Editorial
Der Schwerpunkt dieser Ausgabe von Südosteuropa basiert auf der von Gastherausgeberin Irena Ristić und Ulf Brunnbauer im Februar 2011 am Südost-Institut in Regensburg organisierten Tagung „Annäherung als Paradigmenwechsel: Schließt sich der Kreis im ehemaligen Jugoslawien?“. Unter eben diesem Titel leitet Ristić die Beiträge des Schwerpunktes ein. Zwanzig Jahre nach dem Staatszerfall und zehn Jahre nach dem Ende des letzten militärischen Konfliktes verweisen vielerlei gesellschaftliche Prozesse auf eine neuerliche Errichtung des jugoslawischen Raums. Wohl zum ersten Mal seit dem Ende des 19. Jahrhunderts, so Ristić, entsteht eine jugoslawische Vernetzung aus der Bevölkerung heraus und ist nicht von oben gesteuert. Die Grundlage ist ein common sense, ein Bewusstsein dafür, dass Kultur, Sprache, Erinnerung und nicht zuletzt die Erwartungen bezüglich wirtschaftlicher Vorteile allen jugoslawischen Nachfolgegesellschaften gemeinsam sind.
Svetlana Slapšak schlägt, entlang ihrer Kritik an bisherigen Forschungsansätzen zur Yugonostalgie, drei Konzepte zur Erneuerung der Forschungsdiskussion vor: twin cultures (Partnerkulturen), cultural intimacy (kulturelle Vertrautheit) sowie ground truthing, ein Begriff aus dem Bereich der Fernerkundung (wie Kartographie, Meteorologie, aber auch Archäologie), mit dem die Erhebung bzw. Überprüfung von Daten vor Ort gemeint ist. Rubiks Zauberwürfel dient ihr als Metapher für die Art und Weise, in der ethnische Politik in den letzten zwei Jahrzehnten geplant und umgesetzt worden ist. Tanja Petrović fokussiert auf die soziokulturelle Praxis selbstorganisierter Chöre, deren Repertoire positive Bezüge zur sozialistischen jugoslawischen Vergangenheit programmatisch bekräftigt. Die Chöre bieten ein Beispiel für einen eigenständigen, emanzipatorischen Umgang mit der jugoslawischen Vergangenheit, der, so Petrović, eine Vorbedingung für die Aushandlung nachhaltiger Zukunftsperspektiven ist. Sergej Flere und Andrej Kirbiš zeigen anhand einer an den Universitäten Banja Luka, Maribor, Niš, Podgorica, Prishtina, Sarajevo, Skopje und Split durchgeführten Erhebung, dass Studierende in Montenegro, Makedonien und Bosnien ein eher positives Bild von Jugoslawien haben, während ein solches in Kosovo, Kroatien und Serbien selten zu finden ist – das Negativbild junger Serbinnen und Serben ist dabei ein historisches Novum.
Manuela Brenners Analyse der – bislang vergeblichen – Bemühungen um die Errichtung einer Gedenkstätte für das Internierungslager Omarska in Bosnien und Herzegowina, das von Mai bis August 1992 bestand, gehört nicht zum Schwerpunkt, konterkariert und ergänzt diesen aber in eindringlicher Weise. Anhand des Ortes, an dem im Bosnienkrieg etwa 800 Menschen einen gewaltsamen Tod fanden, zeigt Brenner eine Variante der Erinnerungskonflikte, die im jugoslawischen Raum heute bestehen. Es wird deutlich, dass internationale Akteure für das Scheitern der bisherigen Bemühungen mitverantwortlich zeichnen und dass man zu kurz greift, wollte man das Verhältnis zwischen Erinnerungspolitik und -kultur(en) in Bosnien und Herzegowina allein als ein ethnisch befrachtetes verstehen.
Sabine Rutar – Redaktion –
INHALTSVERZEICHNIS
SCHWERPUNKT: DEFRAGMENTING YUGOSLAVIA
Irena Ristić: Rapprochement as a Paradigm Shift: Does the Wheel Come Full Circle in Former Yugoslavia? 286-300
Svetlana Slapšak: Twin Cultures and Rubik‘s Cube Politics: The Dynamics of Cultural Production in Pro-YU, Post-YU, and Other YU Inventions 301-314
Tanja Petrović: The Political Dimension of Post-Socialist Memory Practices: Self-Organized Choirs in the Former Yugoslavia 315-329
Sergej Flere / Andrej Kirbiš: The Image of Yugoslavia among Post-Yugoslav Youth in 2009 330-348
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Manuela Brenner: The Struggle of Memory. Practices of the (Non-)Construction of a Memorial at Omarska 349-372
BUCHBESPRECHUNGEN(online auf www.recensio.net)
Henry H. Perritt, Jr., The Road to Independence for Kosovo. A Chronicle of the Ahtisaari Plan (Vedran Džihić) 373-375
Ann Kennard, Old Cultures, New Institutions. Around the New Eastern Border of the European Union (Bénédicte Michalon) 375-377
Gergana Bulanova-Hristova, Von Sofia nach Brüssel. Korrupte Demokratisierung im Kontext der europäischen Integration (Heiko Pleines) 377-379
Ljiljana Radonić, Krieg um die Erinnerung. Kroatische Vergangenheitspolitik zwischen Revisionismus und europäischen Standards Tanja von Fransecky u. a. (Hgg.), Kärnten, Slowenien, Triest. Umkämpfte Erinnerungen (Sabine Rutar) 379-382
Berit Bliesemann de Guevara / Florian P. Kühn, Illusion Statebuilding. Warum sich der westliche Staat so schwer exportieren lässt (Bruno Schoch) 382-384
Merle Vetterlein, Konfliktregulierung durch Power-Sharing-Modelle: das Fallbeispiel der Republik Makedonien (Heinz Willemsen) 384-387
Dareg A. Zabarah, Nation- and Statehood in Moldova. Ideological and Political Dynamics since the 1980s (Wim van Meurs) 387-389
Kilian Graf, Der Transnistrien-Konflikt. Produkt spätsowjetischer Verteilungskämpfe und Zerfallskonflikt der implodierenden Sowjetunion (Dareg A. Zabarah) 389-391