Ein Film aus Deutschland hat einen Oscar gewonnen, und zwar ausgerechnet einer über das Leben in der DDR. Das sollte Auftrieb geben für die weitere Aufarbeitung der (ost-)deutschen Diktaturvergangenheit, ist es doch in »Das Leben der Anderen« gelungen, die »bedrückende Atmosphäre eines totalitären Überwachungsstaates auf die Leinwand zu bringen«, so der Bürgerrechtler Werner Schulz in der Welt. Zugleich rügt Schulz an dem Streifen jedoch eine »kreative Verharmlosung«, da es den Wandel von einem »harten Hund« zu einem »Dissidenten-Beschützer« in der DDR nicht gegeben habe: Es gab (leider) »keinen Tschekisten, der Staatsfeinde deckte.« Das ist zweifellos richtig, und insofern ist gerade »Das Leben der Anderen« ein guter Anlass, über die deutsche Diktatur(en)geschichte und über deren Aufarbeitung ins Gespräch zu kommen – über die Kreise der Wissenschaft und der Zeitzeuginnen und Zeitzeugen hinaus. Der Film wirft gerade dadurch, dass hier »frei und phantasievoll« (so nochmals Schulz) mit der DDR-Geschichte umgegangen wird, etliche Fragen auf. Fragen an das Leben in der Diktatur, an die Motive der Täter ebenso wie an Motive, sich nicht anzupassen oder gar Widerstand zu leisten. Das sind wesentliche Fragen an die Aufarbeitung diktatorischer Vergangenheit. Ihnen widmet sich (neben weiteren Themen) auch das Deutschland Archiv in seiner vorliegenden Ausgabe. Dabei wird der Bogen gespannt vom Umgang mit dem Nationalsozialismus im Kontext der deutschen Teilung über die Debatten um Entschädigungen von Opfern des SED-Regimes, um ehemalige Stasi-Mitarbeiter in der Birthler-Behörde und um die Zeitschrift Horch und Guck bis zur Auseinandersetzung um aktuelle Gefährdungen der Demokratie in Deutschland. All diese Themen berühren auch jeweils die Frage nach den Motiven der jeweiligen Akteure. Verschiedene Beiträge im vorliegenden Deutschland Archiv greifen diesen Aspekt in verschiedenen Perspektiven auf – zum Teil in sehr individuellen Betrachtungen: Sei es in der Person Arno Wends, der sowohl den Nazis als auch den Kommunisten widerstand, sei es in der Person Hans Mayers, einem der großen Denker im geteilten Deutschland, oder sei es in Gestalt von Zuträgern der Staatssicherheit, etwa in der Grenzpolizei der DDR. Motive und Ziele einzelner Personen und Gruppen spielen auch eine wesentliche Rolle bei der Suche nach Perspektiven der Oppositionsforschung, die in diesem Heft diskutiert werden. Zuweilen entsteht der Eindruck, als spielten Opposition und Widerstand – trotz umfangreicher Forschungen dazu – für die Entwicklung der DDR und damit sowohl für die innerdeutschen Beziehungen als auch für den Transformationsprozess im vereinigten Deutschland nur eine marginale Rolle. Tatsächlich aber haben sie die Entwicklung der DDR und ihrer Gesellschaft vor allem in der Früh- und in der Endphase des SED-Staates entscheidend geprägt. Im Alltag waren Opposition und Widerstand durchaus greifbar, auch wenn sie keine Massenphänomene waren. Vielmehr verwischten im Alltag vielfach die Grenzen zwischen Anpassung, Nonkonformismus und offenem Widerstand. Deshalb ist es notwendig, sich gerade mit dem Alltag in der DDR besonders kritisch auseinanderzusetzen. Ob und wie dies gegenwärtig in Museen und Ausstellungen geschieht, wird ebenfalls im vorliegenden Deutschland Archiv diskutiert. Unkritische Blicke auf den DDR-Alltag könnten tatsächlich der Vorstellung Vorschub leisten, »die größte Gefahr in der DDR hätte darin bestanden, sich totzulachen«, so Werner Schulz über verschiedene (»Ostalgie«-)Filme der letzten Jahre. Dass dem nicht so war, das immerhin macht »Das Leben der Anderen« deutlich.
KOMMENTARE Sven-Felix Kellerhoff/Uwe Müller: Selbst verschuldet. Die Stasi-Unterlagenbehörde in der Legitimationskrise S. 197-201 Achim Beyer: Von der versprochenen »Ehrenpension« zur Almosen-Regelung. Zur aktuellen Diskussion um ein 3. SED-Unrechtsbereinigungsgesetz S. 202-205 Johannes Beleites: Man schlägt den Sack und meint den Esel. Zum Konflikt um die Zeitschrift Horch und Guck S. 205-209 Lutz Rathenow: Das Leben der Anderen. Was die DDR-Aufarbeitung von einem jungen Regisseur lernen kann S. 210-211 Wilhelm Bleek: Ein leidenschaftlicher Wissenschaftler. Nachruf auf Lothar Mertens (1959 – 2006) S. 211-212 Jörg Bernhard Bilke: Ein Meister der »Informationsliteratur«. Nachruf auf Klaus Poche (1927 – 2007) S. 213-214
ZEITGESCHEHEN Erik Gurgsdies: Demokratie ohne Gerechtigkeit – Wasser auf die Mühlen rechtsextremistischer Parteien. Anmerkungen anlässlich der Landtagswahl in Mecklenburg-Vorpommern im Lichte neuer empirischer Untersuchungen S. 215-222 Ulrich Brümmer: Schwarz-rote Vernunftehe in Sachsen. Fragile Beziehungen im Parteiensystem des Freistaates S. 222-230
ZEITGESCHICHTE Arnd Bauerkämper: Nationalsozialismus ohne Täter? Die Diskussion um Schuld und Verantwortung für den Nationalsozialismus im deutsch-deutschen Vergleich und im Verflechtungsverhältnis von 1945 bis zu den Siebzigerjahren S. 231-240 Mike Schmeitzner: »Die beiden Systeme der Gewalt und Unterdrückung haben nicht vermocht, meinen Willen zu brechen …«. Widerstand gegen zwei Diktaturen. Der Fall Arno Wend S. 240-249 Manfred Overesch: Der Augenblick in der Geschichte. Die Bremer Interzonenkonferenz am 4./5. Oktober 1946 S. 249-256 Stefan Matysiak: Umfassende Kooperation als Lehre. Nach dem Zweiten Weltkrieg: ein Unternehmerverband von Zeitungsverlegern in einer Journalistengewerkschaft S. 256-264 Igor J. Polianski: Das Rätsel DDR und die »Welträtsel«. Wissenschaftlich-atheistische Aufklärung als propagandistisches Konzept der SED S. 265-274 Gerhard Sälter: Bespitzelung von Kameraden. Informationsbeschaffung und Informanten des MfS in der Grenzpolizei der DDR in den Fünfzigerjahren S. 275-284 Manfred Wilke: Der Berliner Appell 1982. Erinnerungen eines Zeitzeugen S. 284-287 Jan Schönfelder/Rainer Erices: Kohls geheime Reise in die DDR S. 288-296 Horst Schmidt: Aufklärer, Außenseiter und Deutscher auf Widerruf. Zum 100. Geburtstag von Hans Mayer S. 296-300
FORUM Bernd Florath/Bernd Gehrke/Renate Hürtgen/Thomas Klein: Perspektiven künftiger Oppositionsforschung – ein Beitrag zur Diskussion S. 301-306 Susanne Köstering: Alltagsgeschichte der DDR in aktuellen Ausstellungen S. 306-312 Erich Röper: Auslaufmodell Nationalstaat – auch der deutsche. Europäisches Volk und Nationalstaat im 21. Jahrhundert S. 313-320 Anmerkung zu Igor Maximytschew/Dieter Schröder, »Bundesland« – ein Begriff als politisches Programm, in: DA, 1/2007, S. 136 – 139 (Jan Foitzik) S. 320-321
TAGUNGEN, VERANSTALTUNGEN Juliane Haubold-Stolle: Der kalte Krieg. Trilaterale Tagung in Genshagen S. 322-324 Achim Beyer: Herrschaft, Alltag und Widerstand in der SED-Diktatur. Seminar in Tutzing S. 325-329 Henning Pietzsch: Stabilität versus Systemkrise – die DDR im Jahr 1987. Konferenz und Workshop in Potsdam S. 329-332 Oliver Ruf: Literatur als Erinnerungskultur. X. Literarisch-Politisches Symposium der Konrad-Adenauer-Stiftung in Berlin S. 333-335 Richtigstellung. Zum Bericht über das XVII. Bautzen-Forum von Achim Beyer, Demokraten im Unrechtsstaat (DA, 4/2006, S. 704 – 707) (Peter Joachim Lapp) S. 335
REZENSIONEN Clemens Burrichter u. a. (Hg.): Deutsche Zeitgeschichte von 1945 bis 2000 (Martin Sabrow) S. 336-339 Ulrike Weckel, Edgar Wolfrum (Hg.): »Bestien« und »Befehlsempfänger« (Clemens Vollnhals) S. 340-341 Henry Leide: NS-Verbrecher und Staatssicherheit (Armin Wagner) S. 341-342 Daniel Niemetz: Das feldgraue Erbe; Loretana di Libero: Tradition in Zeiten der Transformation (Eberhard Birk) S. 343-344 Johanna Sänger: Heldenkult und Heimatliebe; Gero Lietz: Zum Umgang mit dem nationalsozialistischen Ortsnamen-Erbe in der SBZ/DDR (Silke Flegel) S. 345-346 Petra Haustein u. a. (Hg.): Instrumentalisierung, Verdrängung, Aufarbeitung (Andrew Beattie) S. 347-348 Christoph Cornelißen u. a. (Hg.): Diktatur – Krieg – Vertreibung (Jan Pauer) S. 348-350 Dietmar Neutatz, Volker Zimmermann (Hg.): Die Deutschen und das östliche Europa; Jan C. Behrends: Die erfundene Freundschaft (Theo Mechtenberg) S. 350-352 Stefan Plaggenborg: Experiment Moderne (Bernd Bonwetsch) S. 352-353 Gerd Koenen: Der Rußland-Komplex (Bernd Faulenbach) S. 353-354 Jan Foitzik, Natalja P. Timofejewa (Bearb.): Die Politik der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland (SMAD) (Ilko-Sascha Kowalczuk) S. 355-356 Solveig Simowitsch: »… Werden als Wortbrüchige in die Geschichte der SPD eingehen …« (Manfred Wilke) S. 356-358 Anton Ackermann: Der deutsche Weg zum Sozialismus (Andreas Malycha) S. 358-359 Pierre Radvanyi: Jenseits des Stroms (Jörg Bernhard Bilke) S. 359-360 Lothar Mertens (Hg.): Lexikon der DDR-Historiker; Lothar Mertens: Priester der Klio oder Hofchronisten der Partei? (Rainer Eckert) S. 360-362 Klaus Steinitz, Wolfgang Kaschuba (Hg.): Wolfgang Steinitz (Mario Keßler) S. 362-363 Merrilyn Thomas: Communing with the Enemy (Peter Maser) S. 363-364 Maren Oepke: Rechtsextremismus unter ost- und westdeutschen Jugendlichen (Irene Gückel) S. 365-366 Johannes Oschlies: Entrissene Heimat; Ernst O. Schönemann: Zwangsaussiedlung im eigenen Land (Inge Bennewitz) S. 366-367 Annotationen S. 367
AKTUELLES AUS DER DDR-FORSCHUNG Newsletter 1/2007 S. 370-382
Die Autorinnen und Autoren dieses Heftes S. 383-384 Impressum S. 384
Redaktionsschluss: 16. März 2007