Cover
Titel
Homes of the Past. A Lost Jewish Museum


Autor(en)
Shandler, Jeffrey
Reihe
Modern Jewish Experience
Erschienen
Anzahl Seiten
IX, 154 S.
Preis
$ 75.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Julia Roos, Leibniz-Institut für jüdische Geschichte und Kultur – Simon Dubnow, Leipzig

Im Mittelpunkt dieses Buchs stehen die nie verwirklichten Pläne für ein „Museum of the Homes of the Past“. An dessen Konzeption und Realisierung arbeiteten ab 1943 in New York Gelehrte des „Yidisher Visnshaftlekher Instituts“ (YIVO), dem Zentrum der Erforschung der jiddischen Sprache, Kultur und Geschichte. Jeffrey Shandler lenkt den Fokus damit auf einen bisher unbeachteten Aspekt der Geschichte dieser Institution1 sowie der Biografie zentraler Akteure wie Max Weinreich (1894–1969).2 Mit dem Blick auf über 100 Jahre des Sammelns, Bewahrens, Erforschens und Ausstellens jüdischer materieller Kultur bettet sich die Studie zudem in Forschungen zum Aufbau, zur Zerstreuung und Zerstörung beziehungsweise Rettung jüdischer Sammlungen sowie zu Fragen der Restitution ein.3 Shandler leistet damit einen wichtigen Beitrag zur Geschichte und Gegenwart jüdischer Museen sowie eine Reflexion über das Ausstellen von Verlust und Leere.

Obwohl es nicht realisiert wurde, ist das „Museum of the Homes of the Past“ weit mehr als eine Fußnote in der Institutsgeschichte. Durch den Blick auf die Anfänge des 1925 gegründeten YIVO mit seinem einstigen Hauptsitz in Wilna sowie Zweigstellen in Warschau, Berlin, New York und Paris verortet Shandler das weitgehend vergessene Museumsprojekt sowohl in einer Geschichte des Wissenstransfers als auch in einer Zeit tiefgreifender Umbrüche: Mit ihrer transatlantischen Perspektive zeichnet die Studie die Verschiebung der Zentren jüdischen Lebens vom östlichen Europa in die USA nach (wobei Palästina/Israel nur am Rande vorkommen). Die hervorragend geschriebene, aussagekräftig bebilderte Publikation folgt in ihren fünf Kapiteln gleichsam dem Schema eines klassischen Dramas; so tritt das Jahr 1943 als Schwellenmoment und Wendepunkt deutlich hervor. Das innovative Herzstück liegt im dritten Kapitel, in dem Shandler anhand bisher ungesichteter YIVO-Bestände nachzeichnet, was sich über das „Museum of the Homes of the Past“ rekonstruieren lässt.

Das erste Kapitel „The Turn to Museums“ bietet eine ausgezeichnete Zusammenfassung des Sammelns jüdischer materieller Kultur um die Jahrhundertwende sowie in der Zwischenkriegszeit. Konsequenterweise setzt es mit der Entstehung von Nationalmuseen in Europa ein: Das YIVO ist wohl diejenige Institution, die mit am stärksten für ein säkulares Verständnis der jiddischsprachigen Welt als ein Volk stand, beheimatet im „Jiddischland“. Dadurch, dass Shandler neben Ost- auch Westeuropa einbezieht, kommen die unterschiedlichen Verständnisse von „yidishkeyt“ als Nation beziehungsweise Judentum als Konfession klar zum Ausdruck.

Im zweiten Kapitel „Home on Two Continents“ rückt das YIVO in den Mittelpunkt, erzählt mit einem Fokus auf seinen Aktivitäten im Bereich des Sammelns, Bewahrens, Erforschens und Ausstellens materieller Kultur. Für Europa beschreibt Shandler zudem die ethnografischen Bemühungen von Simon Dubnow (1860–1941) und Salomon An-ski (1863–1920) als Kampf gegen die Verluste in Folge von Modernisierung, Urbanisierung, Gewalt und Krieg. Die „amopteyl“ (kurz für „amerikaner opteyl“, jiddisch für „amerikanische Sektion“) war zu diesem Zeitpunkt als kleine Einrichtung in erste Linie mit dem Einwerben von Spenden beschäftigt. Sie wurde ab 1940/41 zum Hauptsitz, während in Wilna die Deutschen die YIVO-Sammlung beschlagnahmten und die „Papierbrigade“ unter Lebensgefahr Bücher sowie Manuskripte versteckte.

Im dritten Kapitel wirkt das Existenzgefälle zwischen Europa und den USA kaum mehr erträglich: Während die Deutschen im einstigen „Jerusalem des Ostens“ das Ghetto liquidierten, wurden in New York Konzeptpapiere verfasst. Auf der Jahreskonferenz des YIVO im Januar 1944 stellte Max Weinreich die Idee für ein „Museum of the Homes of the Past“ erstmals öffentlich vor. Er betonte, dass in den USA vielleicht mehr Zeugnisse des „Jiddischland“ erhalten blieben als in Europa. Der jiddische Museumsname – „di alte heymen“ – wirft mit seiner ungewöhnlichen Pluralform ein Schlaglicht auf ein Bewusstsein für die geografische Vielfalt der Region. Die Übertragung ins Englische mit „Past“ statt „Old“ macht deutlich, wie sehr man sich bereits Anfang 1944 der Endgültigkeit der Zerstörung bewusst war. Der Forschungsgegenstand des YIVO wurde von lebendiger Gegenwart zu ausgelöschter Vergangenheit, zum Museumsinhalt.

Mit breit publizierten Sammelaufrufen für das Museum knüpfte das YIVO New York erfolgreich an frühere Aktivitäten in Europa an. Wann und warum die Museumsinitiative dennoch ad acta gelegt wurde, konnte Shandler nicht klären. Neben finanziellen und personellen Engpässen werfen die im Buch skizzierten Entwicklungen jedoch ein Schlaglicht auf die Bedeutungsverschiebung, die mit dem Holocaust eintrat: Erstens begann der Aufstieg dessen, was wir heute als „Holocaust Studies“ bezeichnen – das YIVO fing an, Dokumente der NS-Herrschaft zu sammeln, und zeigte 1947 eine Ausstellung über Juden in Europa unter deutscher Besatzung. Zweitens wurde die Rettung von Überresten der Wilnaer Sammlungen wichtig. Am Anfang des vierten Kapitels schildert Shandler, wie Weinreich sich bereits ab 1942 für deren Transfer nach New York einsetzte. Wie es gelang, die Teile der YIVO-Sammlung aus dem Offenbacher Depot trotz des Territorialprinzips nicht in die Litauische Sozialistische Sowjetrepublik zu repatriieren, sondern in das „neue Jiddischland“ New York zu bringen, lässt sich vertiefend (besser) bei Bilha Shilo nachlesen.4

Im vierten und fünften Kapitel stehen Erinnerungsprojekte an die osteuropäischen jüdischen Lebenswelten im Mittelpunkt. Mit „Afterlife of the Past“ (Kapitel 4) und „Homes of the Past Today“ (Kapitel 5) überschrieben, sind sie eigentlich weiterhin chronologisch und nicht geografisch angelegt. Doch bricht Shandler hier mit der bis dahin konsequent transatlantischen Erzählstruktur: Das vierte Kapitel analysiert ausschließlich US-amerikanische Projekte; Schwerpunkte des fünften Kapitels sind dann Polen und Litauen (mit Exkursen nach Israel, Moskau und Südafrika). Da die von Shandler thematisierten amerikanischen Vorhaben wie Fotobände – die Yizher bikher, Erinnerungsbücher der zerstörten jüdischen Gemeinden – sowie wissenschaftliche Publikationen teils mit, teils aber auch ohne Verbindung zum YIVO entstanden, wird nicht transparent, warum vergleichbare europäische Projekte keine Erwähnung finden. Denn auch in Europa gab es frühe Ausstellungen wie diejenige des YIVO 19475, auch das Jüdische Historische Institut in Warschau fotografierte in den 1960er-Jahren das jüdische materielle Erbe6, Joseph Wulf veröffentlichte Schallplatten mit jiddischen Liedern, und die Jüdische Gemeinde zu Berlin zeigte Ausstellungen wie „Historia Hebraica“, welche die jüdische Kultur des östlichen Europas visualisierten.7

Deutlich wird, dass bei vielen Nachkriegsprojekten das „Jiddischland“ in einer jahrhundertelangen, scheinbar raum- und zeitlosen Tradition verschwamm – im Kontrast zur Konzeption des „Museums of the Homes of the Past“. Dass während der 1970er-Jahre im YIVO die Betonung von Diversität jüdischer Kultur an die Stelle eines nationalen Verständnisses trat, wie Shandler anhand des Buch-, Ausstellungs- und Filmprojekts „Images Before My Eyes“ zeigt, führt der Autor auf einen Generationswechsel zurück. Doch rang das YIVO bereits vorher damit, dass die Idee eines „Jiddischland“ als Nation weder in die USA der Mitte des 20. Jahrhunderts passte noch in eine Welt, in der es ab 1948 mit Israel einen jüdischen Staat gab. Der veränderte Blick auf Osteuropa hätte hier noch stärker eingebettet werden können in eben jene Kontroversen, in deren Folge Weinreich bereits 1950 als wissenschaftlicher Leiter zurücktrat.8

Das fünfte Kapitel setzt mit dem Zusammenbruch des Ostblocks ein. Unter anderem anhand der mittlerweile als Museen genutzten Synagogen in den polnischen Städten Łańcut und Tykocin oder dem Lost Shtetl Museum, das 2025 im litauischen Šeduva eröffnen soll, zeigt Shandler einen Shtetl-Boom auf, der übersieht, dass die Mehrheit der Jüdinnen und Juden in Großstädten gelebt hatte. Alternative Narrative skizziert Shandler anhand der neueren Ausstellungsprojekte von Natalia Romik und Erica Lehrer sowie des 2014 eröffneten Museums der Geschichte der polnischen Juden (POLIN) in Warschau. Hier hätten sich beispielsweise über Barbara Kirshenblatt-Gimblett, welche die Ausstellung „Images Before My Eyes“ im YIVO mitkuratiert hatte und später Chefkuratorin der Dauerausstellung des POLIN war, erneut Fäden über den Atlantik spinnen lassen. Zudem hätte eine Diskussion der Aussage Weinreichs von 1944 – dass in den USA mehr materielles Erbe der osteuropäischen Juden erhalten bleibe als in Europa – den Fokus weg von der Präsentation hin zu jenen Fragen gelenkt, welche für die Beschäftigten des YIVO so zentral waren: der Objekte, deren Verlust beziehungsweise Sammlung und Erforschung.

Jenseits dieser kleinen Kritikpunkte macht Jeffrey Shandlers eindrucksvolle Studie deutlich, dass es nach der Zäsur des Holocaust keine nahtlosen Anknüpfungspunkte an das jüdische Museumswesen vor 1945 geben konnte und kann. Der Verfasser nennt Sammlungsstücke die materiellen Korrelate zu den „sheyres hapleyte“, dem „geretteten Rest“ – eine jiddische Bezeichnung für die Überlebenden des Holocaust. Denn jedes Objekt zeige nur, was fehlt: die Menschen, die es benutzten (S. 83f.). Die Gelehrten des YIVO zogen hieraus unmittelbar Konsequenzen. Während sie um ihre Liebsten bangten und trauerten, überdachten sie ihre Forschungsagenda und bauten ihre Bildungsarbeit neu auf. So kann Shandlers Studie auch als Reflexion gelesen werden – über akademische Institutionen, wissenschaftliches Arbeiten, museales Sammeln und Vermitteln angesichts der Herausforderungen der je eigenen Gegenwart.

Anmerkungen:
1 Cecile Esther Kuznitz, YIVO and the Making of Modern Jewish Culture. Scholarship for the Yiddish Nation, New York 2014.
2 Kalman Weiser, Coming to America. Max Weinreich and the Emergence of YIVO‘s American Center, in: Lara Rabinovitch / Shiri Goren / Hannah Pressman (Hrsg.), Choosing Yiddish. New Frontiers of Language and Culture, Detroit 2012, S. 233–252; Leila Zenderland, Social Science as a “Weapon of the Weak”. Max Weinreich, the Yiddish Scientific Institute, and the Study of Culture, Personality, and Prejudice, in: Isis. A Journal of the History of Science Society 104 (2013), S. 742–772.
3 Elisabeth Gallas, „Das Leichenhaus der Bücher“. Kulturrestitution und jüdisches Geschichtsdenken nach 1945, Göttingen 2013; Nancy Sinkoff, Lucy S. Dawidowicz and the Restitution of Jewish Cultural Property, in: American Jewish History 100 (2016), S. 117–147; David E. Fishman, The Book Smugglers. Partisans, Poets, and the Race to Save Jewish Treasures from the Nazis, Lebanon 2017; Bilha Shilo, Ein Drama in Akten. Die Restitution der Sammlungen des Wilnaer YIVO. Aus dem Hebräischen von David Ajchenrand, Göttingen 2022, https://doi.org/10.13109/9783666351280 (29.12.2024).
4 Shilo, Ein Drama in Akten.
5 Siehe demnächst: Gewalt ausstellen. Erste Ausstellungen zur NS-Besatzung in Europa, 1945–1948, Deutsches Historisches Museum, 23.05.–23.11.2025, https://www.dhm.de/ausstellungen/vorschau/gewalt-ausstellen-erste-ausstellungen-zur-ns-besatzung-in-europa-1945-1948/ (29.12.2024).
6 Leibniz-Institut für jüdische Geschichte und Kultur – Simon Dubnow (Hrsg.), Der bestimmende Blick. Bilder jüdischen Lebens im Nachkriegspolen. Ausstellungsbroschüre, Leipzig 2023, S. 17.
7 Jüdische Gemeinde zu Berlin (Hrsg.), Historia Hebraica. Jüdische Kunst – Kultur und Geschichte aus dem Staatlichen Jüdischen Museum Prag, Berlin 1965.
8 Shilo, Ein Drama in Akten, S. 124.