Der vorliegende Sammelband dokumentiert die Vorträge des Dachauer Symposiums zur Zeitgeschichte von Oktober 2022. Im Zentrum steht der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine sowie der Befund, dass die damit verbundene „Zeitenwende“ nicht nur Politik und internationale Sicherheitslage betreffe, sondern auch für Wissenschaft und Gesellschaft eine Zäsur darstelle. Damit geraten gleichermaßen wichtige wie diverse Themen wie die Bedeutung von Narrativen zum Verständnis der aktuellen Lage, das Verhältnis zur Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts, der Umgang mit dem Nationalsozialismus oder die Selbstreflexion der Osteuropa-Forschung ins Blickfeld. Diesen Bogen spannen die Herausgeber:innen in ihrer Einführung auf. Sie leiten die Relevanz der Beiträge aus dem veränderten Verhältnis von Politik und Gesellschaft zu Krieg und Wehrhaftigkeit her. Im Kern gehe es, so Sybille Steinbacher und Dietmar Süß, „um das Verhältnis der Bundesrepublik zum Militärischen und die Prägekraft des Pazifismus“ (S. 11), den Umgang mit Diktaturen, die Frage, ob und was wir aus der Geschichte des Nationalsozialismus lernen und darum, „Geschichte und Geschichtspolitik als Waffe des Krieges zu kontextualisieren“ (S. 15) – Fragen also, die angesichts des aktuellen Krieges auf dem Gebiet deutscher Massenverbrechen während des Zweiten Weltkrieges sowie der Erkenntnis, dass die historische Aufarbeitung nicht die erhoffte Tiefenwirkung gezeigt habe, eine erneute Aktualität erhielten. Sich damit aus verschiedenen Perspektiven auseinanderzusetzen sei die Voraussetzung für das Verständnis der Entwicklung und der Legitimation des Krieges, aber auch für die Zukunft der Osteuropa-Wissenschaft und die Beziehungen zwischen Deutschland, Russland und der Ukraine.
Das Buch ist in vier Abschnitte gegliedert, denen ein Beitrag von Natalia Kolyagina zur Entwicklung der inzwischen aufgelösten Gesellschaft Memorial im Kontext der staatlichen, russischen Geschichtspolitik vorangestellt ist. Die Verknüpfung der Geschichte von Memorial mit den Etappen des staatlichen Umgangs mit Geschichte und Erinnerung zeigt eindrücklich die „Koexistenz zweier Formen der Erinnerung an die sowjetische Vergangenheit im zeitgenössischen Russland“ (S. 39). Dabei orientiert sich die Autorin an dem Begriff der Gedenkpolitik von Valérie Rosoux, mit dem es gelingt, die Ebene der individuellen und kulturellen Bedeutung von Erinnerung um eine politische Dimension zu erweitern.
Der folgende erste Abschnitt widmet sich dem ukrainisch-russischen Verhältnis in den 1990er-Jahren. Martin Aust reflektiert seine eigene Forschung zum Umgang mit dem imperialen Erbe in Russland und seine Definition des Imperiums-Begriffs sowie verschiedene weitere Erklärungsansätze für die Politik Russlands innerhalb der Osteuropa-Forschung. Franziska Davies zeichnet den „Umgang mit Holodomor und Holocaust in der Ukraine“ nach und macht so verständlich, warum der Holodomor „konstitutiv für die moderne ukrainische nationale Identität“ (S. 63) ist. Die Tatsache, dass der Holodomor „als Teil der Unterdrückungsgeschichte der Ukraine, während der Holocaust eher als Fremdkörper […] erscheint“ (S. 64), erklärt sie daraus, dass der Holocaust nie „Gegenstand einer offensiven Geschichtspolitik des Staates“ (S. 82) war. Die Krim im Kontext des Zerfalls der Sowjetunion ist das Thema des Artikels von Jan Zofka. Detailliert geht er auf die politischen und historischen Debatten über das Rückkehrrecht der Krimtataren, die Autonomie der Krim in den 1920er- und 1930er-Jahren und der Ethnogenese der Krimtataren ein. Seine luzide Analyse der Positionierung regionaler Machthaber und lokaler staatlicher Institutionen am Beispiel der Krim ist ein wichtiger Beitrag zum Verständnis „des partiell gescheiterten Versuchs eines Aufbaus von Regierungsstrukturen in den besetzten Gebieten der Ukraine 2022 durch die russischen Besatzer“ (S. 106).
Im zweiten Abschnitt zu „Verbrechensgeschichte. Vom Umgang mit dem Nationalsozialismus und dem Zweiten Weltkrieg“ steht die Frage im Fokus, „ob und wie Putins Angriff auf das Land die Auseinandersetzung mit der NS-Zeit heute und in Zukunft womöglich verändern kann“ (S. 17). Volkhard Knigge schaut auf das breite Spektrum von Bezugnahmen, Vergleichen und Analogien zu Hitler, dem Nationalsozialismus und dem Vernichtungskrieg, die immer wieder in den Debatten zum Euromajdan, der Annexion der Krim und dem Angriffskrieg auftauchen. Vor dem Hintergrund der Geschichte von NS-Vergleichen und deren politischen Zwecken in Deutschland seit 1945 analysiert er deren Gebrauch und beabsichtigte Wirkung seit Ausbruch des Ukraine-Krieges. Damit, so Knigge, sind NS-Vergleiche in ein „Koordinaten- und Konfrontationssystem eingebracht worden […], das auch die Debatte um die richtige Haltung zur Ukraine und gegenüber Putin und dessen Krieg deutlich prägt“ (S. 124). Als Eckpunkte dieses Systems benennt er die „rechtlich und moralisch begründete Bejahung militärischer Interventionen und Kriegseinsätze und deren kategorische, pazifistisch begründete Ablehnung“ (S. 124). Im Kern gehe es um „die Wahrung und Weiterentwicklung einer Kultur des historischen Erinnerns“, um Differenzierungs- und Urteilsvermögen (S. 149). Die „Opferrhetorik in der Geschichtspolitik Russlands“ der Jahre 2020 bis 2023 macht Katja Makhotina zum Thema. Mit dem Krieg und seiner Legitimation, so die Autorin, habe sich das Narrativ vom Selbstbild als Heldennation hin zur Eigendarstellung als Opfer des „kollektiven Westens“ geändert. Zwar bleibe der zentrale Bezugspunkt der Sieg im Großen Vaterländischen Krieg, dieser werde jedoch in der „Tendenz zur Selbstviktimisierung“ (S. 145) sowohl mit den Schrecken des Zweiten Weltkrieges unter deutscher Besatzung als auch der angeblichen Bedrohung von Russen außerhalb der russischen Grenzen in dem Konzept des Genozids am russischen Volk verknüpft. Auf diese Weise nutze der Staat das Potential des Opferbegriffs für die nationale Einigung, da der Verweis auf die Wiederherstellung des Imperiums zur Sinnstiftung offenbar nicht ausreiche. „Geschichtspolitik in Bezug auf den Zweiten Weltkrieg ist also nicht mehr nur der Siegestriumph, sondern Teil eines veränderten Genozid-Diskurses“ (S. 155), in dem Begriffe wie Faschismus, Kollaboration und Okkupation neu besetzt werden können. Wie sich diese Legitimation und das radikalisierte Geschichtsbild des russischen Präsidenten in der staatlichen Propaganda niederschlagen, untersucht im Anschluss der Beitrag von Timm Schönfelder.
Diesen Faden greift der Text von Joachim von Puttkamer im dritten Abschnitt auf (mit der Überschrift „Die Idee vom russischen Imperium im postimperialen Zeitalter“). Von Puttkamer durchleuchtet die von Putin in seinen Reden und Texten zu historischen Fragen benannten Kriegsziele, die er im Feld zwischen territorialen Zielen zur Wiederherstellung des Imperiums, der Zerstörung der Ukraine als Nationalstaat sowie geopolitischen Zielen zur angeblichen Verteidigung gegen den „kollektiven Westen“ verortet. Dabei legt sich der Autor nicht fest, ob die Kriegsziele „einigermaßen klar auf der Hand“ liegen, „changieren“, „verschleiert“ werden oder schwer zu „identifizieren“ sind. In jedem Fall handele es sich um einen „Krieg nicht um die Zukunft, sondern um die Vergangenheit“, um „die Geschichte einer globalen Moderne aufzuhalten“ (S. 199). Vor diesem Hintergrund führe Putin den Krieg letztlich „um seiner selbst willen […], weil sich die russische Gesellschaft nur so vom Westen abschotten lässt“ (S. 200). Die Propaganda der Russisch-Orthodoxen Kirche ist Gegenstand des Textes von Alena Alshanskaya. Ihre Ausführungen lassen keinen Zweifel daran, wie eng Kirche und Staat verbunden sind und dass sich die Kirchenleitung bereitwillig vom Staat zur Legitimation des Krieges benutzen lässt, unter anderem indem sich bereits seit Jahren das Konzept der „Russischen Welt“ („Russkij Mir“) vertritt und scheinbar religiös untermauert. Teilweise absurde Begründungen der Rechtmäßigkeit des Krieges gegen die Ukraine und des Kampfes gegen den vermeintlich moralisch diskreditierten Westen verdeutlicht die Autorin an zahlreichen Beispielen kirchlich kuratierter Ausstellungen, der Zusammenarbeit mit den Streitkräften und militär-patriotischer Jugendarbeit.
Der Band schließt mit dem Skript der Podiumsdiskussion zwischen Martin Aust, Franziska Davies, Katja Makhotina, Joachim von Puttkamer und der digital zugeschalteten Irina Scherbakowa zu der Leitfrage der Tagung, ob und in welcher Weise der 24. Februar 2022 eine geschichtspolitische Zäsur gewesen sei. Bisher nicht angesprochene, neue Aspekte sind hier die koloniale Perspektive auf die russisch-ukrainischen Beziehungen (Franziska Davies, S. 233) sowie das „Plädoyer für Geschichtswissenschaft in der Öffentlichkeit“ (Martin Aust, S. 236), also die aktive Beteiligung von Historiker:innen an der öffentlichen Debatte. Dazu leistet der vorliegende Band einen Beitrag, indem wissenschaftliche Positionen und Hintergründe zur Bedeutung und Rolle von Geschichte nach der Zeitenwende gut lesbar erschlossen werden. Misslich ist die durchgängig uneinheitliche Umschrift russischer und ukrainischer Namen und Orte. Auch hätte ein das Personenregister ergänzendes Sachregister den Zugang zu den vielfältigen Themen erleichtert.