Editorial: Die kommende Deflationskrise?
Seit den 1960er-Jahren war Inflation und ihre Bekämpfung eines der wichtigsten Themen der Wirtschaftspolitik in den entwickelten kapitalistischen Ländern. In der Tat baute sich Ende der 1960er-Jahre eine inflationäre Welle auf, die dann Ende der 1970er-Jahre und Anfang der 1980er-Jahre mit zweistelligen Inflationsraten in vielen industriell entwickelten Ländern ihren Höhepunkt erreichte. In den 1980er-Jahren ebbte die Inflationswelle in den Industrieländern ab. In dieser Periode hatten viele Entwicklungsländer und später auch nahezu alle Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion mit zum Teil sehr hohen Inflationsraten zu kämpfen, in vielen dieser Länder kam es zu Hyperinflationen mit einem jährlichen Anstieg des Preisniveaus von mehreren Hundert oder gar Tausend Prozent. Allerdings sanken auch hier die Inflationsraten ab Mitte der 1990er-Jahre auf durchschnittlich einstellige Raten.
Inflation scheint für die Weltwirtschaft in absehbarer Zeit kein ernsthaftes Problem zu sein. Ganz im Gegenteil, es zeichnet sich eine Entwicklung ab, die vor 10 oder 15 Jahren nicht für möglich gehalten wurde: Erneut scheint eine Deflation möglich zu sein, die schon in den 1930er-Jahren verheerende Wirkungen für die Weltwirtschaft hatte. Von den industriell entwickelten Ländern musste vor allem Japan ab Mitte der 1990er-Jahre eine moderate, jedoch langanhaltende Deflationsphase hinnehmen, die noch nicht überwunden ist. Bei den Entwicklungsländern ist es vor allem die Volksrepublik China, die ab Ende der 1990er-Jahre durch deflationäre Entwicklungen gekennzeichnet ist. Vor dem Hintergrund des konjunkturellen Einbruchs in allen Ökonomien der westlichen Welt sowie der schlechten Lage auch in den meisten Entwicklungsländern setzte der Internationale Währungsfonds eine Task Force ein, welche die Deflationsgefahren in der Weltwirtschaft untersuchen sollte. Im Bericht dieser Task Force vom Frühjahr 2003 zählte Deutschland zusammen mit Japan, Taiwan und Hongkong zur Gruppe der Länder, die als hoch deflationsgefährdet angesehen wurden. Auch die US-amerikanische Zentralbank sah Deflationsgefahren für die USA und die Weltwirtschaft und hat mit schnellen und starken Senkungen ihrer Zinssätze versucht, solchen Tendenzen entgegenzuwirken. Selbst die Europäische Zentralbank sah sich im Mai 2003 dazu gezwungen, ihr Inflationsziel, das sie beim Beginn der Europäischen Währungsunion Anfang 1999 auf zwischen null und zwei Prozent festgelegt hatte, zu präzisieren. Die Zielinflationsrate im Euroraum soll nach der EZB nun leicht unter zwei Prozent liegen. In Deutschland liegt die offiziell gemessene Inflationsrate derzeit bei etwa einem Prozent. Berücksichtigt man den breit akzeptierten Sachverhalt, dass durch Qualitätsverbesserungen und neue Produkte die Inflationsrate systematisch zwischen einem und zwei Prozent zu hoch gemessen wird, dann befindet sich Deutschland bereits in einem leichten Deflationsprozess.
Hansjörg Herr: Deregulierung, Globalisierung und Deflation
Elmar Altvater: Inflationäre Deflation oder die Dominanz der globalen Finanzmärkte
Eckhard Hein, Thorsten Schulten, Achim Truger: Lohnentwicklung und Deflationsgefahren in Deutschland und Europa
Cornelia Kaiser: Deflation und Arbeitsmarkt in Japan
Michael Heine: Wie Deflationen entstehen – und was (nicht nur) die SPD von Brüning gelernt hat
Außerhalb des Schwerpunkts
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Loïc Wacquant: Was ist ein Ghetto?
Einsprüche
Ralf Hoffrogge: Emanzipation oder Bildungslobby? Die studentischen Proteste im Wintersemester 2003/2004
Stephan Lessenich: Zur Lage der bürgerlichen Demokratie in Deutschland
Hansgeorg Conert (19.03.1933–06.01.2004) als Wissenschaftler, Linkssozialist und Individualist. Ein Nachruf von Volker Stork
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