Der Sammelband „Ver/störende Orte“ beschäftigt sich mit Gebäuden, Orten und Denkmälern in Österreich und Deutschland, die eine nationalsozialistische Vergangenheit haben. Leider schöpft der Band sein Potential nicht voll aus. Das zeigt sich an verschiedenen Aspekten, auf die im Folgenden eingegangen wird. In ihrer Einleitung halten die Herausgeber:innen fest, es sei in Österreich und in Deutschland ungeklärt, wie mit „durch NS-Gebrauch ‚kontaminierten‘ Gebäuden“ umgegangen werden soll (S. 7). Sie konstatieren „ein deutliches Unbehagen sowohl an der Praxis der Nutzung als auch der Nicht-Nutzung“ dreier derartiger Gebäude in Österreich (S. 8).1 Ihnen zufolge sollte in der Gegenwart ermittelt werden, „auf welche Art und Weise die Geschichte der Bauten sowie ihre Bedeutung für das NS-Gewalt- und Terrorsystem multiperspektivisch wahrnehmbar gemacht werden können“ (ebd.). Die Beiträge des Bandes sollen an verschiedenen Beispielen die „Entstehungsgeschichte“ von Gebäuden während der NS-Zeit beziehungsweise die damalige (Um-)Nutzung älterer Bauten, aber auch den Umgang mit diesen Gebäuden nach 1945 und den „Wandel von Erinnerungspolitik“ (S. 9) nachzeichnen.
Der Band ist in fünf Abschnitte eingeteilt, denen eine kurze Einleitung der Herausgeber:innen vorangestellt ist. Leider gibt es kein zusammenfassendes Schlusswort. Der erste Abschnitt dreht sich um Fragen des architektonischen Umgangs mit ehemals nationalsozialistischen Gebäuden und Denkmalschutz. Es folgt ein Abschnitt zu öffentlich – insbesondere staatlich – genutzten Gebäuden in Österreich sowohl während als auch nach der NS-Herrschaft. In einem Fall werden Denkmäler an der Universität Innsbruck thematisiert. Der dritte Abschnitt behandelt den „Umgang mit ‚mythischen‘ Orten“ – dazu zählen etwa der Altan der Neuen Burg in Wien oder Hitlers Geburtshaus in Braunau am Inn. Auch Gebäude (respektive Orte) in Deutschland werden hier behandelt, etwa die Stadt Weimar. Im vorletzten Abschnitt zu Denkmälern mit NS-Bezügen finden sich ein Interview mit Urte Evert, Museumsleiterin der Zitadelle Berlin-Spandau, ein Beitrag zu Denkmälern in Linz sowie ein Text zur Linzer Grottenbahn am Pöstlingberg. Der letzte Abschnitt „Jenseits des Nationalsozialismus“ umfasst nur zwei Beiträge: einen zum „Tal der Gefallenen“, einer großen franquistischen Denkmalsanlage in Spanien, die erst ab 2019 teilweise umgestaltet und 2022 offiziell umbenannt wurde, sowie ein Gespräch zu zwei faschistischen Gebäuden im italienischen Bozen.
Weder in der Einleitung noch in einem Fazit verknüpfen die Herausgeber:innen die Thesen der Beiträge miteinander, obwohl der Band auf zwei Tagungen basiert (S. 8). Sie ordnen den Band in ihrer Einleitung genauso wenig in die bestehende Forschung zum Umgang mit der NS-Vergangenheit in Deutschland und Österreich wie in das Feld der Public History ein. In ihrem Beitrag über architektonische Projekte zur Erinnerung an den Nationalsozialismus definieren die Architektin Gabu Heindl und der Publizist Drehli Robnik Public History zunächst als „konfliktorientiert[e]“ Vermittlung von Geschichte, „die im Kontext eines radikaldemokratischen politischen Handelns (auch in seinen Äußerungsformen als Text) positioniert ist“ (S. 11), nehmen dabei aber keinerlei Bezug auf Autor:innen im Feld und grenzen ihre Definition nicht von anderen ab.2 Das ist spätestens dann fragwürdig, wenn sie Thesen zur Public History aufstellen, ohne sie mit Annahmen der Forschung zu untermauern, etwa wenn Heindl / Robnik schreiben: „Konfliktorientierte Public History umfasst das Beziehen von klaren, eindeutigen Positionen nicht zuletzt gegenüber einem Ambivalenz-Dogma.“ (S. 15) Mit diesem „Dogma“ sind offenbar Forderungen danach gemeint, die Ambivalenz von Geschichte im öffentlichen Raum zu zeigen.
Generell ist die Begriffsarbeit im Sammelband unzureichend. Das betrifft besonders den Begriff „Kontamination“, der nirgendwo definiert wird, obwohl er für den Band zentral ist, wie dessen Untertitel zeigt. Weder Herausgeber:innen noch Autor:innen begründen zudem, warum sie gerade diesen Begriff verwenden und welche Alternativen es geben könnte.
In seinem Beitrag zum Altan der Neuen Burg in Wien sieht Stefan Benedik diesen Ort als „zentrale[n] Bezugspunkt der Diskursfigur des ‚Anschlusstaumels‘“ im kommunikativen Gedächtnis (S. 115), erklärt aber nicht, was er unter „Diskursfigur“ versteht. Das wäre ob des breiten Bedeutungsspektrums des Diskursbegriffs jedoch nützlich.3 Weiter schlägt er in Bezug auf den Altan eine „radikale Demokratisierung“ vor (S. 116), präzisiert diesen Begriff allerdings ebenfalls nicht.4 In seinem Schlusswort ist dann nur mehr von einer „Demokratisierung“ die Rede, unter der Benedik die „möglichst breite Öffnung“ des Altans zu verstehen scheint (S. 135). Im Interview zu baulichen Überresten des Faschismus in Bozen spricht Hannes Obermaier in Bezug auf Statuenstürme in den USA und in Großbritannien von „toxischen Erinnerungskulturen“ (S. 254). „Toxisch“ ist erneut ein Begriff, der ohne Konkretisierung schwammig bleibt.
Die Autor:innen eines Großteils der Beiträge beschränken sich meist darauf, die Geschichte der behandelten Gebäude, deren Bedeutungen sowie den Umgang mit denselben im 20. und 21. Jahrhundert nachzuerzählen. Ein Beispiel für diesen deskriptiven Schwerpunkt der Texte ist jener von Verena Pawlowsky zur Geschichte des um 1880 errichteten Wiener Parlamentsgebäudes als „Gauhaus“ (1940–1945). Sie hält zu Beginn fest, der Aufsatz solle die Geschichte des Gebäudes, dessen Bedeutung und Bedeutungswandel nachzeichnen (S. 37). Das Ergebnis ist ein spannender und klarer Text zu Geschichte, Bedeutung und Umdeutung des Hauses seit 1933/38, aber keiner, der Fragen zum gegenwärtigen Umgang mit dem Gebäude diskutiert. Auch Hilde Strobl und Christian Mathies beschränken sich in ihrem Beitrag weitgehend darauf, die Geschichte des 1938/39 errichteten Neuen Landhauses in Innsbruck zu schildern, wo heute die Tiroler Landesregierung ihren Sitz hat. Abschließend schreiben sie: „Grundsätzlich stellt sich im Umgang mit dem Tiroler Neuen Landhaus nach wie vor die Frage, woran genau erinnert werden soll.“ (S. 68) Es ist schade, dass die Autor:innen den Schwerpunkt ihres Texts nicht darauf gelegt haben, diese Frage für die Gegenwart zu diskutieren, wie der Titel des Sammelbandes vermuten lassen würde. Nils Olger, Gudrun Rath und Renée Winter wiederum äußern kein klares Anliegen ihrer Ausführungen zur Geschichte der 1906 eröffneten Grottenbahn am Linzer Pöstlingberg. Häufig bleibt offen, warum die eine oder andere Information relevant ist oder welchen Zweck die direkten Zitate im Text erfüllen. In ihrer Schlussfolgerung formulieren die Autor:innen dann allerdings spannende Thesen, etwa jene, dass mit dem begehbaren Modell des Linzer Hauptplatzes in der Grottenbahn ab 1950 „eine Entkoppelung der Vergangenheit von der durch den Nationalsozialismus geformten Gegenwart“ stattfand, indem das Modell den Hauptplatz in seiner Gestalt vor der nationalsozialistischen Umgestaltung zeigt (S. 221f.). Es hätte dem Beitrag gutgetan, diese These gleich zu Beginn zu formulieren und die folgenden Erläuterungen klar ersichtlich als Argumente für selbige anzuführen.
Trotz aller Kritik gibt es auch Positives hervorzuheben: Die visuelle Gestaltung der Publikation ist gelungen, und der Band ist passend zum Thema reich bebildert. Eine gute Ergänzung zu den zwölf wissenschaftlichen Beiträgen sind die sechs Gespräche, die mit verschiedenen Persönlichkeiten aus den Bereichen Denkmalpflege und Museumswesen sowie Engagierten der Erinnerungspolitik geführt wurden. Im Interview mit Urte Evert geht es (wie sonst zu selten in diesem Sammelband) durchweg um den Umgang mit NS-belasteten Objekten in der Gegenwart, hier speziell mit Josef Thoraks für die Neue Reichskanzlei bestimmten „Schreitenden Pferden“ von 1939, die erst seit kurzem wieder zu sehen sind. Wünschenswert wäre es aber gewesen, in den Interview-Fragen Bezug auf die Beiträge oder die vorausgehenden Tagungen zu nehmen. Ebenso hätten die Fragen etwas provokativer, diskussionsorientierter ausfallen dürfen. Das Gespräch mit Arne Cornelius Wasmuth zur Neugestaltung der Saalecker Werkstätten, dem früheren Wohn- und Arbeitsumfeld des Architekten und Rassenideologen Paul Schultze-Naumburg (1869–1949)5 in der Nähe der Stadt Naumburg, ist etwa mehr Bericht als Interview.
Die Leerstellen des Bandes hinterlassen Anregungen für weitere Forschungen und Debatten. Besonders wichtig scheint es zu sein, in Zukunft vermehrt zu fragen, wie man den Umgang mit NS-belasteten Gebäuden auf fundierter Wissensbasis gemeinsam mit der breiten Öffentlichkeit diskutieren kann. Denn die „klare Haltung im Umgang mit durch NS-Gebrauch ‚kontaminierten‘ Gebäuden“ (S. 7), welche die Herausgeber:innen in der Einleitung zu vermissen scheinen, kann in heterogenen und demokratischen Gesellschaften ja vielleicht gar nicht eindeutig gefunden werden.
Anmerkungen:
1 Dies sind die Linzer Brückenkopfgebäude, der ehemalige NS-Verwaltungssitz für den Reichsgau Tirol-Vorarlberg in Innsbruck und der Altan der Neuen Burg in Wien (S. 8).
2 Für einen Überblick zu den verschiedenen Definitionen des Begriffs Public History siehe Martin Lücke / Irmgard Zündorf, Einführung in die Public History, Göttingen 2018, S. 21–28.
3 Vgl. dazu etwa Achim Landwehr, Diskurs und Diskursgeschichte, Version: 2.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 01.03.2018, http://docupedia.de/zg/Landwehr_diskursgeschichte_v2_de_2018 (03.08.2024); Marian Füssel / Tim Neu, Diskursforschung in der Geschichtswissenschaft, in: Johannes Angermuller u.a. (Hrsg.), Diskursforschung. Ein interdisziplinäres Handbuch, Bd. 1: Theorien, Methodologien und Kontroversen, Bielefeld 2014, S. 145–161.
4 Heindl / Robnik verwenden diesen Begriff auch, erläutern ihn im Gegensatz zu Benedik aber kurz (S. 11).
5 Siehe jetzt Rainer Schmitz / Johanna Söhnigen, Paul Schultze-Naumburg. Die Netzwerke des Kultur- und Rassentheoretikers, Berlin 2024.