Editorial von Joachim RohlfesÜber die Ziele und Methoden von Schulbuchuntersuchungen denken viele Betroffene - Didaktiker, Lehrer, Verlagsredakteure, Schulministerien - seit langem nach. Ihr Interesse ist aber nicht nur theoretisch motiviert, sondern stets auch auf praktische Fragen gerichtet: Fortwährend müssen neue Bücher konzipiert, ministeriale Gutachten erstellt, Entscheidungen über die Anschaffung bestimmter Unterrichtswerke getroffen, Rezensionen für das Fachpublikum erarbeitet werden. Das verläuft in der Regel nicht ohne Streit, zumal nicht nur das fachliche Renommee der Beteiligten, sondern auch massive ökonomische Interessen auf dem Spiel stehen. Obwohl wir heute über elaborierte methodologische Standards der Schulbuchanalyse verfügen, sind bei der konkreten Anwendung dieser Regeln kräftige Meinungsverschiedenheiten gang und gäbe. Was sich in der Theorie plausibel und konsistent darbietet, ist im Einzelfall mitunter gar nicht so eindeutig und zwingend. Auch die ausgefeiltesten Kriterienraster können in der praktischen Anwendung Unschärfen aufweisen, die die Auslegungs-Spielräume größer machen, als es der Theorie bekömmlich ist.
Das größte Hindernis für eine "objektive", also intersubjektiv valide, von der Sichtweise des Gutachters unabhängige Beurteilung ist die Komplexität des Untersuchungsgegenstandes "Schulgeschichtsbuch". Schulbücher unterliegen vielen Determinanten: Ihre Inhalte müssen erstens fachlich korrekt sein, d. h. der aktuellen Forschungs- und Diskussionsstand entsprechen; damit ist nicht nur die "faktische" Richtigkeit gemeint, sondern auch der angemessene Fragehorizont, die Stichhaltigkeit der Argumentation, die für das Thema relevante Kontextualisierung und (auf der Meta-Ebene) die reflektierte Beachtung grundlegender fachspezifischer Axiome und Kategorien. Zweitens muss das Buch den anerkannten geschichtsdidaktischen Prinzipien Genüge tun: also etwa dem Gebot der Multiperspektivität, der Unterscheidung von Sach- und Werturteil, dem fragend-forschenden Ansatz oder der Verpflichtung auf eine "offene", den Gestus definitiver Gültigkeit vermeidende Geschichtsdarstellung. Drittens soll ein Buch alle wichtigen Formen historischen Lernens und die darauf bezogene Vielfalt der Medien anbieten, über die Regeln ihrer Anwendung und Nutzung informieren und vielgestaltige Gelegenheit zu ihrer praktischen, dabei auch reflektierten Einübung geben. Weitere, hier nur pauschal zu erwähnende Vorgaben für die Schulbuch-Produktion sind die amtlichen Lehrpläne, die mehr oder minder rigide Umfangsbegrenzung, eine ansprechende grafische Gestaltung, schließlich auch der Preis. Schulbuchkritiker dürfen ruhig das "ideale" Schulbuch vor Augen haben, aber gleichzeitig niemals dessen reale Möglichkeiten aus dem Blick verlieren; sie brauchen die Tugend der Urteilsgerechtigkeit. Welch wichtige Rolle sie spielt, können die Beiträge dieses Heftes illustrieren. Sie verweisen vor allem auf zwei Probleme: (1) Ist die (relative) stoffliche Vollständigkeit der Darstellung unabdingbar - wie Mätzing meint -, oder zählt allein das Lern- und Bildungspotenzial der gewählten Aspekte, wofür Pohl plädiert? (2) Muss der/die Kritiker/in die Kriterien der Beurteilung im Vorhinein explizit darlegen (wie dies Mätzing mit großer Ausführlichkeit und Selbstsicherheit tut), oder sollen solche Parameter eher offen gefasst und erst in der Untersuchung nach und nach konkretisiert werden, wozu Grindel tendiert? Wer dezidiert vorgibt, welcher Version der fraglichen geschichtlichen Sachverhalte er/sie zu folgen gedenkt, behauptet damit, das (allein?) richtige Narrativ bereits zu kennen - was angesichts des prekären erkenntnistheoretischen Status der Geschichtswissenschaft recht kühn ist. Freilich kommt auch die hermeneutische Herangehensweise nicht ohne einigermaßen distinkte Positionen des Analysten aus. Hier tut sich ein echtes Dilemma auf: Ohne bestimmte Maßstäbe geht es nicht; aber man sollte sie im Einzelfall nicht immer rigoros anwenden, sondern eine gewisse Flexibilität walten lassen. Dass hier guter Rat teuer ist, bekommt der Schulbuchkritiker stets erneut zu spüren.
Inhalt der Ausgabe
ABSTRACTS (S. 2)
EDITORIAL (S. 3)
BEITRÄGEHeike Christina Mätzing Fehlanzeige? Die Stasi in aktuellen Geschichtsschulbüchern (S. 4)
Susanne Grindel Wirtschaft und Unternehmer in deutschen, englischen und schwedischen Schulbüchern - nationale Narrative im europäischen Vergleich (S. 18)
DISKUSSIONKarl Heinrich Pohl Die "Stiftung Warentest" und die deutschen Schulgeschichtsbücher Ein exemplarisches Beispiel für einen misslungenen Test (S. 32)
Christoph Meyer "Schulbücher sind keine Joghurtbecher" Stellungnahme zum Schulbuchtest der Stiftung Warentest (S. 38)
Holger Brackemann/Dagmar Saurbier Schulbücher im Test - Aufgaben und Arbeit der Stiftung Warentest Eine Erwiderung auf Karl Heinrich Pohl (S. 42)
INFORMATIONEN NEUE MEDIENGregor Horstkemper/Alessandra Sorbello Staub Historische Schulbücher unter der Lupe Die Webangebote des Georg-Eckert-Instituts für internationale Schulbuchforschung (S. 45)
LITERATURBERICHTJoachim Rohlfes Geschichtsdidaktik - Geschichtsunterricht, Teil II (S. 47)
NACHRICHTEN (S. 68)
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Abstracts
Heike Christina MätzingFehlanzeige?Die Stasi in aktuellen Geschichtsschulbüchern GWU 60, 2009, H. 1, S. 4-27 Fast zwanzig Jahre nach dem Ende der DDR ist die Diskussion um die "Stasi", also den Staatssicherheitsdienst der DDR, nicht verstummt. Vielmehr lässt sich ein zunehmendes mediales Interesse verzeichnen, an dem nicht zuletzt der Spielfilm "Das Leben der Anderen" seinen Anteil hat. So liegt auch die Frage nahe, welche Bedeutung dem Thema in der historisch-politischen Bildung zukommt. Der Beitrag resümiert das Ergebnis einer Schulbuchanalyse, in der 50 aktuell zugelassene Geschichtsbücher daraufhin untersucht wurden, welchen Stellenwert sie dem MfS zumessen, inwieweit sein Charakter auch als Geheimpolizei deutlich wird und inwiefern die Opfer und ihre Perspektiven berücksichtigt werden. Das Ergebnis verweist nicht zuletzt auf das offizielle Bild, das sich die Bundesrepublik gegenwärtig von diesem Teil ihrer Vergangenheit macht.
Susanne GrindelWirtschaft und Unternehmer in deutschen, englischen und schwedischen Schulbüchern - nationale Narrative im europäischen VergleichGWU 60, 2009, H. 1, S. 28-31 Der Beitrag untersucht, welches Bild europäische Schulbücher von Wirtschaft und Unternehmern vermitteln. Er basiert auf der Analyse von 142 Lehrwerken aus Deutschland, England und Schweden. Der Vergleich zeigt auf der einen Seite, dass in allen drei Ländern der ökonomischen Bildung überraschend hohe Bedeutung zugemessen wird. Auf der anderen Seite macht er deutlich, wie stark landesspezifische Traditionen und Deutungen dabei sind und welch große Rolle nationale Bildungskulturen auch in einem Europa der offenen Grenzen und des freien Transfers von Werten und Denkweisen immer noch spielen.