Cover
Titel
Ein deutscher Revolutionär im Amt. Carl Schurz und der Niedergang der Minderheitenrechte in den USA der 1870er-Jahre


Autor(en)
Wilm, Julius
Reihe
Dialektik des Globalen
Erschienen
Anzahl Seiten
VI, 78 S., 9 SW-Abb.
Preis
€ 24,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Mischa Honeck, Geschichte Großbritanniens und Nordamerikas, Universität Kassel

Brauchen Demokratien Helden? Auf diese sehr grundsätzliche Frage gibt die exzellente Studie von Julius Wilm keine Antwort, wohl aber auf die Frage, ob unkritische Heroisierungen nicht den Weg zu einer multiperspektivischen und damit auch ehrlicheren Erinnerungskultur versperren. Wilm veranschaulicht diese Problematik am Beispiel des deutsch-amerikanischen Revolutionärs Carl Schurz, der im 19. Jahrhundert in seiner zweiten Heimat, den Vereinigten Staaten von Amerika, einen atemberaubenden Aufstieg erlebte. Von den Wogen der fehlgeschlagenen europäischen Revolutionen von 1848 über den Atlantik gespült (Schurz entkam wie viele demokratische Aufständische nur knapp mit dem Leben), stieg der deutschstämmige Geflüchtete in nur zwei Jahrzehnten in die höchsten Staatsorgane der noch jungen USA auf. Er schloss sich der sklavereikritischen Republikanischen Partei an, ging auf Geheiß Abraham Lincolns als Botschafter nach Spanien, nahm als Offizier in den Reihen der Union am Bürgerkrieg teil und wurde 1868 von den Wählern Missouris in den Senat geschickt. Den Höhepunkt seiner politischen Laufbahn erreichte Schurz 1876, als er den Posten des Innenministers im Kabinett von Präsident Rutherford B. Hayes übernahm. Kein Einwanderer vor ihm konnte auf eine solch steile Karriere zurückblicken. Sie begründete den Mythos des schillernden transatlantischen Vorzeigedemokraten, der bis in unsere Gegenwart nachhallt.

„Ein Deutscher Revolutionär im Amt“ knöpft sich diesen Mythos vor. Das Buch paart gekonnt historische Analyse mit erinnerungspolitischer Intervention. Wilm legt gleich zu Beginn die Karten auf den Tisch, indem er deutlich macht, dass ihn die heftige Debatte um die geplante und schließlich geplatzte Einweihung einer Schurz-Büste im Schloss Bellevue im Frühjahr 2022, an der er selbst beteiligt war, zu dieser Studie animiert hat. Gegenstand des Meinungsstreits war die Frage, ob sich hinter dem Bild des „guten Deutschen“, der sich für gleiche Rechte und liberale Werte aussprach, nicht auch rassistische Schatten verbargen, die Schurz zu einer höchst ambivalenten Figur machten. Wilm unterfüttert diese These angenehm quellennah und unpolemisch, was in dieser Debatte keine Selbstverständlichkeit ist. Auf nur knapp siebzig Seiten konzentriert sich der Autor auf Schurzʼ politisches Wirken an der Schwelle von der Reconstruction zum sogenannten Gilded Age. In diesem Zeitraum bestimmte Schurz in führender Position das Schicksal der Afroamerikaner und der indigenen Bevölkerung innerhalb des Staatsgebietes der USA entscheidend mit. Das Ergebnis: Schurz hat sich früher und konsequenter als bisher in der Öffentlichkeit bekannt von radikaldemokratischen Überzeugungen verabschiedet und eine keineswegs alternativlose Minderheitenpolitik verfolgt, die zur Verschlechterung der Lage für beide Gruppen beitrug.

Die folgenschwere Wende in Schurzʼ nachlassender Unterstützung der Schwarzen Bürgerrechte ereignete sich nach Wilm in den Jahren 1870 und 1871. Er orientiert sich damit an den Arbeiten anderer Historiker:innen, erweitert die Forschung aber zugleich mit zeitgenössischen kritischen Stimmen aus der afroamerikanischen Community.1 Auf diese Weise wird klar, dass Schurz nicht einfach einem generellen Trend in Richtung Wiederherstellung der weißen Vorherrschaft im Süden der USA folgte, sondern diese Entwicklung aktiv beförderte – sehr zur Empörung afroamerikanischer Intellektueller wie Frederick Douglass und William G. Brown, die Schurz als Abtrünnigen brandmarkten. Minutiös dokumentiert Wilm, wie der deutsch-amerikanische Senator die eskalierende Gewalt im Süden zunehmend als Reaktion auf überbordende bundesstaatliche Eingriffe und nicht als das Fanal einer rassistischen Konterrevolution deutete. Bemerkenswerterweise näherte sich Schurz dabei jener Doktrin der „statesʼ rights“ an, welche die Sklavenhalter des Südens vor dem Bürgerkrieg in Stellung gebracht hatten, um ihre Interessen zu sichern. Afroamerikaner:innen, so Schurz, müssten mit gutem Beispiel vorangehen und ihren Beitrag zur Aussöhnung mit ihren ehemaligen Herren leisten. Der Minderheitenschutz hätte vor den „Rechte(n) und Freiheiten des gesamten amerikanischen Volkes“ (S. 23) zurückzutreten. Schurzʼ Vorstellung von Volkssouveränität vertrug sich nur noch schwer mit dem Ideal eines universalistischen Liberalismus.

Erfreulich quellengesättigt sind auch die Passagen zur Indianerpolitik, die Schurz als Innenminister zu verantworten hatte. Selbstverständlich begann und endete der Genozid an den Native Americans nicht mit Schurz. Dennoch korrigiert Wilm auch hier Darstellungen, die den Deutsch-Amerikaner dafür loben, weitaus brutalere Vernichtungsaktionen verhindert zu haben. Wie viele liberale Reformer:innen seiner Zeit sah Schurz in der „kulturellen Hebung“ nicht-weißer Menschen den Schlüssel zu einer progressiven und humanitären Minderheitenpolitik. Für den Umgang mit der indigenen Bevölkerung bedeutete dies, auf Assimilationsvorhaben zu setzen, die Überzeugungsarbeit und Zwangsmaßnahmen verbanden. Besonders deutlich wird dieses Mischverhältnis am Beispiel der Boarding Schools – Internatsschulen für indigene Kinder, für deren Aufbau Schurz mit Nachdruck warb. Heute wissen wir, dass diese Umerziehungspolitik unzählige Opfer forderte. Doch bereits in den 1870er- und 1880er-Jahren gab es zahlreiche Kritiker:innen, die Wilm zu Wort kommen lässt. Darunter befanden sich führende Native Americans, die Schurz vorwarfen, seine Pläne würden auf eine schleichende Zerstörung indigener Lebensgrundlagen hinauslaufen. Schurz ließ sich von den Protestnoten nicht beirren – vermutlich auch deshalb, weil sich bei ihm im Laufe der Jahre die rassistische Überzeugung verfestigt hatte, dass Indigene aus sich selbst heraus nicht zur Kultur und zu produktiver Arbeit fähig seien.

Wilm gelingt eine präzise Rekonstruktion von Schurzʼ politischer und intellektueller Biografie in den zwei Jahrzehnten nach dem Ende des Bürgerkriegs. Wer mehr über die Limitationen liberaler weißer Freiheitsideale in einem Jahrhundert der Nationsbildungen und imperialen Landnahmen erfahren möchte, sollte unbedingt zugreifen. Freilich bleiben einige Fragen offen. Rückte Schurz aus rein machtpolitischen Gründen von der Reconstruction ab? Spielte das transnationale Ideal einer zivilisierten Weltgemeinschaft bestehend aus starken, möglichst homogenen und von weißen Männern angeführten Nationalstaaten eine Rolle, das Schurz und andere Achtundvierziger unter anderem zu euphorischen Solidaritätsbekundungen mit dem neu gegründeten Deutschen Reich veranlasste? Hier hält sich Wilm mit einem Urteil zurück, wohl auch weil die Quellen keine eindeutigen Schlüsse zulassen. Etwas unterbeleuchtet bleiben die Kontinuitäten in Schurzʼ Haltung gegenüber den Native Americans. Herablassende Aussagen über die amerikanischen Ureinwohner:innen, mit denen sich die siedlerkoloniale Expansion der USA rechtfertigen ließe, finden sich bereits in Schurzʼ früheren Reden aus der Vor-Bürgerkriegszeit, sodass eher von einer Verhärtung rassistischer Einstellungen als von einer Abkehr von universalistischen Prinzipien gesprochen werden sollte.2 Dies ändert aber nichts daran, dass es nach der Lektüre des Buches schwerfällt, in Schurz einen vorbildlichen Bürgerrechtler oder gar einen Antirassisten zu sehen. Seine Politik war auf widersprüchliche und oft schmerzhafte Weise anschlussfähig an revolutionäre wie auch reaktionäre Diskurse. Ob Wilm damit die erinnerungspolitische Debatte, in der viel Halbwissen und noch mehr Emotionen kursieren, versachlichen kann, bleibt abzuwarten. Verdient hätte es das Thema allemal.

Anmerkungen:
1 Exemplarisch sind Bruce Levine, The Spirit of 1848. German Immigrants, Labor Conflict, and the Coming of the Civil War, Urbana 1992; Alison Efford, German Immigrants, Race, and Citizenship in the Civil War Era, New York 2013.
2 Siehe zum Beispiel Carl Schurz, “The Doom of Slavery”. August 1, 1860, in: Frederic Bancroft (Hrsg.), Speeches, Correspondence and Political Papers of Carl Schurz. Vol. 1, New York 1913, S. 158.

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