Was als politisch relevanter Aktivismus im „Mental Health“-Bereich gelten darf, ist auch nach über fünfzig Jahren unter ehemaligen feministischen Aktivistinnen in England umstritten. Kate Mahoneys sorgfältig recherchierte Darstellung dieses Aktivismus zeigt eindrücklich, wie ein historiographisches Werk diesen Debatten nicht aus dem Weg gehen muss, sondern sie produktiv nutzen kann. Mit ihrem Werk erschließt sie der wachsenden Forschung zum „Women’s Health Movement“ zudem einen bisher kaum beachteten Gegenstand, der auch in der Geschichte der psychotherapeutischen Versorgung übersehen wurde. Mahoney erzählt die Geschichte des feministischen Mental-Health-Aktivismus als eine der Kontinuität, in der sich feministische Impulse in wechselnden Kontexten sowie Allianzen entfalteten und auf unterschiedliche Weise politisch wirksam wurden. Diesen Fokus auf die Kontinuität entwickelt sie nicht zuletzt in kritischer Abgrenzung zu prominenten ehemaligen Exponentinnen, die das Narrativ einer Entpolitisierung des Mental-Health-Aktivismus zu Beginn der 1980er-Jahre prägten. Mit ihrer Reflexion auf die biographische Funktion solcher oftmals in Oral-History-Interviews entstandenen Aussagen und ihrer eigenen Gegendarstellung wirft Mahoney implizit die zentrale Frage auf, wer über die politische Relevanz vergangener aktivistischer Tätigkeit urteilen soll.1
Ihr Argument einer kontinuierlichen politischen Wirksamkeit in sich verändernden Formen demonstriert Mahoney anhand von vier chronologisch aufeinanderfolgenden Kapiteln – auf ein einführendes Kapitel folgen drei Fallstudien zu je einer im behandelten Zeitabschnitt relevanten Organisation. Im ersten Kapitel beschreibt sie das komplizierte Verhältnis zwischen der feministischen Kritik an der Psychotherapie und insbesondere Psychoanalyse, dem Aufkommen sogenannter „Consciousness-Raising“ (CR)-Gruppen und dem Beginn feministischer Psychotherapie nach 1968. Entgegen den wenigen bereits existierenden Forschungsarbeiten betont Mahoney den Bruch zwischen CR-Gruppen und feministischen Therapieformen. Letztere seien weniger aus der Übernahme von CR-Prinzipien in den therapeutischen Bereich, sondern viel eher als Reaktion auf negative Erfahrungen in CR-Gruppen oder generell in der Frauenbefreiungsbewegung entstanden.2 Wessen Lebensgeschichte beispielsweise nicht zu den typischen Erzählungen in CR-Gruppen passte oder wer Probleme hatte, sich bekenntnishaft vor anderen zu artikulieren, konnte Isolation und sogar eine Verstärkung bestehender psychischer Probleme erfahren. In der Suche nach einem Umgang mit diesen bewegungsinternen Problemen sieht Mahoney auch die Erklärung, weshalb sich Protagonistinnen trotz der breit rezipierten feministischen Kritik insbesondere an der Freudschen Psychoanalyse durch bekannte US-Autorinnen wie Shulamith Firestone wieder psychoanalytischen und neu entwickelten humanistischen „growth“-Ansätzen zuwandten. An diese überzeugende Darstellung lässt sich die Frage anschließen, inwiefern in England das CR selbst einem Therapeutisierungsprozess unterlag, wie dies die historisch arbeitende Psychologin Nora Ruck für den kanadischen und US-amerikanischen Kontext hervorhob.3 Mahoney betont zwar die auch von ihren Interviewpartnerinnen geäußerte Ansicht, dass CR-Gruppen kein therapeutisches Format seien, reduziert diese Äußerungen jedoch auf eine Abwehrstrategie, welche die damalige Frauenbewegung vor den apolitischen Konnotationen therapeutischer Selbstsorge bewahren sollte. Da Mahoney nun die Politisierung von Therapie behandelt, scheint diese Reduktion gerechtfertigt, weshalb sie CR-Gruppen auch folgerichtig als eine Alternative zu therapeutischen Ansätzen beschreibt (S. 61). Fraglich ist aber, ob Mahoney damit den durchaus vielfältigen Formaten von CR-Gruppen gerecht wird, bei denen es, wie sie selbst zeigt, eher darum ging, persönliche Erfahrungen zu politisieren und neue Beziehungen zu stiften, als die individuelle Psyche zu therapieren. Eine genauere Historisierung des bewegungsinternen Therapiekonzepts wäre an dieser Stelle hilfreich.
In ihrer ersten Fallstudie demonstriert Mahoney am Beispiel der London Women’s Liberation Workshop (LWLW) Psychology Group, wie eine breite Palette an psychotherapeutischen Ansätzen – von Psychoanalyse über Encounter bis zu damals erst im Entstehen begriffenen „co-counselling“ Ansätzen – trotz der Kritik an zeitgenössischer Psychotherapie aufgegriffen wurde. Ausgehend von der Feststellung, dass feministische Aktivistinnen zu wenig Unterstützung im Umgang mit eigenen Emotionen erhielten, übertrug diese Gruppe den erfahrungszentrierten Ansatz der „personal politics“ auf das Gebiet der Psychotherapie: Positive und negative Erfahrungen mit bestehenden Therapien wurden gesammelt, diskutiert und mit neueren Ansätzen wie dem erwähnten „co-counselling“ in Verbindung gebracht. Mental Health wurde somit in der Bewegung zu einem relevanten Gesundheitsthema, was die vorherrschende Fokussierung der Forschung auf reproduktive Themen infrage stellt.4 Inwiefern diese neue Themensetzung mit dem breit erforschten Psychoboom der 1970er-Jahre und der einhergehenden neoliberalen Vereinnahmung humanistischer Therapiemethoden zusammenhing, wird von Mahoney leider nicht thematisiert.5 Sie betont jedoch, dass der für die Bewegung typische Self-Help-Ansatz Ausdruck in zwei Grassroots-Initiativen fand, die grundsätzlich allen Frauen offenstanden, jedoch vor allem bewegungsintern genutzt wurden.
Mit dem Hinweis auf solche Initiativen widerspricht Mahoney der zeitgenössischen Darstellung von Susie Orbach, die das in Kapitel drei behandelte und von ihr 1976 mitbegründete Women’s Therapy Center (WTC) in Oral-History-Interviews als Neuheit beschreibt. Auch wenn die Initiativen der LWLW Psychology Group wenig bewegungsexterne Frauen ansprachen, kamen sie bereits einem community-basierten feministischen Therapieangebot gleich, in dem auch Mitarbeitende des WTC erste Erfahrungen sammelten. Im Vergleich zur Methodenvielfalt der Psychology Group setzten die Gründerinnen Orbach und Eichenbaum stärker darauf, mithilfe der Psychoanalyse ein eigenes Verständnis der weiblichen Psyche zu entwickeln und in Therapien umzusetzen. Daraus entstand eine gewisse Universalisierung weiblicher Erfahrung, was Mahoney als einen Grund dafür sieht, dass vor allem weiße Frauen aus der Mittelklasse das Angebot des WTC nutzten. Einen weiteren blinden Fleck verortet Mahoney in der fehlenden Thematisierung psychiatrischer Institutionen. Nach dem Abgang der Gründerinnen zu Beginn der 1980er-Jahre verschob sich der primäre Fokus des WTC – auch bedingt durch den höheren Rechtfertigungsdruck seitens staatlicher Geldgeber. Statt Kampagnenarbeit und Theorie- beziehungsweise Therapiebildung stand nun die lokale Versorgung mit Therapieangeboten im Zentrum, wobei auch rassistische Vorurteile innerhalb des WTC reflektiert wurden. Die interne Organisationsstruktur wurde weniger hierarchisch und kollektiver gestaltet, gleichzeitig stellte das WTC ein Beispiel dar, wie die Finanzierung durch Regierungsinstitutionen mit Kritik an deren Gesundheitspolitik zusammengehen konnte.
Im darauffolgenden vierten Kapitel beschreibt Mahoney, wie feministische Aktivistinnen ab den späten 1980er-Jahren intern den Kurs der nationalen Wohltätigkeits- und Lobbyorganisation MIND beeinflussen konnten. Dies wurde möglich, da sich MIND zu Beginn der 1970er-Jahre zunehmend für die Rechte von Patient:innen einsetzte und feministisch geprägte Mitarbeiter:innen Raum für eigene Initiativen vorfanden. Insbesondere durch die Publikationen der Gruppe „Women in MIND“ und die Kampagne „Stress on Women“ konnte somit das mittlerweile vielseitig angewachsene community-basierte Netzwerk aus feministischen Angeboten mit der sogenannten Service-User Bewegung verbunden werden, in dem Betroffene für ihre Rechte in Kontexten psychischer Institutionen eintraten. Die Sichtbarkeit dieses Netzwerkes trug dazu bei, Mental Health als öffentliches Thema zu etablieren und fehlende Regierungsprioritäten zu kritisieren.
Diese politisch durchaus relevante Erfolgsgeschichte kontrastiert Mahoney zum Schluss mit der Schließung des WTC 2019 aufgrund fehlender Finanzierung. In diesen Kontext situiert Mahoney auch ihre eigene Forschung, die einerseits lokale Gesundheitsinitiativen dazu ermutigen soll, selbstbewusst ihre Kompetenzen als historisch von unten gewachsene Netzwerke zu vertreten. Andererseits hebt Mahoney auch die Verantwortung ehemaliger Aktivistinnen hervor, die nach einer gewissen Entfremdung mit der Bewegung nun anhand eines nostalgisch verklärten und engen Politik-Begriffs mit ihren Depolitisierungsnarrativen aktuelle Protagonistinnen entmutigen. Sozusagen nebenbei hat Mahoney außerdem einen interessanten Modus des feministischen Aktivismus in Grassroots-Initiativen herausgearbeitet, nämlich die Offenheit für teils unerwartete Handlungsfelder und Kollaborationen, kombiniert mit der steten Rückbindung an eigene Erfahrungen. Diese Erkenntnis – sowie die Ausführungen zu ihrer Rolle als Historikerin und zu den unterschiedlichen Politikverständnissen der Akteurinnen – hätten teils eine explizitere Ausformulierung verdient. Aufgrund einer eher zurückhaltenden Leser:innenführung geht zudem manchmal der rote Faden verloren. Inhaltlich bietet Mahoneys Studie jedoch jede Menge Stoff für weitere Forschungen und Debatten, wobei interessant wäre, wie ehemalige und heutige „Mental-Health“-Aktivistinnen auf Mahoneys Forschung reagieren.
Anmerkungen:
1 Die Rolle nostalgischer Emotionen in biographischen Interviews und ihre eigene Oral-History-Methode diskutiert Mahoney ausführlicher im folgenden Aufsatz: Kate Mahoney, ‘It’s not History. It’s my Life’: Researcher Emotions and the Production of Critical Histories of the Women’s Movement, in: Tracey Loughran / Dawn Mannay (Hrsg.), Emotion and the Researcher. Sites, Subjectivities, and Relationships, Bingley 2018, S. 65–80.
2 Kate Mahoney, The Political, Emotional, and Therapeutic. Narratives of Consciousness-Raising and Authenticity in the English Women’s Liberation Movement, in: dies. / Joachim C. Häberlen / Mark Keck-Szajbel (Hrsg.), The Politics of Authenticity. Countercultures and Radical Movements across the Iron Curtain, 1968–1989, New York 2019, S. 65–88.
3 Nora Ruck, Liberating Minds: Consciousness-Raising as a Bridge Between Feminism and Psychology in 1970s Canada, in: History of Psychology 18 (2015), S. 297–311; Nora Ruck / Vera Luckgei / Lisa Wanner, Zwischen Aktivismus und Akademisierung. Zur Bedingung der Möglichkeit feministischer Psychologie und Psychotherapie, in: Psychologie & Gesellschaftskritik 165 (2018), S. 55–79.
4 Vgl. Jennifer Nelson, More than Medicine. A History of the Feminist Women’s Health Movement, New York 2015; Judith Houck, Looking Through the Speculum. Examining the Women’s Health Movement, Chicago 2024.
5 Für den englischen Kontext vgl. zum Beispiel Nikolas Rose, Inventing Our Selves. Psychology, Power, and Personhood, Cambridge 1998. Für den deutschen Kontext vgl. Maik Tändler, Das therapeutische Jahrzehnt. Der Psychoboom in den siebziger Jahren, Göttingen 2016.