Cover
Titel
Verkehr in Not. Das Automobil im Städtebau


Autor(en)
Düwel, Jörn; Gutschow, Niels
Anzahl Seiten
407 S.
Preis
€ 40,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christoph Bernhardt, Leibniz-Institut für Raumbezogene Sozialforschung, Erkner / Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Der Autoverkehr in der (Groß-)Stadt ist nicht nur ein hochaktuelles, politisch kontrovers diskutiertes Problem, sondern er wird auch regelmäßig in stadtgeschichtlichen Untersuchungen und im Rahmen der „Mobility Studies“ erforscht.1 Die Autoren des hier besprochenen Buches weisen allerdings zu Recht darauf hin, dass das Thema in der Fachdisziplin der Städtebaugeschichte, die sie selbst seit mehreren Jahrzehnten wesentlich mit geprägt haben, lange eher randständig geblieben sei. Zudem hätten Architekten und Städtebauer seit dem Zweiten Weltkrieg die planerische „Gestaltung des Verkehrs als städtebauliche Aufgabe […] weitgehend an Verkehrsplaner verloren“ (S. 163). Um die Leerstelle in der Forschung zu füllen, „blättern“ die Autoren „chronologisch in der Geschichte der Stadt“ und generierten nach eigener Aussage „ein komplexes Puzzle“, das wesentlich auf „Beifänge[n]“ ihrer früheren städtebaugeschichtlichen Arbeiten fuße (S. 19). Die Wertung des Rezensenten zu diesem Vorgehen und dem Ergebnis fällt – um es vorwegzunehmen – ambivalent aus: Ein breiteres interessiertes Publikum wird in dem Buch zweifellos viel Anregendes und Unbekanntes zum Thema finden, vermutlich aber auch Mängel an inhaltlicher Stringenz im Aufbau und Argumentationsgang registrieren.

Das mit Plänen und Fotos reich bebilderte, aufwendig gestaltete Buch legt nach einem Streifzug durch die Ideengeschichte des Automobils im Städtebau einen Schwerpunkt auf die bauliche Gestaltung von Fußgängerbereichen in der Stadt, auf ausgewählte Verkehrsbauwerke in Hamburg und Düsseldorf sowie auf spätere Projekte zum „Rückbau“ der „autogerechten Stadt“. Einleitend präsentieren die Autoren 44 historische Zitate von 1888 bis heute aus der Feder von Architekten, Planern, Mitarbeitern von Baubehörden, aber auch Intellektuellen, die sich sehr gegensätzlich zu den Folgen des Autoverkehrs in der Stadt äußerten. Darunter sind frühe kritische Stimmen, etwa des Architekten Paul Bonatz (1877–1956), die aber gegenüber der lange vorherrschenden Begeisterung für das Automobil in der Minderheit blieben, ehe seit den 1960er-Jahren die Gegner eines ungehemmten autogerechten Stadtumbaus die Meinungshoheit gewannen – ein bekannter langfristiger Wandel im „Zeitgeist“ (S. 9), der an verschiedenen Stellen im Buch bekräftigt wird.

Das Kapitel zur „Ideengeschichte“ untersucht die Behandlung des Verkehrs und die Einstellung zum Automobil in den Werken führender Planer des 20. Jahrhunderts, darunter früher Vertreter eines behutsamen Umgangs mit der überkommenen Stadt wie Cornelius Gurlitt (1850–1938). Es wird deutlich, dass die Planer schon in den 1920er-Jahren durch die Verdichtung des Straßenverkehrs unter Handlungsdruck gerieten. Andererseits entwickelten Visionäre wie der Berliner Stadtbaurat Martin Wagner (1885–1957) Projekte zum autogerechten Umbau der Stadt, die dem zu dieser Zeit noch überschaubaren Autoverkehr weit vorauseilten. Für die frühe Nachkriegszeit ab 1945/49 weisen die Autoren zunächst mit scharfen Worten eine zentrale These ihres langjährigen engsten Mitstreiters und früheren Co-Autors Werner Durth (ohne dessen Namen zu nennen), der mit einem Buch zu den wirkmächtigen, biographisch vermittelten Kontinuitäten zwischen dem „Wiederaufbaustab“ Albert Speers und dem Wiederaufbau in westdeutschen Städten bekannt wurde2, als „Mythos“ zurück. Das „‚Aufdecken‘ und Skandalisieren biographischer Kontinuitäten“ oder die Suggestion einer Lancierung „nationalsozialistisch kontaminierte[r] Planwerke“ (S. 106) in der frühen Bundesrepublik seien verfehlt.

Das grundlegende Kompositionsprinzip des Buches ist die Präsentation von Fallstudien zu Verkehrsplanungen für einzelne Städte, für die Nachkriegszeit unter anderem zu Lübeck, Braunschweig, Berlin, Stuttgart und Hannover. Die Gemeinsamkeiten in der entschiedenen Konzentration auf den Autoverkehr, aber auch bei der Umsetzung einzelner Verkehrskonzepte wie dem Bau von „Tangentenringen“ bzw. -„vierecken“ rund um die Innenstädte werden dabei ebenso deutlich wie die ansonsten unterschiedlichen Entwicklungspfade der Städte. Dabei treten in der Darstellung, neben vielen interessanten Einzelheiten, auch methodische Defizite und Inkonsistenzen hervor. Zum Beispiel fehlt eine Begründung für die Auswahl der – in sehr unterschiedlicher Tiefe studierten – Fallbeispiele, und auf übergreifende Synthesen wird weitgehend verzichtet. Zudem wechselt der Argumentationsgang hier, wie auch in anderen Kapiteln, wiederholt abrupt die Richtung und bricht zum Beispiel in biographische Analysen oder Standpunkte einzelner Planer aus. Immerhin wird anhand des großen Städtebau-Wettbewerbs „Hauptstadt Berlin“, der mit Förderung des Bundestags 1957/58 durchgeführt wurde, und des bald darauf vom Politbüro der SED initiierten „Ideenwettbewerbs zur sozialistischen Umgestaltung des Zentrums der DDR, Berlin“ (1958) die Herausbildung einer „Konvergenz über Systemgrenzen hinweg“ (S. 141) für einen autogerechten Umbau der west- wie der ostdeutschen Städte zu Recht hervorgehoben. Abgesehen von dieser Passage werden die Verkehrsplanungen für DDR-Städte allerdings nur knapp erwähnt und bleiben gegenüber den zahlreichen westdeutschen Beispielen stark unterrepräsentiert. Angesichts der genannten Defizite ist es erstaunlich, dass zwei Besprechungen des Buches durch profilierte Fachleute in der „Welt“ und der „FAZ“ zu einem rundum positiven Urteil kamen.3

Die umfangreichen beiden Kapitel über die Planung von Fußgängerbereichen seit der Mitte der 1950er-Jahre zählen zu den interessantesten des Buches. Hier wird verdeutlicht, dass die ersten autofreien Zonen eine Begleiterscheinung des Aufstiegs der Konsumgesellschaft in Form von Einkaufszentren und Fußgängerzonen bildeten, für die die Planer zeitweise weitreichende Konzepte zur vertikalen Trennung der Verkehrsarten auf verschiedenen Ebenen entwarfen. Dafür stellen die Autoren zahlreiche Planungsvorgänge und Projekte materialreich und mit großer Sachkenntnis vor. Der Teil zum „Rückbau“ von Straßen und damit der „autogerechten Stadt“, der sich seit etwa 1970 unter anderem im Abriss von innerstädtischen Hochstraßen niederschlug, fällt dagegen ab – vielleicht mangelt es bisher schlicht an der Durchsetzung diesbezüglicher Konzepte und damit an prägnanten Fallbeispielen? Gravierender ist, dass mit dem Verkehr im vorstädtischen und suburbanen Raum ein Kern der Problematik im Verhältnis von Stadt und Automobilität praktisch gar nicht angesprochen wird.

Verstreut im Buch positionieren sich die Autoren auch politisch zu aktuellen Kontoversen im Spannungsfeld von Klimaschutz und Autoverkehr: Einleitend werden wichtige der heute diskutierten Standpunkte sachlich referiert, vom Problem des CO2-Ausstoßes sowie der Verflechtung von Autoverkehr und Lebensstilen über die Idee der „15-Minuten-Stadt“ bis hin zu den Aktionen der „Letzten Generation“. Doch kritisieren die Autoren auch sehr nachdrücklich aktuelle Forderungen von Architekten zugunsten des Klimaschutzes, wie diejenigen einer „Verkehrswende“, eines Wohnflächenlimits, einer Abkehr vom Eigenheim usw. Diese werten sie als eine „neuerliche Unbedingtheit“ (S. 32) in Teilen der Architektenschaft und der Stadtplanung, die dem verfehlten „Traum einer allseits befriedeten und harmonischen Gesellschaft“ anhänge (S. 31). Dementsprechend endet das Buch mit einer harschen Kritik an den Vorstellungen von Verkehrsdezernenten der Grünen in Berliner Bezirken für eine Umwidmung von bisher für Autos reserviertem Stadtraum, was die Verfasser als „autoritäre Bevormundung“ einstufen (S. 389, s. a. S. 256).

Insgesamt ist der Eindruck nach der Lektüre wie gesagt ambivalent: Die große Stärke des Buches liegt im Materialreichtum und in der Sachkenntnis der Autoren, die zahllose Einzelprojekte im Feld der städtischen Automobilität mit ebenso zahlreichen Reproduktionen von Plänen zu einem sehr informativen Kompendium zusammengestellt haben. Zu den wissenschaftlichen Schwächen gehört, dass wichtige neuere Literatur zur Städtebaugeschichte – also aus dem engeren fachlichen Feld der Autoren – nicht berücksichtigt ist, etwa die Studien von Harald Bodenschatz zur Straßenbaugeschichte Berlins oder von Uwe Altrock zu Hans Bernhard Reichow (1899–1974).4 Weitgehend unbeachtet bleiben auch die Forschungsstränge der soziologischen, kultur- und verkehrshistorischen Literatur, die zum Verhältnis von Automobilität und Städtebau wichtige Beiträge geliefert haben.5 Und schließlich bildet die internationale transdisziplinäre Forschungsdebatte zur Geschichte der Automobilität6 eine eklatante Leerstelle. Nimmt man die Vernachlässigung der Entwicklungen in der DDR und in Osteuropa sowie die relativ dünne Einbeziehung der historischen Trends in Westeuropa und im suburbanen Raum hinzu, muss man letztlich von einer disziplinären und inhaltlichen Engführung sprechen, die nicht mehr zeitgemäß ist. In der hier vorliegenden Form hat sich dieser lange fruchtbare und wegweisende Ansatz kritischer westdeutscher Städtebaugeschichte wohl doch überlebt.

Anmerkungen:
1 Vgl. etwa die Debatten in der Zeitschrift „Journal of Transport History“ und die Literaturverweise in den folgenden Anmerkungen.
2 Werner Durth, Deutsche Architekten. Biographische Verflechtungen 1900–1970, Braunschweig 1986 (und öfter).
3 Dankwart Guratzsch, Der Mörder ist immer der Planer, in: Welt, 6.8.2024, S. 14–15; Arnold Bartetzky, Das innig geliebte Monster, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15.11.2024, S. 12.
4 Vgl. Uwe Altrock, Höhepunkt der Moderne oder Wende zur Nachmoderne? Die „autogerechte Stadt“ von Hans Bernhard Reichow – 50 Jahre danach neu gelesen, in: Die alte Stadt 36 (2009), S. 476–480; Harald Bodenschatz / Aljoscha Hofmann / Cordelia Polinna (Hrsg.), Radialer Städtebau. Abschied von der autogerechten Stadtregion, Berlin 2013.
5 Vgl. Barbara Schmucki, Der Traum vom Verkehrsfluß. Städtische Verkehrsplanung seit 1945 im deutsch-deutschen Vergleich, Frankfurt am Main 2001; Ueli Haefeli, Verkehrspolitik und urbane Mobilität. Deutsche und Schweizer Städte im Vergleich 1950–1990, Stuttgart 2008; Weert Canzler, Automobil und moderne Gesellschaft. Beiträge zur sozialwissenschaftlichen Mobilitätsforschung, Berlin 2016; Christopher Kopper / Massimo Moraglio (Hrsg.), The Organization of Transport. A History of Users, Industry, and Public Policy, New York 2015.
6 Vgl. Gijs Mom, Atlantic Automobilism. Emergence and Persistence of the Car, 1895–1940, New York 2015; Brian Ladd, Autophobia. Love and Hate in the Automotive Age, Chicago 2008; Lewis H. Siegelbaum (Hrsg.), The Socialist Car. Automobility in the Eastern Bloc, Ithaca 2011; Matthieu Flonneau, Paris et l’automobile. Un siècle de passions, Paris 2005; Simon Gunn / Susan Townsend, Automobility and the City in Twentieth-Century Britain and Japan, London 2019.