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Gerechtigkeit ist eines der ältesten Themen der politischen Philosophie. Leitbilder gerechten Handelns sind grundlegend für Politik und Gesellschaft, und zwar unabhängig vom jeweiligen Regierungssystem, wenngleich die konkreten formalen und materialen Vorstellungen und Praxen der Gerechtigkeit höchst unterschiedlich sind. Gelten diese in der Regel auf soziale Gerechtigkeit bezogenen allgemeinen Leitbilder auch für den Komplex „historische Gerechtigkeit“? Ist das Bemühen um Aufklärung von Staatsverbrechen und um Ausgleich für vergangenes Unrecht ein ideologisches Konzept oder ein bloß temporäres Produkt des „Zeitalters der Extreme“ (Eric J. Hobsbawm)?
Die regulative Idee historischer Gerechtigkeit hat sich zu einem Zentralthema des 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts entwickelt: Weltkriege, Diktaturen, Genozide und Völkervertreibungen, Sklavenhandel und Kolonialismus haben den Blick von Wissenschaft und Politik auf die „Opfer der Geschichte“ und auf die Bearbeitung der Folgen belastender Vergangenheit gelenkt. Personelle „Säuberung“, strafrechtliche Verfolgung und zivilrechtliche Kompensation – die insbesondere aus der „zweiten Geschichte“ des Nationalsozialismus bekannte Trias der Vergangenheitsaufarbeitung – bilden dabei den Hintergrund für eine weiter gespannte und komplexe Kontroverse. So ist der Umgang mit historischem Unrecht mittlerweile ein bedeutsames Feld der Res publica. Nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes ist diese Entwicklung insbesondere befördert worden durch Historikerkommissionen über strittige Fragen nationaler Vergangenheit, Wahrheits- und Enquetekommissionen im politischen Systemwechsel, Geschichtsdebatten über „Erinnerung per Gesetz“ und um die Verantwortung einzelner Personen oder Berufsgruppen, öffentlichkeitswirksame „Entschuldigungen“ staatlicher Repräsentanten sowie Diskussionen um transnationale Strafverfolgung, gipfelnd in der Errichtung des seit 2002 arbeitenden Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag.
Die wichtigsten Signalwörter dieses Diskurses lauten Opfer und Täter, Schuld und Verantwortung, Bestrafung und „Wiedergutmachung“, Verdrängen, Erinnern, Vergessen, Wahrheit und Versöhnung. Der Verweis auf die Geschichtlichkeit der damit verbundenen Vorstellungen ausgleichender Gerechtigkeit ist dabei nicht aus den Augen zu verlieren, ebenso wenig wie der Hinweis von Thukydides, wonach ein Anspruch von Gerechtigkeit nur da akzeptiert werde, wo auch eine Macht dahinterstehe, diesen zu schützen. Historische Gerechtigkeit und (geschichts-)politische Macht markieren ein Spannungsfeld, sei es, dass Politik vergangenheitsorientierte Gerechtigkeit verhindert, sei es, dass Politik im Versuch, solcher Gerechtigkeit nachzukommen, auf die eine oder andere Weise scheitert.
Was kann historische Gerechtigkeit bedeuten? Welche Zwecke sind mit diesem Handlungskomplex verbunden und welche Akteure treten hier auf? In welchem Verhältnis stehen Vorstellungen und Realisierungschancen historischer Gerechtigkeit zu den Bedingungen politischer Systemtransformation? Sind sie eine Folge geschichtspolitischer Intervention und gedächtnisgeschichtlicher Rezeption? Mit diesen und weiteren Fragen setzt sich die erste Ausgabe des Jahrbuchs für Politik und Geschichte auseinander. Leitende Perspektive ist die Frage nach Kontinuitäten und Diskontinuitäten, Übereinstimmungen und Unterschieden von Gerechtigkeitsvorstellungen und -praxen verschiedener politischer Systeme und Akteure.
Ausgehend vom internationalen Diskurs über historisches Unrecht, stellen wir die grundlegende Frage nach der politischen Bedeutung historischer Gerechtigkeit – und damit nach der Begründung und Praxis des Umgangs mit einem belastenden kollektiven Erbe. Lukas H. Meyer (Graz), hervorgetreten mit einer grundlegenden Abhandlung zu dem Thema, leitet in das Schwerpunktthema ein. Daran anschließend, präsentiert das Jahrbuch acht vergleichend angelegte Fallstudien zu unterschiedlichen Konstellationen im Handlungsfeld historischer Gerechtigkeit. Wir befassen uns mit vier Beispielen historischer Staatskriminalität, die jeweils aus zwei Perspektiven analysiert werden. Dabei untersuchen wir zum einen Fälle, in denen Staaten mit anderen Staaten um diese Gerechtigkeit ringen, zum anderen solche Fälle, in denen Staaten und nichtsstaatliche Gruppen in dieser Frage aufeinandertreffen.
Vor allem drei Aspekte haben unsere konkrete Themenauswahl bestimmt. Zunächst geht es uns um die Analyse der geschichtspolitischen Hauptdiskurse der zentralen Diktaturerfahrungen des 20. Jahrhunderts, der nationalsozialistischen und der stalinistischen Herrschaft. Darüber hinaus wollen wir aktuelle, lange ausgeblendete und erst in jüngster Zeit breiter debattierte Streitfälle historischer Gerechtigkeit näher beleuchten, auch außerhalb Europas. Dem deutschen Umgang mit dem nationalsozialistischen Völkermord im Zweiten Weltkrieg widmen sich Kerstin von Lingen (Heidelberg) und Micha Brumlik (Frankfurt am Main). Das zweite Fallbeispiel, die Rezeption der stalinistischen Verbrechen im postsowjetischen Russland, betrachten Isabelle de Keghel (Konstanz) und Zaur Gasimov (Mainz). Frank Renken (Berlin) und Rachid Ouaissa (Marburg) untersuchen den Algerienkrieg Frankreichs. Die politisch-kulturelle Nachgeschichte des Vietnamkonflikts der USA analysieren Jacques Portes (Paris) und Martin Großheim (Passau/Tokio).
Außerhalb des Schwerpunktes setzt sich Lorenz Maroldt (Berlin) im Aktuellen Forum mit personellen Kontinuitäten in Deutschland nach 1989 auseinander. In der Rubrik Fundstück dokumentieren wir zwei Beiträge zur Debatte um „Nazi-Kollaborateure in der Dritten Welt“. Schließlich sichtet Wolfgang Bergem (Düsseldorf) im Forschungsbericht wichtige Neuerscheinungen zu den Themen Erinnerungskultur und Geschichtspolitik.
INHALT
Editorial (5-10)
Schwerpunkt: Historische Gerechtigkeit. Geschichtspolitik im Vergleich
Lukas MeyerHistorische Gerechtigkeit. Möglichkeit und Anspruch (11-28)
Micha BrumlikGerichtstag: Fritz Bauer und Hannah Arendt zu historischer Gerechtigkeit angesichts der Shoah (29-43)
Kerstin von LingenHistorische Gerechtigkeit? Deutsche Bemühungen um „Wiedergutmachung“ und Opferausgleich, 1945-2005 (45-61)
Isabelle de KeghelStrategien des Umgangs mit den stalinistischen Repressionen in Russland seit der Perestrojka: Geschichtspolitik „von unten“ (63-86)
Zaur GasimovRusslands staatlicher Umgang mit der Stalinismus-Zeit (87-110)
Rachid OuaissaUmgang mit dem Algerienkrieg: Die algerische Perspektive (111-127)
Frank RenkenDie Fünfte Republik und die Verbrechen der französischen Armee während des Algerienkriegs (129-150)
Martin GroßheimDer „gerechte Krieg“: Vietnamesische Erinnerungsdebatten (151-173)
Jacques PortesHistory, justice, and memory of Vietnam War in the U.S. (175-194)
Aktuelles Forum
Lorenz MaroldtPersonelle Kontinuitäten nach 1989. Wie Täter und Mitläufer aus der DDR in der Demokratie ankommen – und was das mit Alt-Nazis und der Waffen-SS zu tun hat (195-208)
Fundstück
Vorwort (209-210)
Karl RösselBloß nicht dämonisieren! Deutsche Wissenschaftler/innen verharmlosen arabische Kriegsverbrecher (211-223)
René WildangelAuf der Suche nach dem Skandal. Eine Reaktion auf den Themenschwerpunkt „Nazikollaborateure in der Dritten Welt“ (225-231)
Forschungsbericht
Wolfgang BergemGeschichtspolitik und Erinnerungskultur (233-253)
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren, Herausgeberin und Herausgeber (255-256)