L'Homme. Z.F.G. 14 (2003), 2

Titel der Ausgabe 
L'Homme. Z.F.G. 14 (2003), 2
Weiterer Titel 
Leben texten

Erschienen
Wien 2003: Böhlau Verlag
Erscheint 
Erscheinungsweise: 2x jährlich
Anzahl Seiten
224 S.
Preis
€ 22,50; Abo: € 31,30

 

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Institution
L'Homme. Europäische Zeitschrift für Feministische Geschichtswissenschaft
Land
Austria
c/o
Redaktion: Veronika Siegmund, MA L’HOMME-Redaktion, c/o Institut für Geschichte, Universität Wien, Universitätsring 1, 1010 Wien Österreich Telefon: +43-(0)1-4277-408 13 Fax: +43-(0)1-4277-9408 Verantwortliche Herausgeberin: Christa Hämmerle
Von
Elisabeth Frysak

Leben texten

In Geschichte(n), so Jacques Rancière, geht es um die Wahrheit der berichteten Ereignisse ebenso wie um die Realitaet der Subjekte. In dieser doppelten Perspektive verbinden sich einzelne Geschichten und die Geschichte. Beide koennen in ihrem Anspruch auf Wahrheit nicht ganz ohne Erfindung auskommen und sie muessen erzaehlen. Dies gilt in besonderer Weise für (auto-)biographisches Schreiben, das Leben in Texte fasst. In einer historischen und feministischen Zeitschrift wie L’Homme nach den Implikationen von zu Texten geformten Erzaehlungen über Leben – das eigene oder das fremde – zu fragen, bedeutet eine Suchbewegung in mehrere Richtungen: Die Reflexion auf das Biographische evoziert zunaechst die innige Beziehung zwischen Historiographie und Biographie in einer – inzwischen bruechig gewordenen - Tradition der Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts, die Geschichte als von „grossen“ Persoenlichkeiten „gemacht“ versteht und so Geschichte tendenziell mit den Biographien der „grossen Figuren“ in eins fallen liess. Dass daraus Geschichtsbilder entstanden sind, in denen eine Mehrzahl der Menschen bestenfalls im Hintergrund auftreten konnten, wurde nicht nur von der fruehen Frauengeschichte kritisiert, sondern vor, mit und nach ihr auch von vielen anderen historiographischen Stroemungen. Heute treibt uns allerdings weniger die laengst bekannte Tatsache um, dass diese Geschichtsbilder weitgehend ohne Frauen auskommen, von Interesse scheinen aus geschlechtergeschichtlicher Sicht viel mehr die dahinter liegenden Prozesse, die die Konstruktion von Geschichte als Wissenschaft im 19. Jahrhundert begleitet haben: Prozesse der Ausdifferenzierung von sozialen Milieus des Akademischen entlang von Geschlechtergrenzen und Prozesse der Ausgrenzung des Weiblichen, Prozesse der Stabilisierung bruechiger Identitaeten durch die Konstruktion einer homosozialen akademischen Maennerwelt, die von der Infizierung durch Weiblichkeit ebenso bedroht erscheint wie durch das Vorhandensein homoerotischen Begehrens. Die enge Verschraenkung von Lebenswelt, alltaeglichem/autobiographischem Schreiben und historiographischem Werk erweist sich fuer die Gruendervaeter der modernen Geschichtswissenschaften als konstitutiv, wie der Beitrag von Helmut Puff zeigt, der damit auch deutlich macht, dass der biographische Zugriff gerade auch in einem geschlechtergeschichtlichen Bemuehen nach dem linguistic turn fruchtbar sein kann.

Der Blick auf die Prozesse, die in der Vertextlichung von Lebensgeschichten, in der sprachlichen Konstruktion von biographischen Narrationen, stattfinden, ist der zentrale Fokus des vorliegenden Heftes. In den textlich vermittelten Darstellungen und Deutungen des eigenen oder auch des fremden Lebens verschraenken sich die persoenlichen Erfahrungen mit den je spezifischen historischen Bedingungen. Biographische oder autobiographische Texte zeugen vom Bemuehen von Maennern und Frauen, sich mit ihrer Welt in einen wie auch immer gearteten sinnhaften Zusammenhang zu setzen. In den Texten und durch sie werden Personen und Lebensgeschichten zugleich hergestellt – die Personen als Subjekte eines bestimmten Lebens, ein Leben als Daseinsform einer bestimmten Person. Dabei gelangen allerdings nicht nur spezifische, für die jeweils besondere historische Situation und für die besondere soziale Lage der Einzelnen typische Erfahrungs- und Erlebnisformationen zur Darstellung. Im Schreiben selbst, im Texten von Leben und Lebensgeschichten sind immer schon die kulturellen Traditionen und die gesellschaftlichen Relevanzordnungen praesent, an denen sich das Schreiben (notwendigerweise) orientiert, und zugleich werden sie dort diskutiert und (re-)formuliert.
Diese spezifische Gemengelage von Persoenlichem und Allgemeinem, von Individuellem und kulturell Vorgeformtem hat die Biographie und die Autobiographie nach ihren hohen Zeiten im 19. Jahrhundert immer wieder zu umstrittenen Genres gemacht, die ihrerseits eine Geschichte haben. Aktuell sind sie von einem besonderen Spannungsverhaeltnis zwischen dem postmodernen Abschied von Individuum und Subjekt und der ‚Wiederentdeckung’ des Individuellen und Singulaeren im wissenschaftlichen und literarischen Diskurs gezeichnet.
Jenseits dieser Spannung scheinen zumal autobiographische Texte aber mit der besonderen, wenn auch nicht unumstrittenen Verheissung verbunden, dass in ihnen Persoenliches und Singulaeres als eine Manifestation von zeitspezifischen Strukturen und Bedingungen sichtbar wird, und zugleich, dass sie epochentypische Strukturen in ihrer Bedeutung und Wirkung im Individuellen zugaenglich machen. Sie versprechen Antworten auf die Frage nach der Aneignung von historischen Strukturen und Diskursen, etwa auf die Frage, wie Weiblichkeit und Maennlichkeit, deren diskursive Konstruktionsprozesse in den letzten Jahren ausfuehrlich untersucht worden sind, durch die Menschen einer Zeit, einer Epoche, angeeignet werden, und wie sie – wie immer kohaerent oder bruechig – in der Deutung der eigenen Biographie zum Tragen kommen.
Es ist kein Zufall, wohl aber ein moeglicher Ertrag dieses Heftes, dass in vielen der Beitraege die Bruechigkeiten von Geschlechtsidentitaeten weit deutlicher in Erscheinung treten als unproblematische Identitaeten von Maennern und Frauen (Arni, Spoerry, Gleixner, Puff). Auffaellig ist jedenfalls der offensichtliche Gegensatz zwischen den machtvollen Geschlechterdiskursen, die den Individuen kohaerente Selbstdeutungen nahe zu legen scheinen, und den vielfach gebrochenen und problematischen Selbstwahrnehmungen, wie sie in den autobiographischen Texten zum Vorschein kommen. Bruechigkeit kennzeichnet die Erzaehlung eines Schuhmachers vor dem Scheidungsgericht, die Caroline Arni ins Zentrum ihrer Analyse gestellt hat. Im Schreiben über seine missglueckte Ehe - die Liebe, die Arbeit und die Oekonomie – versucht er sich seiner gefaehrdeten Identitaet zu vergewissern, die im Leben auseinander zu brechen droht, und artikuliert dabei zugleich eine Erfahrung, in der die Differenz von Subjekt und Welt aufgehoben wird. In anderer Weise zeigt sich die Mehrdeutigkeit, aber auch Unerlaesslichkeit des Schreibens im Anspruch von N.O. Body auf eine wahre Lebensgeschichte als Hermaphrodit im Beitrag von Myriam Spoerri. Hier wird das Schreiben existentiell für die Herstellung der eigenen Identitaet und kann sie doch nicht frei von Ambivalenzen sichern. Die spezifische Dynamik pietistischer Schreibanforderungen thematisiert Ulrike Gleixner, indem sie am Beispiel von Friedrich Hahn die Konflikte herausarbeitet, die in den verschiedenen Rollenerwartungen vor allem auch an deren „geistige Fuehrer“ angelegt waren. Das Leben zu vertexten geraet dem Pietisten Hahn in eine doppelte Dynamik von Festschreiben und Aufbrechen, in der die Brúechigkeit des hegemonialen Maennlichkeitskonzeptes manifest wird. Biographisches und autobiographisches Schreiben dient allerdings keineswegs immer einer besonderen, seismographischen Aufzeichnung von Spannungen und Verwerfungen entlang verschiedener Bruchlinien. Vielmehr koennen gerade auch biographische Narrationen, wenn sie als Texte an ein breites Publikum vermittelt werden, ihrerseits zu Teilen von normativen und normierenden Geschlechterdiskursen werden und bewusst und gezielt in deren Dienst gestellt werden. So wird im Beitrag von Marilyn Booth anhand syrischer Frauenzeitschriften in der aegyptischen Diaspora in der ersten Haelfte des 20. Jahrhunderts deutlich, welche Rolle „Geschlecht“ vermittelt über exemplarische Frauenleben in der Konstruktion einer sowohl ethnisch wie religioes multikulturellen Identitaetsstiftung zukam.
Trotz moeglicher Parallelitaeten im gesellschaftlichen Umgang mit biographischen Texten zwischen sehr unterschiedlichen Kulturen, ist es unabdingbar, das Text gewordene Bemuehen der historischen Subjekte in den je spezifischen historischen Epochen und kulturellen Kontexten zu situieren und den eigenen historiographischen Umgang mit diesen Texten sorgfaeltig auf ahistorische Aprioris zu befragen, wie Gabriele Jancke in ihren grundsaetzlichen Ueberlegungen zur Autobiographie als kommunikativer Handlung plausibel macht. Die kulturelle Gebundenheit des Genres zeigt sich auch in den „collaborative auto/biographies“ als kolonialen bzw. postkolonialen Texten, die wie Stephan Meyer in seinem Forschungsueberblick zeigt, wichtige, zukunftsweisende Forschungsperspektiven oeffnet, die nicht zuletzt das „Projekt der Moderne“ veraendern werden. In ihrem theoretisch-literarischen Essay macht die Schriftstellerin Friederike Kretzen darauf aufmerksam, welches Potential der Sprache im Archivieren und Formulieren von Erfahrungen und damit als Zugang zu Geschichte zukommt; sie oeffnet damit ein Feld, das für die Geschichtswissenschaft noch vielfaeltig brach liegt.

Jenseits des Heftschwerpunktes „Leben texten“ fordert Joan Scott in einem grundsaetzlichen Artikel zum Nachdenken ueber die Zukunft der Frauen- und Geschlechtergeschichte heraus. Denn gerade in der Historischen Forschung liegt fuer sie ein besonderes Potential zur feministischen Kritik, mit der immer auch ein Begehren verbunden ist, das dieser Forschung ihre permanente Dynamik verleiht. Über die Entwicklung der Geschlechterforschung und deren unterschiedliche Dynamiken im Zentrum und den Provinzen Russland berichten Andrea Zemskov-Zuege, Olga Nikonova und Julija Chmelevskaja in der Rubrik „Forum“.
Unter dem Stichwort „Aus den Archiven“ eroeffnet L’Homme eine Rubrik, in der neue Materialien für die historische Frauen- und Geschlechterforschung erschlossen werden sollen. Den Anfang macht die „Sammlung Frauennachlaesse“, in der „privates“ Schriftgut von Frauen, deren Familien und Bekannten vor allem aus dem Großraum Wien vom späten 19. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts archiviert und für die wissenschaftliche Benutzung zugaenglich gemacht wird.
Zum Schluss bleibt eine höchst erfreuliche Mitteilung in eigener Sache: Es ist der Zeitschrift gelungen den Herausgeberinnenkreis um fünf Frauen zu erweitern und damit gleichzeitig eine Oeffnung nach Osteuropa zu verbinden. Diese Erweiterung hin zu einem groesseren Europa dokumentieren wir auch durch eine Aenderung im Untertitel: Ab Heft 1/2004 wird L’Homme „Europaeische Zeitschrift für Feministische Geschichtswissenschaft“ heissen. Als neue Herausgeberinnen begruessen wir Caroline Arni (Bern, Schweiz), Gunda Barth-Scalmani (Innsbruck, Oesterreich), Krassimira Daskalova (Sofia, Bulgarien), Hana Havelková (Prag, Tschechien) und Margareth Lanzinger (Wien, Oesterreich). Wir freuen uns auf eine spannende und anregende Zusammenarbeit!

Susanna Burghartz (Basel), Brigitte Schnegg (Bern)

Inhaltsverzeichnis

14. Jg. (2003), Heft 2

Leben texten

Herausgegeben von Susanna Burghartz und Brigitte Schnegg

Inhalt

Editorial

Caroline Arni
Amor und die Schuhfabriken.
Erzählung der Ehekrise, Erzählung des ‚Ich‘

Myriam Spoerri
N. O. Body, Magnus Hirschfeld und die Diagnose des Geschlechts: Hermaphroditismus um 1900

Ulrike Gleixner
Religion, Maennlichkeit und Selbstvergewisserung.
Der wuerttembergische pietistische Patriarch Philipp Matthaeus Hahn (1739-1790) und sein Tagebuch

Marilyn Booth
Quietly Author(iz)ing Community:
Biography as an Autobiography of Syrian Women in Egypt

Helmut Puff
Maennerliebe, Sprache, akademische Maskulinitaet. Leopold von Ranke und Jacob Burckhardt im Zwiegespraech

L’Homme Extra

Joan W. Scott
Geschichte der Feministinnen

Robin May Schott
Feminist Ethics of Conflict

Forum

Gender Studies in Russland: Zentrum und Peripherie

Andrea Zemskov-Züge
Gender Studies an der Europa Universitaet St. Petersburg

Olga Nikonova,Julija Khmelevskaja
Gender Studies in der russischen Provinz

Im Gespräch
„Reverberations“– Doerte Lerp und Tobias Metzler im Gespräch mit Joan W. Scott

Aus den Archiven

Christa Hämmerle
Fragmente aus vielen Leben.
Ein Portraet der „Sammlung Frauennachlaesse“ am Institut für Geschichte der Universitaet Wien

Aktuelles und Kommentare

Friederike Kretzen
Gegenwart schreiben, gegenwaertig sein

Gabriele Jancke
Zur Diskussion gestellt: Leben texten, Lebensgeschichten, das eigene Leben schreiben – ein Plaedoyer fuer Unterscheidungen. Auf der Grundlage und anhand von fruehneuzeitlichen autobiographischen Schriften

Nicole Grochowina, Pauline Puppel
Das Geschlecht der Dinge. Interdisziplinaere und epochenuebergreifende Perspektiven auf Geschlecht, Lebensstil und den Symbolcharakter der Dinge, 16. bis 28 Juni 2003 in Muenster. Tagungsbericht

Stephan Meyer
Post/koloniale kooperative Auto/biographie. Ein Forschungsbericht

Rezensionen

Christoph Conrad
Luisa Passerini u. Alexander C. T. Geppert Hg., European Ego-histoires: Historiography and the Self, 1970-2000 (Schriftenreihe: Historein. A Review of the Past and Other Stories, 3)
Lutz Niethammer, Ego-Histoire? und andere Erinnerungs-Versuche

Gudrun Wedel
Mererid Puw Davies, Beth Linklater, Gisela Shaw Hg., Autobiography by Women in German

Elisabeth Joris
Gudrun Wedel, Lehren zwischen Arbeit und Beruf. Einblicke in das Leben von Autobiographinnen aus dem 19. Jahrhundert

Claudia Opitz
Regina Schulte Hg., Der Koerper der Koenigin. Geschlecht und Herrschaft in der hoefischen Welt seit 1500

Pauline Puppel
Helga Meise, Das archivierte Ich. Schreibkalender und hoefische Repraesentation in Hessen-Darmstadt 1624-1790

Isabel Hernández
Hildegard Elisabeth Keller, My Secret is Mine: Studies on Religion and Eros in the German Middle Ages

Margareth Lanzinger
Ursula Machtemes, Leben zwischen Trauer und Pathos. Bildungsbuergerliche Witwen im 19. Jahrhundert

Rebekka Habermas
Baerbel Kuhn, Familienstand: Ledig. Ehelose Frauen und Maenner im Bürgertum (1850-1914)

Pauline Puppel
Susanne Claudine Pils, Schreiben ueber Stadt. Das Wien der Johanna Theresia Harrach 1639 1716

Neda Bei
Monika Gsell, Die Bedeutung der Baubo. Kulturgeschichtliche Studien zur Repraesentation des weiblichen Genitales

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