M. Hengerer (Hrsg.): Der Körper in der Frühen Neuzeit

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Titel
Der Körper in der Frühen Neuzeit. Praktiken, Rituale, Performanz


Herausgeber
Hengerer, Mark
Reihe
Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung
Erschienen
Wiesbaden 2023: Harrassowitz Verlag
Anzahl Seiten
408 S.
Preis
€ 78,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Malte Wittmaack, Geschichte des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, Universität Bielefeld

Dass die Körpergeschichte nach wie vor ein innovatives Forschungsfeld ist, das durch seine Ansätze wichtige Einsichten in frühneuzeitliche Gesellschaften verspricht, zeigt der interdisziplinäre Band, der aus dem 15. Jahrestreffen des Wolfenbütteler Arbeitskreises für Barockforschung hervorgegangen ist und von Mark Hengerer herausgegeben wurde.

Die zentrale These des Bandes ist, dass Prozesse der Vergesellschaftung „in hohem Maße über Praktiken und performative Inszenierungen der Körper […] verlaufen“ (S. 9). Der Band orientiert sich mit der Gliederung an einem kommunikations- und medientheoretischen Ansatz, der insbesondere auf die Transformation der frühneuzeitlichen medialen Ordnung abhebt und ist in drei Sektionen gegliedert: Literaturen, Magie und Religion, sowie Visualisierungen und Performanzen.

In der ersten Sektion, Literaturen, steht die Inszenierung des ‚Körpers‘ im Kontext seiner literarischen Funktion im Mittelpunkt. Der Beitrag von Vera Gutsche etwa zeigt überzeugend, wie die Darstellung eines Helden im höfischen Roman der Frühen Neuzeit vor allem über die Körperinszenierung funktionierte. So habe die Thematisierung eines ‚schönen‘ Körpers eine „doppelte Verweisfunktion“, indem dieser Körper nicht nur auf die Tugendhaftigkeit des Helden verweise, sondern zugleich über den Menschen hinausweise und zum Zeichen der „göttlichen, wohleingerichteten Weltordnung wird“ (S. 28). Der Körper kann dabei nicht nur als der ‚schöne‘ Körper auftreten, sondern im Kontext des Romans auch als ‚uneindeutiger, verwundeter oder kämpfender Körper in Erscheinung treten. Damit zeigt die Autorin, wie ein körperhistorischer Zugriff der Frage nach der Konstitution eines Helden analytische Tiefenschärfe geben kann.

Miriam Seidler hingegen beschäftigt sich nicht mit der Körperlichkeit im Sinne des äußeren Erscheinungsbildes, sondern rückt am Beispiel von Grimmelshausens „Das wunderbarliche Vogelnest“ die Leiblichkeit und damit die Frage nach der Bedeutung von Körpererfahrung in den Mittelpunkt. Sie zeigt, wie Grimmelshausen die Leiblichkeit seines Protagonisten Michael Reuchlin nutzt, um den Körper innerhalb der Erzählung als einen „Seismograph für den Gefühlszustand der Figur“ (S. 45) zu inszenieren. Körperempfindungen kann Mirjam Seidler als zentral für das Erlernen von Körperpraktiken und so auch die für Vergesellschaftung Reuchlins in der literarischen Fiktion ausweisen.

Die transkulturelle und geschlechtliche Inszenierung des Körpers in einer Autobiographie eröffnet der Beitrag von Zrinka Blažević. Am Beispiel von Osman Ağa, der als osmanischer Reserveoffizier in habsburgische Kriegsgefangenschaft geriet, wird Männlichkeit in der Frühen Neuzeit in Phasen des Übergangs betrachtet. Die Männlichkeit Osman Ağas wird durch seine Gefangenahme zu einer „untergeordneten Männlichkeit“ (S. 103), die sich im Text vor allem auch körperlich manfestiert, wenn Osman Ağa etwa Hunger und Fiebererkrankungen durchmachen musste. Durch nächtliche Gaststättenbesuche, Raufereien und Duelle, konnte Osman Ağa über die Partizipation an männlichen und eben auch stark körperlichen Aktivitäten seine Männlichkeit teilweise wiederherstellen. Zrinka Blažević spricht in diesem Zusammenhang von „kompensatorische(r) Männlichkeit“ (S. 110).

Die zweite Sektion „Magie und Religion“ widmet sich der Einbindung des Körpers in magische und religiöse Bedeutungszusammenhänge. Eva Labouvie streicht die Bedeutung der Beziehung des Körpers zu seiner Umwelt heraus. Sie analysiert, wie im Kontext der Verwendung von Magie einzelne Teile des Körpers wie etwa Körperflüssigkeiten oder Haare als „Symbol der unteilbaren Persönlichkeit des Patienten“ (S. 122) verwendet wurden. Damit präsentiert sie ein historisch spezifisches Teil-Ganzes-Verhältnis, dass das humoralpathologische Körperkonzept und somit zentral den Umgang mit dem Körper in der Frühen Neuzeit auszeichnete.

Phillip Knäble untersucht den Tanz als Körperpraxis im Kontext von Liturgie und Kirche. Dabei legt Knäble insbesondere die Spannungsfelder offen, die sich aus der Auseinandersetzung um den Tanz in den Debatten des 16. und 17. Jahrhunderts ergaben. So war es zwar das erklärte Ziel, den Tanz aus dem Bereich des Liturgischen zu verbannen, doch der Tanz blieb gleichzeitig Teil der höfischen Kultur. Dies konnte hochrangige Kleriker in Konflikt bringen. Besonders spannend sind Knäbles Überlegungen dort, wo er die Debatte um den Tanz als Teil der konfessionellen Polemik zwischen Katholiken und Calvinisten untersucht. Denn die Calvinisten versuchten häufig, Elemente katholischer Liturgie als Tanz zu problematisieren, um die Frömmigkeit des katholischen Gegners in Frage zu stellen.

Tschechische Traktate zu sogenannten „Monstergeburten“ untersucht Hana Jadrná Matějková und weist so die Verflechtung von religiösen Diskursen des Körperwissens aus. Der böhmische protestantische Pfarrer Jiří Tesák Mošovský äußerte sich in seiner Predigt zwar über Monstergeburten, er ging jedoch nicht dezidiert auf die einzelnen Fehlbildungen ein, was im Reich üblich war. Mošovský hob stattdessen nur allgemein die Sündhaftigkeit als Ursache der Fehlbildungen hervor. Die böhmischen Debatten um die Monstren, so Matějková, sind als Teil des Reichsdiskurses zu sehen, obwohl sich in den Ländern der böhmischen Krone keine breite Diskussion um Monstren entfaltete.

Visualisierungen und Performanz ist das Thema der letzten Sektion des Bandes. Anhand venezianischer Karikaturen von Opernsängerinnen und Sängern wendet sich Vera Grund der Frage nach der genrespezifischen Darstellung von per se performativen Körpern zu. Sie zeigt am Beispiel der Karikaturen von Anton Maria Zanetti, wie die Karikatur hier nicht dazu dient, die dargestellten Sänger:innen lächerlich zu machen, sondern ganz im Gegenteil ihre besondere Befähigung in den Vordergrund zu rücken. Die sichtbaren ästhetischen Defizite der Sänger:innen waren ein Bruch mit dem barocken Schönheitsideal. Die Sänger:innen wurden so vom Vorwurf der Eitelkeit befreit und einem „Trend der Natürlichkeit“ (S. 287) zugeschlagen, der seit dem späten 18. Jahrhundert immer wichtiger wurde. Die Karikatur diente nicht zur Verunglimpfung, sondern ganz im Gegenteil dazu, die Vorzüge der dargestellten Personen unter geänderten diskursiven Vorzeichen herauszuarbeiten.

Einen transkulturellen Blick der Herrnhuter Brüder auf Visualität und Performanz von Körpern untersucht Barbara Becker-Cantarino. Dabei analysiert sie nicht nur die Darstellung konkreter menschlicher Körper, sondern befasst sich zudem mit Aspekten der Kartographie, in der etwa die Personifizierung Amerikas als Frau von Bedeutung ist. Sie beschäftigt sich insbesondere mit den Darstellungen indigener Körper durch die Herrnhuter Brüder in Nordamerika. Im Laufe des 18. Jahrhunderts veränderte sich die Perspektive auf den indigenen Körper. Die Autorin spricht in diesem Zusammenhang von einer „Schwellenzeit der (europäischen) Körpergeschichte“ (S. 306). Am Ende dieser Schwelle habe sich die europäische Perspektive auf den Körper und damit auch die Verhüllung des Körpers durchgesetzt. Barbara Becker-Cantarino belegt dies an Fotographien aus dem 19. Jahrhundert, auf denen die Verhüllung des Körpers sichtbar wird und damit auch die Disziplinierung eines europäischen Kleidungsregimes deutlich zutage tritt.

Der Beitrag von M.A. Katritzky befasst sich mit dem Aspekt der Dis/ability History der Vormoderne. Am Fall des nach Europa verschleppten Shackshoone untersucht sie, wie die Performanz des beeinträchtigen Körpers und die nicht-europäische Herkunft Shackshoones in unterschiedlichen Quellen dargestellt werden. Dabei betrachtet sie Quellen aus dem Kontext der Rechtsprechung, genauso wie eine Anzeige aus einer Londoner Gazette. Sie kommt zu dem Schluss, dass die angebliche Monstrosität Shackshoons in den Rechtsquellen keine Rolle spielt. Ganz im Gegenteil seien seine Verschleppung und die ihm durch seinen Herrn auferlegten Arbeiten „terminated by the robustness of English legal system“ (S. 334). Katritzky zeigt auf diese Weise, wie entscheidend es ist, den vermeintlich gebrechlichen Körper in unterschiedlichen Quellenkontexten zu untersuchen.

Insgesamt liegt ein Sammelwerk vor, das auch in den hier nicht dezidiert vorgestellten Beiträgen die Vielschichtigkeit und vor allem die interdisziplinären Potentiale der körperhistorischen Forschung deutlich macht. Mit den sehr heterogenen Fallstudien liefert der Band nicht nur einen Überblick über den Stand und die Perspektiven der Forschung, sondern er regt dazu an, nach der Bedeutung von Körpern in sehr unterschiedlichen Untersuchungskontexten zu fragen. Der Band ist damit für Historiker:innen und Literaturwissenschaftler:innen gleichermaßen lesenswert.

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