Die Filmgeschichtsforschung in Deutschland hat in den vergangenen Jahren viele Informationen besonders über die Frühzeit des Kinos zutage gebracht und neben der Erweiterung unserer Kenntnisse auch stets Anreize für weitere Erkundungen mitgeliefert. Zur Weiterarbeit laden außerdem die vielen Querverbindungen ein, die sich hier fortlaufend auftun. Immer wieder zeigt sich dabei, wie nützlich und erkenntnisträchtig regionalgeschichtlich fokussierte Forschungen zu schmalen Kino-Feldern sein können. So empirisch sie im Einzelnen sein mögen, so sehr verlocken sie doch, mancherlei ihrer Ergebnisse „hochzurechnen“ oder mit anderen medialen Erscheinungen der Zeit ins Verhältnis zu setzen. Diese Eigentümlichkeit wird wohl auch künftig von Bedeutung sein, sie kann als reizvolle Herausforderung begriffen werden. Die vorliegende Filmblatt-Ausgabe bietet mit Ralf Forsters Aufsatz über den Zusammenhang von früher Filmtechnik, industrieller Produktion und Marktauswertung ein auf die sächsische Apparate-Industrie in Dresden konzentriertes Beispiel. Jutta Schäfers konzise Beschreibung eindrucksvoller Fundstücke aus dem Freiburger Stadtarchiv – Hausplakate, die Freiburger Kinobetreiber für ihre Außenwerbung anfertigen ließen – schlägt dazu eine originelle und aufschlussreiche Ergänzung vor. Man kann sicher sein, dass sich solche Funde auch in anderen regionalen (und privaten?) Archiven werden machen lassen.
Es mag nur wenig verwundern, dass es nicht an Versuchen fehlt, „frühe“ Kinosituationen für heute nachzustellen, stets begleitet von der Hoffnung, über den bloßen Event hinaus das wirkliche Funktionieren eines versunkenen Kommunikationsgeflechts zwischen Alltagsvergnügen und Jahrmarktsspektakel durchschmecken zu können. Brigitte Braun und Martin Loiperdinger berichten in ihrer engagierten Selbstanzeige von einem Pilotprojekt solcher Wiederbelebung, das die Cinémathèque de la Ville de Luxembourg und das Fach Medienwissenschaft der Universität Trier mit „Crazy Cinématographe“ veranstalteten. Dabei kam ihnen die öffentliche Aufmerksamkeit für Luxembourg als Kulturhauptstadt Europas 2007 zugute. Man kann neugierig sein, zu erfahren, ob das schillernde Experiment Nachfolger findet und welche Erfahrungen anderswo gemacht werden. Insbesondere wären genauere Erkenntnisse über Besucherreaktionen des „Volksfestpublikums“ von Wert. CineGraph Babelsberg und Filmblatt werden dafür auch künftig eine Plattform öffentlicher Verständigung bereithalten.
In anderen Teilen dieses Heftes schlagen sich weitere und vor allem kontinuierliche Aktivitäten und Interessen von CineGraph Babelsberg – bezogen auf einzelne Filme – nieder: Martin Loiperdinger referiert unter der durchaus ironisch gemeinten Überschrift „Ein deutsches Insekt“ über den Film DIE BIENE MAJA UND IHRE ABENTEUER (1926) und durchleuchtet dessen Produktions- und besonders die Rezeptionsgeschichte, die weit über einen „Insektenfilm“ hinausgehen. Philipp Osten berichtet über (Berliner) Ärzte als Filmregisseure bei dem Ufa-Kulturfilm aus dem Berliner Oskar-Helene-Heim, KRÜPPELNOT UND KRÜPPELHILFE (1920), und ergänzt damit die aktuelle Berliner Medizingeschichtsschreibung um eine wissenswerte mediale Flanke. Jeanpaul Goergen schließlich charakterisiert Curt Oertels Film NEUE WELT (1954) schon in der Überschrift seines Textes „Vom Wigwam zum Wolkenkratzer“. Philipp Stiasny schlägt in seinem Review Essay, angeregt durch sehr unterschiedliche Publikationen der letzten Zeit, einen weiten Bogen über Leben und Werk der bundesdeutschen Produzenten Arthur Brauner und Luggi Waldleitner sowie des Schweizer Kinounternehmers Erwin C. Dietrich. Das Spannungsfeld, das er aufmacht, also das Genrekino in der Bundesrepublik „zwischen Mainstream und Nischenexistenz“, und die beschriebenen Publikationen annoncieren weiteren Forschungsbedarf. Schließlich besprechen Horst Claus, Tobias Ebbrecht, Ralf Forster, Uli Jung, Jörg Schweinitz und Jens Thiel aktuelle Neuerscheinungen filmhistorischer Literatur und Jürgen Kasten Günther Rühles Kompendium Theater in Deutschland, 1887-1945.
Günter AgdeBerlin, den 11. Juli 2008
Filmblatt 13. Jg., Nr. 37, Sommer 2008
Editorial [3]
Ralf Forster: Aufbruch ins kinematografische Zeitalter. Intermedialität und Technikgeschichte des frühen Films am Beispiel Dresden [5]
Jutta Schäfer: „Vorführung flimmerfreier kinematographischer Bilder in unerreichter Vollendung.“ Frühe Kinoplakate im Stadtarchiv Freiburg [27]
Brigitte Braun, Martin Loiperdinger: „Crazy Cinématographe“ auf dem Jahrmarkt. Projektbericht einer Wiederbelebung des frühen Kinos [31]
FilmDokument Philipp Osten: Ärzte als Filmregisseure. Ein Ufa-Kulturfilm aus dem Berliner Oskar-Helene-Heim für die Heilung und Erziehung gebrechlicher Kinder, aufgenommen in den Jahren 1910 bis 1920. KRÜPPELNOT UND KRÜPPELHILFE [37]
Jeanpaul Goergen: Vom Wigwam zum Wolkenkratzer. Curt Oertels Film NEUE WELT von 1954 zeigt Amerikas Architektur und vergißt die Menschen [57]
Martin Loiperdinger: Ein deutsches Insekt. DIE BIENE MAJA UND IHRE ABENTEUER (1926) [65]
Service Bundesarchiv fordert gesetzliche Abgabepflicht von Filmen [81]
Deutsches Hygiene-Museum erschließt historischen Filmbestand [81]
Filme des Armeefilmstudios der NVA in digitaler Form benutzbar [82]
Review EssayPhilipp Stiasny: Winnetou und die Rache der lüsternen Schulmädchen. Genrekino in der Bundesrepublik zwischen Mainstream und Nischenexistenz [83]
BesprechungenThomas Elsaesser: Terror und Trauma. Zur Gewalt des Vergangenen in der BRD. Berlin: Kadmos Kulturverlag 2006/2007 (Tobias Ebbrecht) [92]
Roel Vande Winkel, David Welch (Hg.): Cinema and the Swastika. The International Expansion of Third Reich Cinema (Horst Claus) [96]
Margrit Tröhler: Offene Welten ohne Helden. Plurale Figurenkonstellationen im Film (Jörg Schweinitz) [99]
Günther Rühle: Theater in Deutschland 1887-1945. Seine Ereignisse – seine Menschen (Jürgen Kasten) [102]
Vinzenz Hediger, Patrick Vonderau (Hg.): Filmische Mittel, industrielle Zwecke. Das Werk des Industriefilms / montage/av. 14/2/2005. Gebrauchsfilm (1), Godards Geschichte(n). / montage/av. 15/1/2006. Gebrauchsfilm (2) (Ralf Forster) [104]
Thomas Wittek: Auf ewig Feind? Das Deutschlandbild in den britischen Massenmedien nach dem Ersten Weltkrieg (Jens Thiel) [106]
Elisabeth Wicki-Endriss: Die Filmlegende Bernhard Wicki. Verstörung – und eine Art von Poesie (Tobias Ebbrecht) [109]
Carl Zuckmayer. DER HAUPTMANN VON KÖPENICK. Die Drehbücher aus den Jahren 1931 und 1956 (Uli Jung) [110]
Mitarbeiter dieser Ausgabe [111]
Impressum [113]