Das Grundverständnis des Menschen und seine Veränderung berührende Themen wie die Zulassung der Präimplantationsdiagnostik, die Bedingungen für Organspenden, medizinisch indizierten Schwangerschaftsabbruch, lebensverlängernde bzw. lebensbeendende Maßnahmen im Alter und im Krankheitsfall oder Doping werden in Deutschland seit längerem auch in der breiten Öffentlichkeit diskutiert. Dazu kamen in jüngster Zeit Kontroversen über den Einsatz von Psychopharmaka in der Behandlung verhaltensauffälliger Kinder, Altersbegrenzungen für den Zugang zu kosmetischer Chirurgie und die Bedeutung von „Neuro-Enhancement“. Die ethischen und juristischen Probleme der Anlage und Nutzung von Biobanken dagegen haben hier – im Unterschied zu anderen Ländern wie Island, Großbritannien und den USA – bislang nur sehr wenig öffentliche Aufmerksamkeit erfahren, obwohl sie letztlich alle Menschen betreffen. Diese Probleme werden in diesem Heft unter dem Titel Gesampelte Gesellschaft: Die Forschung mit Biobanken, menschlichen Geweben und genetischen Informationen behandelt.
Banken für menschliche Zellen, Gewebe und andere Körpersubstanzen dienen nicht allein der gezielten Erforschung bestimmter Krankheiten, sondern können durch den Zusammenschluss mit computergestützt auswertbaren Informationen über die genetische Verfassung und die konkrete Lebensweise ganzer Bevölkerungsgruppen als Plattformen für umfassende epidemiologische Studien benutzt werden, deren Ziele und Zwecke im einzelnen noch gar nicht abzusehen sind.
Unsere Autorinnen und Autoren diskutieren anhand verschiedener nationaler und internationaler Fälle – zum Teil ist man versucht zu sagen: Sündenfälle – im forschungsorientierten Umgang mit menschlichen Körpermaterialien die sich aus dem „Biobanking“ ergebenden Fragen nach dem Eigentumsstatus aufbewahrter Materialien, den Möglichkeiten und Grenzen des Schutzes der Privatsphäre derjenigen, die Gewebe oder Zellen zur Verfügung stellen, nach den Kommerzialisierungsbedingungen für die Lagerung und Nutzung menschlicher Materialien u.a.m. Das geschieht auf eine nicht-dramatisierende Weise. Die Untersuchungen aus philosophischen, juristischen und sozialwissenschaftlichen Perspektiven zielen vielmehr auf die Prüfung zentraler Konzepte wie Eigentum, Privatheit, Autonomie, „Spenden“ für Biobanken, die „Teilnahme“ an der Forschung sowie die Erteilung oder Verweigerung von „Zustimmungen“ zu dieser.
Wenn – in naher Zukunft! – das Genom jedes einzelnen Menschen kostengünstig bestimmbar sein wird, werden die aus dem Biobanking folgenden Fragen sich allen Menschen stellen, d.h. auch denen, die sich gar nicht aktiv daran beteiligen. Dann benötigen wir eine bildungspolitische Debatte darüber, wie im Umgang mit Biobanken, Bioinformatik und Gentechnik eine allgemeine Bio-Kompetenz hergestellt werden kann.
Näheres zum Thema und zur Ausrichtung der einzelnen Diskussionsbeiträge erläutert Katharina Beier von der Abteilung „Ethik und Geschichte der Medizin“ der Universität Göttingen in der Einleitung zu dem Schwerpunkt, den sie für uns zusammengestellt hat.
INHALTSVERZEICHNIS
Editorial (S. 2)
SCHWERPUNKT: GESAMPELTE GESELLSCHAFT
Katharina Beier: Die Forschung mit Biobanken, menschlichen Geweben und genetischen Informationen. Zur Einleitung (S. 3-8)
Christian Lenk: Ökonomie der Körperteile. Wie weit reicht das Verbot der Kommerzialisierung des menschlichen Körpers? (S. 9-18)
Nils Hoppe: Cui bono? Eigentum am eigenen Körper in der internationalen juristischen Diskussion (S. 19-27)
Susanne Schultz, Kathrin Braun: Spendende Verkäuferinnen. Eizellen für die Klonforschung (S. 28-40)
Imme Petersen: Forschungsteilnahme als Sozialpflicht? Zur Vergesellschaftung von Geweben und Daten in der Biobankforschung (S. 41-50)
Katharina Beier: Das Prinzip der informierten Zustimmung in der Biobankforschung (S. 51-63)
Lars Øystein Ursin: Das persönliche Genom. Abschied von Privatheit und Zustimmung in der Biobankforschung? (S. 64-76)
Georg Lauß: Vom Wert bioinformationeller Privatheit und der diskursiven Macht ungelöster „Governance-Probleme“ (S. 77-89)
Max Koch: Die Europäisierung der Beschäftigungspolitik und die Destandardisierung der Beschäftigung in Deutschland (S. 90-104)
Klaus Lederer, Matthias Naumann: Öffentlich, weil es besser ist? Politische Gemeinwohlbestimmung als Voraussetzung einer erfolgreichen Kommunalwirtschaft (S. 105-116)
Mario Neukirch: Windenergienutzung in der Pionierphase (1975-1991) (S. 117-133)
Henri Band: Ist Max Webers verstehende Soziologie naturblind? (S. 134-147)
BESPRECHUNGEN UND REZENSIONEN
Christiane Eisenberg: Englands Weg in die Marktgesellschaft. Rezensiert von Ulrich Busch (S. 148-149)
Janne Teller: Nichts. Was im Leben wichtig ist. Rezensiert von Mariele Nientied (S. 150-151)
Vladimir Gavrilovič Mosolov: IMĖL. Das Marx-Engels-Lenin-Institut, 1921-1956. Rezensiert von Wladislaw Hedeler (S. 152-157)
Matthias Oppermann: Raymond Aron und Deutschland. Rezensiert von Christina Isabel Fischer (S. 158-160)