehren zwischen Frauen und seine zeitgenössische Thematisierung wird ausführlich gewürdigt und damit ein Desiderat (Unsichtbarkeit der Lesben in der Geschichte) behoben. Bereits 2015 widmete der Autor diesem Thema eine Pionier-Studie.1 Zudem wird die Situation in den südlichen Niederlanden mit anderen Regionen Europas verglichen.

Die Studie besteht aus drei großen Teilen. Im ersten Teil „Methodischer und diskursiver Rahmen“ geht es zunächst um die bisherige Geschichtsschreibung. Wichtig ist der Hinweis, dass sich Michel „Foucault über diskursive und institutionelle Praktiken“ äußerte, „nicht darüber, was die Leute wirklich im Bett taten oder was sie darüber dachten“ (S. 6). Dann wird Sodomie – im Sinne von gleichgeschlechtlichem Sex – als ein „urbanes“ Phänomen thematisiert, und es werden Quellen sowie Methodik vorgestellt, insbesondere juristische Quellen wie Anklageschriften, Gerichtsakten, Urteilssammlungen, Stadtchroniken, juristische, theologische und medizinische Traktate, die Schriften der Kirchenväter, Volkslieder, Memoiren, städtische Gerüchte, Klatsch und Verleumdungen. Die Vernichtung von Sodom und Gomorra ist hier ein Leitmotiv. Das apokalyptische Bild war fest in der kollektiven Vorstellungswelt verankert (S. 47). Roelens benutzt in der Regel die zeitgenössischen Begriffe: Sodomie, buggery, unnatürliche Sünde, stumme Sünde, peccatum mutum. Der Begriff Sodomie ist schwierig, weil er alles von Onanie, Kindesmissbrauch, Sex mit Tieren, mit Nichtchristen bis zur Nekrophilie subsumiert. Zwei Männer wurden verbrannt, weil sie Analsex mit ihren Frauen hatten (S. 244). 1542 wurde in Brügge eine Frau wegen Masturbierens verurteilt (S. 240). 1556 wurde in Brüssel eine Frau samt ihrem Schoßhund verbrannt, weil sie mit diesem Sodomie begangen habe (S. 240). 1559 wird ein Mann verurteilt, weil er seinen Hund penetrierte (S. 280). Während Sex mit Tieren (Bestialität) in Großstädten in den Quellen kaum Erwähnung findet, war auf dem Land ein Großteil der Sodomieprozesse diesem Phänomen gewidmet (S. 66). 1550 wurden in Brüssel zwei Frauen verurteilt, weil sie Sex mit Muslimen hatten (S. 242).

Der zweite Teil schildert die Zyklen in der städtischen Strafverfolgungspolitik in den südlichen Niederlanden im europäischen Vergleich. Beeindruckend ist das Kapitel zu „Fakten und Zahlen“. 207 Prozesse mit 406 Angeklagten und 252 Hingerichteten wurden untersucht. Die Verurteilungsrate lag bei 62,22 Prozent, in manchen Städten sogar bei 82 Prozent, in Portugal wurden nur 10 Prozent der Angeklagten verurteilt und nur 8 Prozent verbrannt, in Aragon 10,37 Prozent. Die Todesurteile der berüchtigten spanischen Inquisition waren viel seltener: In Barcelona 3 Prozent, in Valencia und Zaragoza 15 Prozent. Es fragt sich, ob die verhältnismäßig vielen Verurteilungen eine Folge von stärkerer Anwendung der Folter war? Dann wird „der Sodomit als Sündenbock“ verhandelt. Anlässe dafür gab es viele: Pest, Kriege, Fluten, die Verlandung des Zugangs zur Nordsee. Hier fehlt ein Hinweis auf die Ressourcenverknappung durch das Einsetzen der Kleinen Eiszeit. Am extremsten waren die Auswirkungen in Brügge, dem „Sodom des Nordens“. Keine Stadt in den Niederlanden, ja keine Stadt nördlich der Alpen, verurteilte zwischen circa 1400 und 1700 so viele Sodomiten wie Brügge (S. 103).

Hinsichtlich der sozialen Profile fällt auf, dass junge Sodomiten – anders als im mediterranen Raum – genauso hart bestraft wurden. Bürger konnten sich in der Regel von der Anklage freikaufen. Adlige wurden nur verurteilt, wenn politische Konflikte hinzutraten. Geistliche verkündeten seit den frühen Konzilen, die unaussprechliche Sünde gegen die Natur sei so grauenvoll, dass man nicht öffentlich darüber reden solle. Allein ihre Erwähnung würde nicht nur Mund und Ohren, sondern auch Wasser und Landschaft infizieren. Aber gerade Kleriker taten dies mit ihren apokalyptischen Warnungen durch die Jahrhunderte am lautesten (S. 23). Geistliche genossen zudem wie Adlige und einige andere Gruppen das Priviligium fori, d. h. sie waren der gemeinen Gerichtsbarkeit entzogen und durften nur vor eigenen Standesgerichten angeklagt werden. Die Urteile gegen Kleriker waren in der Regel sehr milde: Geldstrafen, Pilgerfahrten, Verbannung. Eine Ausnahme bildeten die aufsehenerregenden Sodomieprozesse in Gent und Brügge. 1578 kam es unter den calvinistischen Regimen zur Massenverbrennung von katholischen Bettelmönchen. Hier war der konfessionelle Konflikt entscheidend. Sodomieanklagen, bei denen städtische und herzogliche Obrigkeiten darum konkurrierten, ihre gottgefällige gute Regierungsführung zu demonstrieren, richteten sich besonders gegen unterbürgerliche Schichten und „Ausländer“ (S. 213). In der frühen Neuzeit war es üblich, Sodomie als ein Phänomen darzustellen, das im Ausland blühe und durch den Kontakt mit Ausländern die einheimische Gesellschaft infiziere. In Löwen waren 50 Prozent der Verurteilten Ausländer (S. 218), auch in den anderen Städten war ihr Anteil überproportional hoch. Auch hierzu hat Roelens eine eigene Studie vorgelegt.2 Auch bei den Fremden war der soziale Status für die Verurteilung entscheidend.

In den südlichen Niederlanden war fast jede zehnte wegen Sodomit angeklagte Person eine Frau. In anderen Teilen Europas finden wir nur vereinzelte Prozesse gegen weibliche Sodomiten. Zwischen circa 1400 und circa 1550 standen in 13 Sodomieprozessen 25 Frauen vor Gericht, 15 wurden hingerichtet. Darüber hinaus zeigt sich, dass die Strafen für Sodomie für Frauen ebenso streng wie für Männer waren. Die Sterberate von 60 Prozent entspricht ungefähr der Gesamtzahl der Hingerichteten (62,06 Prozent). Fast in ganz Europa herrschte ein phallozentrisches Verständnis: Penetration wurde als wesentlich betrachtet, weshalb Frauen in der Regel für Sodomieanklagen nicht in Betracht kamen, es sei denn, sie benutzten Dildos. Die „Wiederentdeckung der Klitoris“ im 16. Jahrhundert führte zur Annahme, dass vermeintlich weibliche Sodomiten in Wirklichkeit Hermaphroditen seien (S. 230). Als Erklärung bietet Roelens die größere weibliche Sichtbarkeit an. Frauen waren rechtlich bessergestellt und damit auch im Gewerbe aktiver als in anderen Teilen Europas. Sowohl die Reformation (S. 252) wie die Französische Revolution führten zum Wiedererstarken des Patriarchats. Die Träger der neuen Ordnung behaupteten stets ihre moralische Überlegenheit gegenüber den Vertretern des Ancien Régime. Die Durchsetzung der neuen, angeblich besseren, überlegenen Moral führte letztlich wiederholt zur Entrechtung der Frauen.

Teil drei der Untersuchung ist den städtischen Diskursen über Sodomie gewidmet. Trotz des geforderten Schweigens war die unaussprechliche Sünde ein beliebtes Thema. Denunziation war eine gängige Methode, um Sodomiten zu identifizieren, und die Behörden waren oft gezwungen, aufgrund lokaler Gerüchte Maßnahmen zu ergreifen. Nicht nur die politischen Eliten standen hinter der Verfolgung von Sodomiten, oft kam der Anstoß aus der Nachbarschaft oder Familie. Tatsächlich war die Diffamierung politischer Gegner oder wirtschaftlicher Konkurrenten als Sodomiten seit dem 14. Jahrhundert eine gängige Praxis. König Philipp IV. von Frankreich denunzierte 1307 die Tempelritter als Sodomiten, weil er seine Schulden gegenüber dem Orden nicht bezahlen konnte. Manchmal wurde die Sodomieanklage als Fluchtweg aus einer unglücklichen Ehe (S. 269) oder als Rache an einem untreuen Partner genutzt. Frauen, die der Hexerei angeklagt waren, denunzierten ihre Denunzianten als Sodomiten (S. 271). Gleichzeitig jedoch ermutigten die frühneuzeitlichen Obrigkeiten in ganz Europa dazu, Sodomiten anzuzeigen, da diese eine Gefahr für das ganze soziale Gefüge darstellten, denn Gott bestrafe die Gemeinschaft. Die Belohnungen der Denunzianten waren im Falle einer Verurteilung in der Regel üppig. In den südlichen Niederlanden waren denunzierende Nachbarn für den Großteil der Anschuldigungen wegen Hexerei, Ketzerei und Sodomie verantwortlich.

In dem Unterkapitel „Sodomie, religiöse Konflikte und urbanes Gedächtnis“ werden die Massenprozesse gegen angebliche Sodomiten in Brügge und Gent im Jahr 1578 während der kurzen calvinistischen Herrschaft behandelt. Entgegen den Erwartungen reagierten die Katholiken auf die Anschuldigungen des calvinistischen Stadtrats keineswegs passiv. In Memorienbüchern und Stadtchroniken beteuerten die Autoren, fast ausschließlich Laien, die Unschuld der Bettelmönche, die sie als junge, fromme Opfer skrupelloser protestantischer Fanatiker darstellten. Der Vorwurf der Sodomie gehörte von Anfang an zur antimonastischen Kritik, welche besonders die Bettelorden betraf. Ironischerweise waren es gerade diese, die theologische Rechtfertigungen für die schwere Verfolgung des Verbrechens contra naturam schufen (S. 287).

Weibliche Sodomie wurde von der Bevölkerung oft mit Hexerei verbunden, im medizinischen Diskurs hingegen – nach der „Wiederentdeckung der Klitoris“ – mit Hermaphroditen. Die Klitoris galt als Missbildung, als Penis. 1619 wurden die beiden Frauen Mayken und Magdaleene in Brügge wegen Sodomie verurteilt. Magdaleene war sich ihrer sexuellen Vorliebe für Frauen bewusst. Obwohl sie in der Vergangenheit verheiratet gewesen war, hatte sie sexuelle Beziehungen mit anderen Frauen, da sie Sex mit Frauen vorzog. Darüber hinaus war sie sich der Existenz anderer Frauen mit ähnlichen Gefühlen bewusst. Während die durch Magdaleenes Aussagen gelieferten Beweise, nach Roelens, nicht ausreichen, um die Debatte über die soziale Konstruktion von (Homo-)Sexualität zu beenden, weist ihre Aussage darauf hin, dass bestimmte Personen sich ihrer sexuellen Vorlieben bewusst waren, bevor solche mentalen Rahmenbedingungen in der Moderne konstruiert wurden (S. 334). Für die frühe Existenz von gleichgeschlechtlichen Subkulturen spricht auch der Fall Battista. Battista wurde in den 1560er-Jahren in Flandern bereits zweimal wegen Sodomie angeklagt, konnte jedoch fliehen. 1578 wurde er in Rom Opfer einer Massenverbrennung von Sodomiten (S. 218). Er war ein älterer kräftiger Fährmann, ein ehemaliger Söldner, der sich von Jüngeren penetrieren ließ. Andere Mitglieder der Gruppe penetrierten sich gegenseitig. Öfters gab es keine klare Rollenverteilung im Sinne von jung und passiv, älter beziehungsweise mächtiger und aktiv. Versatility, die Flexibilität zwischen aktiver und passiver Penetration ist somit keinesfalls allein Ausdruck einer „modernen Sexualität“. Vielmehr scheint es, dass das seit der Antike tradierte päderastische Modell nur ein Ideal ist. Die Mehrheit der 1578 verhafteten Männer, die sich regelmäßig trafen, waren erwachsen und hatten wiederkehrend Sex mit anderen Erwachsenen.3 Battista bewegte sich offenbar quer durch Europa in entsprechenden Subkulturen.

Die zurückhaltende Argumentation hinsichtlich des Vorhandenseins ausgeprägter sexueller Identitäten und Subkulturen ist offensichtlich dem nachhaltigen Einfluss Michel Foucaults geschuldet. Nichtsdestotrotz ist das Werk von Jonas Roelens ein handwerklich solides, preis- und unbedingt lesenswürdiges Buch.

Anmerkungen:
1 Jonas Roelens, Visible Women. Female Sodomy in the Late Medieval and Early Modern Southern Netherlands (1400–1550), in: Bijdragen en Mededelingen betreffende de Geschiedenis der Nederlanden – Low Countries Historical Review 130 (2015) 3, S. 3–24.
2 Jonas Roelens, Fornicating Foreigners. Sodomy, Migration, and Urban Society in the Southern Low Countries (1400–1700), in: Dutch Crossing. Journal of Low Countries Studies 41 (2017) 3, S. 229–246.
3 Gary Ferguson, Same-Sex Marriage in Renaissance Rome. Sexuality, Identity, and Community in Early Modern Europe, Ithaca 2016, S. 92.

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