Frieden verloren? Welcher Frieden ist da gemeint – die Abwesenheit von Krieg oder die eines umfassenden Globalkriegs? Es ging doch 1989/90 alles so schnell voran beim Fortschritt hin zu einer friedlichen Weltordnung! Seit geraumer Zeit leben wir jedoch auch im globalen Norden erneut in Gewalt- und Kriegsszenarien, die weiter zu eskalieren drohen – inwieweit ist auch die Gefahr eines großen, vielleicht sogar nuklear geführten Kriegs wieder ins Bewusstsein geraten? Wie konnten die Erwartungen von damals so enttäuscht werden – und warum kam es so weit in unserer Gegenwart? Das beschäftigt mittlerweile intensiv auch die Geschichtswissenschaft, die zunehmend auf primäre staatliche Quellen für die 1990er-Jahre zurückgreifen kann. Die eher strukturellen Erklärungsansätze reichen von einem russischen Exzeptionalismus, der seit Peter dem Großen besteht, über den Charakter des ehemaligen KGB-Agenten Putin bis hin zur wenig sensiblen Verbreitung des US-Modells von Demokratie und Freiheit, das nicht zuletzt im Sinne der kapitalistischen und machtpolitischen Eigeninteressen der westlichen Führungsmacht erfolgt.
Der Mainzer Historiker Andreas Rödder hat einen längeren USA-Aufenthalt genutzt, um unter Eintauchen in die dortige historische Diskussion Antworten zu geben. Die leitet er primär aus den Chancen und Möglichkeiten des internationalen Staatensystems her. Rödder identifiziert einleitend vier historische internationale Ordnungen: das „Westfälische System“ von 1648, die Ordnung des Wiener Kongresses von 1815, die Regelungen der Friedenskonferenz nach dem Ersten Weltkrieg und die bipolare Welt von 1945 bis 1989/90. Diese werden jeweils knapp und auf das Wesentliche reduziert dargestellt, wobei die Darstellung recht schematisch und statisch ausfällt. Generationen von Historikern haben widersprochen, wenn Politologen oder Völkerrechtler über Jahrhunderte hinweg den Frieden von Münster und Osnabrück gleichsam reifizierten. Das gilt natürlich in ähnlichem Maße für die folgenden „Ordnungen“, die ja zumeist mit großen Kriegen endeten – anders als die „Ordnung des Kalten Krieges“. Gewiss schufen zuvor formelle Friedensverträge oder die Summe impliziter Vereinbarungen einen Rahmen für je nachfolgende dynamische Entwicklungen, aber es fragt sich doch, ob dies mit einem aus der politischen Wissenschaft hergeleiteten Begriff der „Ordnung“ sinnvoll erfasst werden kann.
Die „Ordnung von 1990“ war für Rödder ein vielgestaltiges Gebilde, das aus unterschiedlichen Strängen bestand, und wird – hier wie auch für die hervorgegangenen Perioden – weitgehend aus der gestaltenden oder leidenden Perspektive eines globalen Nordens begriffen. Für ihn bestand diese vor allem aus allgemeinen und nicht explizit ausgehandelten Entwicklungen. Fixiert sei damals im Kern nur die „abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland“ 1990 gewesen – also die Machtpolitik; der Charta von Paris vom November 1990 – also den wertegeleiteten Prinzipien – wird nicht der gleiche Rang zugebilligt. Die Dominanz von NATO sowie EU kam hinzu und im Gegensatz dazu das Ende der Sowjetunion, das mit einem Putin-Zitat in der Überschrift als „eine der ganz großen geopolitischen Katastrophen des 20. Jahrhunderts“ eingeführt wird (S. 35). Der Aufstieg Chinas schloss sich als zentraler Faktor an, den der Verfasser übergreifend als technisch-industriellen Globalisierungsschub bezeichnet. Viele Hoffnungen richteten sich auf ein „Ende der Geschichte“ (Fukuyama im Frühjahr 1989 fragend, 1991 als Realität behauptend). Das war nicht utopisch gemeint, sondern zielte auf ein Ende bisheriger antagonistischer Rivalitäten. Heute bezeichnet man das wohl eher als erwarteten Sieg des liberalen Internationalismus. Der wichtigste Schlüssel sei die Rückstufung der Supermacht Russland zur Großmacht gewesen, wenn auch in nicht demütigender Form.
Rödder schreitet die Jahre seit 1990 in vier Kapiteln ab: die „unipolare Welt“ der 1990er-Jahre (der konservative Journalist Krauthammer prägte den Begriff); die „Wendejahre“ 2001 bis 2008, die „Krisenjahre“ in den 2010er-Jahren und schließlich die „Zeitenwende: Das Ende der Ordnung von 1990“ – bis heute also. Bereits in den 1990er-Jahren ereigneten sich bedeutende Kriege und Bürgerkriege, angefangen bei Jugoslawien über Ruanda bis hin zu Indien. Rückblickend lassen diese Konflikte den Ordnungsbegriff aus der Perspektive mancher, wie etwa Paul Betts, als „Westsplaining“ erscheinen – also als eine spezifisch transatlantische Sichtweise, die hinter den propagierten Werten eher verborgene Interessen vermutete.1 Für Rödder zeigte sich schon in den 1990er-Jahren der „Systemfehler der Ordnung von 1990“: Es habe eine Gesamtstrategie gefehlt (S. 59), in der sich die Staaten zwischen Russland und der NATO zu einer sicherheitspolitischen „Grauzone“ geführt hätten – also doch keine „Ordnung“? Hätte es dennoch zwischen 1992 und 1994 eine Chance gegeben, die Spannungen zwischen Russland und dem Westen dauerhaft einzuhegen? Rödder scheint da eher skeptisch zu sein. Insbesondere die gemeinsame Budapester Erklärung von Ost und West unter anderem zur Sicherheit der Ukraine bei Abgabe von Atomwaffen bilanzierte – scheinbar – die Einigung.
Die Nullerjahre wurden sodann von sich ausweitenden Kriegen bestimmt – so zunächst im Irak nach den Terroranschlägen am 11. September 2001, danach vor allem Afghanistan; Kriege, die mit der behaupteten „liberal order“ und dem Völkerrecht schwer oder gar nicht zu begründen waren. Putin wird nicht grundsätzlich als Ideologe russischer Großmacht gesehen, sondern seine Wende in der „Doppelkrise“ von 2008 ausgemacht. Das war einerseits die Finanzkrise, sodann aber waren es die Ergebnisse des Bukarester NATO-Gipfels: Die USA und Großbritannien wollten der Ukraine und Georgien die Vollmitgliedschaft in dem Bündnis zugestehen, während unter anderem Deutschland und Frankreich dem widersprachen, sodass es nur zu einer festen Zusage in einer unbestimmten Zukunft kam: ein „Glaubwürdigkeitsverlust für den Westen“ (S. 86). In der Identifizierung dieses Kipppunktes zu einem russischen „militärischen Revisionismus“ liegt eine wichtige These Rödders („kapitaler Fehler“, S. 198), die weiterer Diskussionen bedarf. Nicht nur Angela Merkel beharrt bis heute darauf, dass die damalige Ukraine innenpolitisch noch nicht reif gewesen sei. Gab es – so lässt sich resümieren – 2008 eine Chance zur friedlichen Eindämmung Russlands und damit Erhaltung der – so würde der Rezensent formulieren – KSZE/OSZE-Ordnung, die sich seit den 1970er-Jahren ausgebildet hatte? Chancen für Russland in einer Grauzone und Glaubwürdigkeitsverlust des Westens – das sind die zentralen Thesen Rödders für die Entwicklung seither.
Rödder erkennt im folgenden Jahrzehnt die Entstehung einer Achse der Revisionisten mit Russland und China an der Spitze, die Entstehung eines „globalen Ostens“ sowie eines „umgekehrten Demokratieexports“ Putins für rechtsextreme Parteien und Organisationen (S. 127). Hinzu kam für ihn zumal eine Rückkehr Russlands zu „klassischer Macht- und Militärpolitik“ in der Ukraine, auf die Europa nicht vorbereitet gewesen sei; Völkerrecht, Menschenrechte und Soft Power erwiesen sich für Rödder als unzureichend, mit dieser neuen Problemlage seit den 2010er-Jahren umzugehen – Afghanistan bedeutete das Scheitern der bisherigen westlichen Strategie von Demokratieexport.
Die „Ordnung von 1990“ gibt es nicht mehr – da ist sich Rödder sicher. Man kann allerdings gerade mit seinen Darlegungen fragen, ob es wirklich eine explizite „Ordnung“ – und nicht nur eine Hoffnung darauf – gegeben hatte. Fehlerhaftes „Revisionsmanagement“ des Westens (S. 188) hätte jedenfalls vermieden werden können; das heißt für Rödder konkret, auf die Verbreitung der liberalen Ordnung nicht zwischen, aber in allen Staaten zu verzichten, also den Demokratieexport in der dann praktizierten Weise zu vermeiden. Was bleibt? Rödder scheint in der heutigen Situation eine neue Formation autoritärer Staaten – China und Russland voran – in Konkurrenz zum westlich-liberalen Modell zu sehen. Die eine UN-Welt, die bisweilen als Chance gesehen wird, zeichnet sich hiernach nicht ab. „Wertebasierte Realpolitik“ ist der vorgeschlagene Leitbegriff für künftige Politik. Das klingt überzeugend. Doch gerade: Wo Werte aufhören und Reales im Vordergrund steht – oder: wo Realpolitik traditioneller Prägung aufhört sowie Völker- und Menschenrechte bestimmend sein müssen – bleibt eine je auszutarierende Frage, ein Spannungsverhältnis, auf das es wohl nur situative Antworten geben kann. Auch in den Jahrzehnten der Wende hat sich westliche Politik daran orientiert – mit den bekannten Folgen für heute. Rödder knüpft mit seiner Diagnose und Therapie explizit an das an, was George F. Kennan 1946 zu Beginn des Kalten Kriegs unter dem Pseudonym „Mister X“ schon einmal als Grundlage der Containment Policy formuliert hatte.
Wenn man also in der Gegenwart von einem verlorenen Frieden spricht, dann muss ihn ja jemand verloren haben. Wenn es eine Chance zu einer umfassenden Ordnung unmittelbar nach 1989/90 gab, sind die strukturellen wie situativen Versäumnisse weiter zu diskutieren. Frieden als Vermeidung eines umfassenden, die Welt umspannenden militärischen, nicht zuletzt nuklearen Kriegs war, um in der Grobgliederung Rödders zu bleiben, zwischen 1945 und 1990 ein zentrales Problem, das bei Rödder kaum vorkommt. Aber auch in den Jahren des „verlorenen Friedens“ seither besteht darin eine Herausforderung, die sich in den letzten Jahren nicht nur abstrakt, sondern recht konkret weiterentwickelte. Genau das kommt kaum vor, ist jedenfalls kein Leitthema in diesem Band, der dennoch wertvolle und pointierte Anregungen für weitere Debatten gibt.
Anmerkung:
1 Vgl. unter anderem zu Paul Betts das anregende Forum: Celia Donert / Stefan-Ludwig Hoffmann (Organisation), Viewpoints. Eclipse of Internationalism?, in: Past & Present 20 (2024), S. 1–74.