Editorial
Das Motiv des „Zuviel an Geschichte pro Quadratkilometer“ ist angesichts der zahlreichen Konflikte auf dem Balkan seit 1990 immer wieder bemüht worden. Beispiele aus Serbien, Bulgarien und Albanien illustrieren im aktuellen Heft von Südosteuropa die Wirkmächtigkeit historischer Mythen in der südosteuropäischen Gegenwart. Nenad Stefanov analysiert die Reaktionen, die Holm Sundhaussens 2008 in serbischer Übersetzung erschienene „Geschichte Serbiens“ vor Ort hervorrief, Alexander Vezenkov jene, die in Bulgarien im Frühjahr 2007 die Behauptung auslöste, ein mit deutschen Forschungsmitteln finanziertes Forschungsprojekt leugne ein für die bulgarische Nationalgeschichte zentrales, von den Osmanen begangenes Massaker im Dorf Batak. Michael Schmidt-Neke dokumentiert die albanischen Reaktionen auf eine von Oliver Jens Schmitt verfasste Skanderbeg-Biographie – die abgedruckten Dokumente für den albanischen Fall wirken wie eine Illustration auch für die analytischen Zugänge der beiden anderen Beiträge. In allen drei Fällen gab es aggressive Polemiken, persönliche Beleidigungen und sogar Drohungen. Die Emotionen, die solche – eigentlich längst überfällige – Dekonstruktionen der Nationalgeschichte auszulösen imstande sind, verweisen zuförderst auf die vielfältigen Unsicherheiten, und nicht nur identitärer Art, die die Transitionsprozesse nach sich gezogen haben. Die Erfahrungen von Krieg, Krise und tiefgreifendem gesellschaftlichem Wandel bedingen die besondere Legitimationsfunktion nationaler Meisternarrative. Tatjana Petzers Analyse des neuen makedonischen Films fügt sich thematisch zu diesem kleinen Schwerpunkt: Sie sieht in den Erzählungen der makedonischen Regisseure vom Krieg, vom Überleben und von der Beschaffenheit ihrer Nation den Spiegel einer weiteren wirkmächtigen Metapher für den Balkan, der allzu häufig als Europas Unterbewusstsein, als Ort von dessen primitivsten und skandalösesten Leidenschaften wahrgenommen werde.
Eingeleitet wird diese Ausgabe von einem Überblick über die Sicherheitspolitik der NATO auf dem westlichen Balkan. Rafael Biermann analysiert ihren Erweiterungsprozess und postuliert eine Entwicklung weg vom Krisenmanagement der 1990er Jahre hin zu einem konsolidierenden Integrationsprozess, der allerdings auf vielfältige Hindernisse treffe, sowohl vor Ort als auch vor dem Hintergrund internationaler politischer Entwicklungen, nicht zuletzt im Kaukasus. Vedran Džihić sieht im gegenwärtigen, im September gewaltsam eskalierten Konflikt im Sandžak einen Demokratietest für Serbien. Dessen Umgang mit seiner bosniakischen Minderheit sei auch ein Indikator für die bestehende Diskrepanz zwischen dem Anspruch der EU-Konditionalität und der Realität vor Ort.
INHALTSVERZEICHNIS
Rafael Biermann: Die Länder des westlichen Balkan auf dem Weg in die NATO. Vom Krisenmanagement zur Integration. 146-172
Vedran Džihić, Angela Wieser: Krise(n) im Sandžak als Testfall für die Demokratie in Serbien: Alte Konflikte, neue Konstellationen. 173-197
Tatjana Petzer: Blickregime und Bildgewalt. Eine Inventur des neuen makedonischen Films. 198-219
Nenad Stefanov: Jargon der eigentlichen Geschichte: Vom Nichtverstehen und dem Fremden. Zur Diskussion um Holm Sundhaussens Geschichte Serbiens in der serbischen Öffentlichkeit. 220-249
Alexander Vezenkov: Das Projekt und der Skandal „Batak“ . 250-272
Dokumentation
Michael Schmidt-Neke: Skanderbegs Gefangene: Zur Debatte um den albanischen Nationalhelden. 273-302
Buchbesprechungen
Augusta Dimou (Hg.), „Transition“ and the Politics of History Education in Southeast Europe (Ann Low-Beer †). 303-306
Sabrina P. Ramet, Serbia, Croatia and Slovenia at Peace and at War. Selected Writings, 1983-2007 (Jure Ramšak). 306-308
Anđelko Milardović, Zapadni balkon. Fragmenti o ideologiji i politici Zapada (Tomislav Maršić. 308-310
Emir Suljagić, Srebrenica – Notizen aus der Hölle
Carla Del Ponte / Chuck Sudetic, Im Namen der Anklage. Meine Jagd nach Kriegsverbrechern und die Suche nach Gerechtigkeit (Heike Karge. 311-315