Knochen, rohes Fleisch, Tod: So drastisch kann Anatomie umschrieben werden. Darüber hinaus verbinden sich aber mit Anatomie eine ganze Anzahl performativer und darstellender, dynamischer und statischer Praktiken an sehr unterschiedlichen Orten und in sehr verschiedenen sozialen und kulturellen Kontexten. „Zergliederungen“ meinen diese anatomischen Operationen ebenso wie den analytischen Umgang mit ihren Akteuren und ihrer Wahrnehmung.
Die Akteure der Anatomie bewegen sich in den Bereichen zwischen Wissenschaften und Künsten, die Wahrnehmungen zwischen den Polen von Ästhetik, Moral und Wissenschaft. Welche Ordnungen von Körper, Mensch und Welt werden in diesen Wahrnehmungen vorbereitet oder nachgezeichnet? Welches sind die Konsequenzen für die Wahrnehmung des einzelnen Menschen, für die Konstitution und Trennung von Subjekt und Objekt? Wie steht es um die Verfügbarkeit der lebenden und toten Körper?
Diese Fragen umschreiben die Themenkomplexe, denen die Beiträge in diesem Buch aus den Perspektiven von Philosophie, Geschichtswissenschaften, Bild- und Textwissenschaften nachgehen. Ausgehend vom „Ereignis Vesal“, der Publikation seiner De humani corporis fabrica libri septem im Jahr 1543, wird ein analytischer Bogen gespannt über diskursive Kontexte, Vivisektion, Modellbildung und moderne Bildgebungsverfahren bis hin zur Auffächerung des komplexen Prozesses von anatomischer Forschung und nationalsozialistischen Verbrechen und ihrer Verarbeitung in medizinhistorischer Darstellung nach 1945.
Albert Schirrmeister/ Mathias Pozsgai, Perspektiven der Zergliederung. Einleitende Bemerkungen
Sven Lembke, Wie der menschliche Leichnam zu einem Buch der Natur ohne Druckfehler wird. Über den epistemologischen Wert anatomischer Sektionen im Zeitalter Vesals
Matteo Burioni, Corpus quod est ipsa ruina docet. Sebastiano Serlios vitruvianisches Architekturtraktat in seinen Strukturäquivalenzen zum Anatomietraktat des Andreas Vesalius
Cynthia Klestinec, Juan Valverde de (H)Amusco and Print Culture The Editorial Apparatus in Vernacular Anatomy Texts
Claus Zittel, Demonstrationes ad oculos. Typologisierungsvorschläge für Abbildungsfunktionen in wissenschaftlichen Werken der frühen Neuzeit
Alessandro Nova, ‚La dolce morte’: Die anatomischen Zeichnungen Leonardo da Vincis als Erkenntnismittel und reflektierte Kunstpraxis
Markus Buschhaus, Anatomische Operationen: Körperwissen zwischen Seziertisch und Bildfläche
Marlen Bidwell-Steiner, Weibliche Anatomie zwischen Gebärmutter und 'frommer' Mutter: Metaphorische Relationen von Gesellschaftskörper und Geschlechtskörper bei Juan Huarte de San Juan und Oliva Sabuco de Nantes y Barrera
Sergius Kodera, Meretricious arts: cosmetic surgery, the astrological significance of birthmarks and their manipulation in Giambattista della Porta’s Metoposcopia, Physionomia and Magia naturalis
Peter Mitchell, Anatomy, Rationality and Scepticism. The Poetic Anatomies of John Davies of Hereford and Phineas Fletcher
Ulrike Zeuch, Anatomie als die Herausforderung für die Schönheitsbestimmung des menschlichen Körpers seit der Frühen Neuzeit
Stefanie Stockhorst, Unterweisung und Ostentation auf dem anatomischen Theater der Frühen Neuzeit: Die öffentliche Leichensektion als Modellfall des theatrum mundi
Anna Maerker, Handwerker, Wissenschaftler und die Produktion anatomischer Modelle in Florenz, 1775-1790
Nicole C. Karafyllis, Der therapeutische Blick ins Körperinnere und die Vivisektion. Methodische Grundlegungen der experimentellen Physiologie Claude Bernards im 19. Jahrhundert und ihre Bedeutung für die Gegenwart
Daniela Bohde, Pellis Memoriae Peccatorum: Die Moralisierung der Haut in Frotispizen und Anatomietheatern der Niederlande im 17. Jahrhundert - ein blinder Flecken in der Medizingeschichte nach 1945