Editorial
Das 20. Jahrhundert war gezeichnet von gewaltigen Wanderbewegungen, und – wie es den Anschein hat – werden diese auch im 21. Jahrhundert anhalten. Migration resultiert aus ungeloesten politischen und sozialen Problemen und zaehlt zu den dringendsten Herausforderungen unserer Zeit. Die Flucht und das Schicksal von Fluechtlingen nehmen eine Sonderstellung im weltweiten Wanderungsgeschehen ein. Die Unterscheidung zwischen Flucht und Migration wurde allerdings in letzter Zeit in Frage gestellt. Wanderungsmotive sind zumeist komplex; persoenliche, politische, soziale und wirtschaftliche Gruende, das Land zu verlassen, sind ineinander verwoben. Dennoch macht es Sinn, sich eigens mit der engeren Thematik Flucht auseinander zu setzen, da Verfolgung aus politisch, rassisch und religioes motivierten Gruenden ein weltweites Phaenomen darstellt, und der menschenrechtliche Schutz vor dieser Verfolgung nur in seltenen Faellen gewaehrleistet ist. In der Migrations- und Fluchtforschung war bis vor kurzem der Blick auf den maennlichen Migranten beziehungsweise Fluechtling gerichtet, im letzten Jahrzehnt wurde verstaerkt ueber die Situation der Migrantinnen geforscht, aber erst in letzter Zeit wurde das Bewusstsein für die speziellen Probleme geschaerft, mit denen Frauen auf der Flucht konfrontiert sind. „Frauen auf der Flucht“ sind eine extrem heterogene Gruppe. Sie unterscheiden sich nicht nur hinsichtlich ihrer Herkunft und des sozialen Hintergrundes, ihrer Bildung und Ausbildung, sondern auch hinsichtlich der Fluchtmotive. Von Bedrohungen, Aengsten und duesteren Zukunftsaussichten sind Maenner wie Frauen betroffen. Doch das Phaenomen von Gewalt stellt sich für Frauen in besonderer Schaerfe dar. Sexuelle Gewalt ist ein besonderer Fluchtgrund für Frauen. In vielen Staaten werden allerdings Vergewaltigung und andere Formen der sexuellen Gewalt immer noch nicht als Asylgrund anerkannt. Gewalt schafft aber für Frauen andere Probleme als für Maenner. Das Phaenomen Gewalt veranlasst Frauen nicht nur ihr Land zu verlassen, es begleitet meist auch das Fluchtgeschehen, und mit Gewalt unterschiedlicher Art sind Frauen erneut im Aufnahmeland konfrontiert. Frauen sind jedoch nicht nur selbst in besonderem Maß mit Gewalt konfrontiert, der Schutz ihrer Kinder vor Gewalt bildet einen weiteren speziellen Fluchtgrund für Frauen. Die Verantwortung von Frauen auf der Flucht für ihre Kinder wird oftmals übersehen. Ein anderes „Sonderproblem“ von Frauen bildet die Situation, dass sie oftmals als Partnerinnen und Toechter versuchen, mit maennlichen Familienangehoerigen im Ausland Zuflucht zu finden. Im Fall der Asylgewaehrung aufgrund von politischer Verfolgung kann der Status von anerkannten Fluechtlingen auf Familienangehoerige „erstreckt“ werden. Dass Frauen jedoch selbst aufgrund ihres politischen Engagements Opfer von Verfolgung waren und sind, wird allerdings oft ignoriert. Das Thema aktueller Migration ist, wie bereits angedeutet, seit geraumer Zeit Gegenstand intensiver wissenschaftlicher Auseinandersetzungen. Auch von historischer Seite wurde Migrationen der Vergangenheit in den letzten Jahren verstaerkt Augenmerk geschenkt. Das Thema Flucht wurde hingegen sowohl in der gegenwartsbezogenen, als auch in der historischen Forschung erst am Rande bearbeitet. Auf die speziellen Schwierigkeiten, mit denen Frauen auf der Flucht konfrontiert waren und sind, wurde noch weniger eingegangen, und bis heute wird die Kategorie gender aus den Diskussionen über die Asylpolitik allzu oft weitgehend ausgeklammert. Für uns war dies ein wesentlicher Grund, das vorliegende L’Homme-Heft diesem Thema zu widmen. Unser Anliegen ist es, sowohl die frauenspezifischen Aspekte der aktuellen Diskussion über Fluchtbewegungen und Asylpolitik aufzuzeigen, als auch weibliche Fluechtlinge der Vergangenheit in den Mittelpunkt zu stellen. Die Geschichte der Neuzeit Europas war von Fluchtbewegungen gepraegt: von den religioes motivierten Vertreibungen aus protestantischen sowie aus katholischen Laendern über die politischen Verfolgungen in und nach den europaeischen Revolutionen, der Flucht vor dem sicheren Hungertod nach Missernten und Naturkatastrophen, etwa in Irland um die Mitte des 19. Jahrhunderts, bis zu den moerderischen Vertreibungen im 20. Jahrhundert. Von all diesen Fluchtbewegungen waren Frauen unmittelbar betroffen. Um Frauen auf der Flucht in der Vergangenheit deutlich sichtbar zu machen, haben wir den wissenschaftlichen Beitraegen einige Illustrationen vorangestellt: Bilder von der Flucht der Salzburger Protestanten und Protestantinnen (1731) zeigen Frauen, die allein oder ihre Kinder schuetzend ihr Domizil verlassen mussten, um in das ferne protestantische Preußen zu ziehen, wo sie als Fluechtlinge Aufnahme fanden. Vergleichbare Bilder von anderen Fluchtsituationen sind uns noch gegenwaertig, so etwa die Bilder von Frauen auf der Flucht aus den erst kurz zurueckliegenden Kriegen in Suedosteuropa etwa, die wir aus den Medien kennen. Wie unterschiedlich die individuellen Fluechtlingsschicksale auch in den historischen Fluchtbewegungen waren, zeigt Gabriella Hauch an Hand von verschiedenen Fluchtgeschichten von Revolutionaerinnen des Jahres 1848, die teilweise allein, teilweise mit ihren Ehemaennern den Tribunalen der siegreichen Reaktionaere entkamen, indem sie ihr Land verließen. Der Beitrag bietet zugleich einen weiterfuehrenden Einblick in das Quellenmaterial für die Forschung zum Thema. Die Quellen existieren, wenn wir sie zu finden wissen! Einen besonderen Schwerpunkt des vorliegenden Heftes bietet die Flucht von juedischen Frauen vor den Schergen des Dritten Reiches, die in England Aufnahme fanden. Traude Bollauf setzt sich in ihrem Beitrag „Flucht und Zuflucht. Als DienstmEdchen nach England. Am Beispiel dreier Frauen aus Wien“ mit einer der wenigen Moeglichkeiten auseinander, die juedischen Frauen zur Verfuegung standen, Oesterreich und Deutschland zu verlassen. Mit Hilfe des domestic permit und der freundschaftlichen Hilfe der Familien, bei denen sie im Haushalt arbeiteten, gelang es manchen, einen Start im Aufnahmeland zu finden. Andere konnten zwar mit dem permit der drohenden Vernichtung entkommen, doch die Erniedrigungen, denen manche dieser Frauen – ohne Vermoegen, oft auch ohne Sprachkenntnisse – ausgesetzt waren, zeichnen diese typischen Frauenschicksale. Die Historikerin Alice Teichova, die selbst die Erfahrungen eines Dienstmaedchens gemacht hatte, skizziert in der Rubrik „Im Gespraech“ nicht nur die brutale Vertreibung, die Fakten ihrer Flucht und den Neuanfang in England, sondern auch in bewegender Weise die Emotionen, die sie waehrend der Flucht begleiteten: sprachloses Staunen über das unfassbare Geschehen, ihr Heimweh nach Freunden, Freundinnen und Verwandten, nach der Stadt ihrer Kindheit Wien und die Gefuehle bei ihrer Wiederkehr. Dreißig Jahre später verlaesst Alice Teichova wiederum ihr neues Zuhause, die Tschechoslowakei. Im Rueckblick hebt sie die Unterschiede hervor: Das Verlassen bedeutete für sie zwar wieder Verlust, Unsicherheit und Neubeginn, doch diese Migration vollzog sich unter besseren Umstaenden und wurde doch „freiwillig“ auf sich genommen. Hannah Fischer, eine Wegbegleiterin und Mitarbeiterin Anna Freuds, schildert in ihren Erinnerungen an diese die Umstaende der Flucht der Anna Freud und ihr Leben in England. Die Tochter des Begruenders der Psychoanalyse, Sigmund Freud, hatte ihren Vater ins Exil begleitet, in dem er jedoch bereits 1939 verstarb. Die Vertreibung aus Wien war mit allen widrigen Umstaenden verbunden, die eine Flucht mit sich bringt. Anna Freud jedoch gelang es, beruflich einen neuen Anfang zu setzen, indem sie die psychologische Betreuung für durch Bombenangriffe geschädigte Kinder übernahm, Heime für diese eroeffnete, so ihre Kenntnisse ergaenzen und ihre Forschungen fortsetzen konnte. Flucht bedeutet, wie wir aus den so verschieden verlaufenen Schicksalen ersehen, Verlust, Desorientierung, sie kann aber auch die Chance für Neubeginn und persoenliche oder berufliche Entfaltung bedeuten. Susanne Binder geht in ihrem Beitrag darauf ein, dass frauenspezifische Aspekte in der Fluechtlingsforschung bislang weitgehend vernachlaessigt wurden. Oft werden Frauen als passive Opfer dargestellt, in Statistiken werden Frauen oftmals nicht eigens ausgewiesen, und auch die Genfer Fluechtlingskonvention ist kein geschlechtsneutrales Konzept. Dies hat wiederum zur Folge, dass Frauen mit besonderen Problemen zu kaempfen haben, wenn es um frauenspezifische Fluchtgruende geht. Binder setzt sich mit diesen Problem nicht nur auf einer grundsaetzlichen Ebene auseinander, sondern versucht deren Bedeutung an Hand von konkreten Fluchtschicksalen darzustellen. Der Beitrag von Edith Hobsig ist dem Problembereich Asyl und Integration in Oesterreich gewidmet und beruht auf der ersten empirischen Untersuchung, die in Oesterreich über die Situation weiblicher Konventionsflüchtlinge durchgefuehrt wurde. Im Rahmen einer vom UNHCR initiierten Studie wurden siebzehn ausfuehrliche qualitative Interviews mit weiblichen Konventionsflüchtlingen gefuehrt und darueber ausfuehrliche Informationen von VertreterInnen von Fluechtlingsorganisationen eingeholt. Der Beitrag beschaeftigt sich jedoch nicht nur mit dem Thema Flucht und Asylgewaehrung, sondern auch mit den Moeglichkeiten und Schwierigkeiten der Integration in der „neuen Heimat“. Auch Birgit Unterlechner stuetzt sich auf qualitative Interviews, wenn sie in ihrem Beitrag die Frage stellt, in welcher Situation sich Frauen, die durch den Krieg aus ihrer Heimat vertrieben wurden, nach überstandener Flucht im Aufnahmeland befinden. Unterlechner beschreibt die Demuetigungen, die durch Stereotypisierung, Ethnisierung und Dequalifizierung von ihren Interviewpartnerinnen erlebt werden mussten. Sie beschreibt aber auch, wie es den Frauen gelang, traumatische Erfahrungen zu verarbeiten, Verlust der engsten Angehoerigen, Demuetigung und Hoffnungslosigkeit zu ueberwinden und schließlich neue Perspektiven zu entwickeln. Nicht mit Flucht, sondern mit Migration von Frauen beschaeftigt sich Annemarie Steidl in ihrem Beitrag über die Emigration von Frauen aus den Laendern der Habsburgmonarchie in die USA. Dabei stuetzt sich Steidl auf neue Quellen, naemlich die Passagierlisten von Auswanderungsschiffen. Die Analyse dieser Listen erlaubt es zum ersten Mal, detaillierte Angaben über die Anzahl, Alter, Familienstand, sowie Beruf eines erheblichen Teils von MigrantInnen zu machen. Steidl betont, dass Frauen ebenso wie Maenner auf der Suche nach besseren Erwerbsmoeglichkeiten auswanderten. Migration bedeutete für Frauen jedoch nicht nur die Konfrontation mit geschlechtsspezifischen Schwierigkeiten, die Hoffnung auf den ersehnten sozialen Aufstieg erfüllte sich keineswegs in allen Faellen. Migration bedeutete darueber hinaus oft auch den Bruch mit Traditionen und den Beginn neuer Lebensformen. Wie aktuell und vielschichtig die Problematik von Flucht und Ausgrenzung heute ist, zeigt schließlich Ruth Wodak in der Rubrik „Im Gespraech“. Die Flucht der Eltern warf und wirft lange Schatten über das Leben der Tochter, haengt mir ihrer beruflichen Ausgrenzung – als „Juedin, Frau und kritische Sozialwissenschaftlerin“ – zusammen und bedeutet wiederum Verlassen des Landes. Das Rad der Geschichte wiederholt sich bekanntlich nicht, aber –scheint die Spur nicht dem Weg der Vergangenheit zu folgen? Berichte über die Forschungsprogramme und Entwicklungen in Genderfragen in so verschiedenen Staaten wie den Niederlanden und Bulgarien von Mineke Bosch und Krassimira Daskalova, sowie eine Vorstellung der Selbstzeugnisse von Frauen im Archivio Diaristico Nazionale in Pieve Santo Stefano durch Patrizia Gabrielli schließen den vorliegenden Band ab. „Auf der Flucht“ – ein Problem, das uns Tag für Tag begegnet – zeigt erstaunliche Forschungsluecken, vor allem was den frauenspezifischen Aspekt betrifft. Das vorliegende Heft von L’Homme bietet einen Einblick in die Thematik und will zu weiteren Auseinandersetzungen mit den Bereichen Flucht und Migration anregen.
15. Jg. Heft 2 2004
Auf der Flucht
Herausgegeben von Erna Appelt und Waltraud Heindl
Inhalt
Traude Bollauf: Flucht und Zuflucht. Als Dienstmaedchen nach England. Am Beispiel dreier Frauen aus Wien
Susanne Binder: Kategorisch ausgeklammert. Die Kategorie gender in der Asylpolitik
Edith Hobsig: Frauen auf der Flucht: Asyl und Integration in Oesterreich aus frauenspezifischen Perspektiven
L’Homme Extra
Annemarie Steidl: Jung, ledig, raeumlich mobil und weiblich. Von den Laendern der Habsburgermonarchie in die Vereinigten Staaten der USA
Im Gespraech
Alice Teichova ueber ihr Leben – gezeichnet von Flucht- und Wanderbewegungen. Im Gespraech mit Waltraud Heindl
Edith Saurer im Gespraech mit Ruth Wodak
Aktuelles und Kommentare
Gabriella Hauch: Achtundvierzigerinnen auf der Flucht. Anmerkungen zur geschlechtsspezifischen politischen Emigration und zum Transfer von Frauenemanzipation nach der Niederschlagung der Revolution 1848/49
Hannah Fischer: Leben nach der Flucht. Anna Freud – verfemt, vertrieben, wieder entdeckt
Birgit Unterlechner: Ueber Grenzen – Wider Begrenzungen. Ausschnitte aus biografischen Interviews mit gefluechteten und immigrierten Frauen
Mineke Bosch: Zaesuren. Eine Bewertung des Untersuchungsprogramms „Niederlaendische Kultur im europaeischen Kontext“ der Niederlaendischen Organisation für Wissenschaftliche Forschung (NWO) aus der Perspektive von Frauengeschichte und Genderstudien
Forum
Krassimira Daskalova: Der Einschluss und Ausschluss von Frauen in bulgarischen Geschichtsbuechern der 1990er-Jahre
Aus den Archiven
Patrizia Gabrielli: Tagebücher, Erinnerungen, Autobiografien. Selbstzeugnisse von Frauen im Archivio Diaristico Nazionale in Pieve Santo Stefano
Rezensionen
Wolfgang Mueller-Funk: Christa Haemmerle u. Edith Saurer Hg., Briefkulturen und ihr Geschlecht. Zur Geschichte der privaten Korrespondenz vom 16. Jahrhundert bis heute
Dominique Grisard: Johanna Gehmacher u. Maria Mesner Hg., Frauen- und Geschlechtergeschichte. Positionen/Perspektiven
Martina Gugglberger: Christof Dejung u. Regula Staempfli Hg., Armee, Staat und Geschlecht. Die Schweiz im internationalen Vergleich 1918-1945
Helga Embacher: Gerda Lerner, Fireweed. A Political Autobiography
Elisabeth Malleier: Claudia Prestel, Jugend in Not. Fuersorgeerziehung in deutsch-juedischer Gesellschaft (1901-1933)
Brigitte Rath: Ruth Mazo Karras, From Boys to Men. Formations of Masculinity in Late Medieval Europe
Alexandra Weiss: Sieglinde K. Rosenberger u. Birgit Sauer Hg., Politikwissenschaft und Geschlecht. Konzepte – Verknüpfungen – Perspektiven
Abstracts
Anschriften der AutorInnen