Aus dem Editorial des Heftes 3/2011, herausgegeben von Jakob Tanner und Michael Wildt:
Charlie Chaplins Stummfilm „Modern Times“ aus dem Jahre 1936 beginnt mit dem Schriftzug „A story of industry, of individual enterprise – humanity crusading in the pursuit of happiness“. Eine riesige Uhr zeigt an, dass dieser Kreuzzug für das Glück ein rigides Zeitregime voraussetzt und zugleich in ein solches hineinführt. Das „individuelle Unternehmen“ ist semantisch gebrochen – es stellt einen Witz auf die Verhältnisse dar, und gleichzeitig inszeniert Chaplin die unternehmerische Störung des gesellschaftlichen Riesenbetriebs als Slapstick […]. Mit Michel Foucaults interpretativer Analytik von Selbsttechnologien und Subjektivierungsweisen erhält die Vorstellung von Menschen als „Unternehmer ihrer selbst“ am Ende des langen Wirtschaftsaufschwungs der Nachkriegszeit eine tiefe theoretische Ernsthaftigkeit. Foucault macht einsichtig, wie sich gesellschaftliche Zwänge mit persönlicher Freiheit verschränken. Gleichzeitig verweist er darauf, dass es einen Überschuss an Selbstrealisation gibt oder geben kann, der sich sozialen Prägeformen entzieht, der nicht in fabrizierten Modellen der Lebensführung aufgeht, und der sich als „Widerstand“ oder „Nichtregierbarkeit“ von Individuen äußert.
Gegen Versuche eine Ästhetisierung und damit auch Exotisierung der „Technologien des Selbst“ haben sich auch in den Debatten um die Historische Anthropologie Ansätze behauptet, welche die Konzept der „Persönlichkeit“ und der „Individualität“ auf ihre Wissensvoraussetzungen und Machtwirkungen hin untersuchen. Dieser Zugang fügt sich nicht mehr in die Gegenüberstellung von „Norm“ und „Abweichung“ ein; in selbstunternehmerischen Normalisierungsprozessen sind vielmehr überraschende Veränderungsmomente angelegt, die das große Narrativ der Normalisierung durchbrechen, ohne sich in eine Gegenerzählung widerständigen Eigensinns einzufügen. Wenn solche Sinnzuschreibungen nicht mehr funktionieren, sind neue Analysen, ist ein neuer Blick auf bekannte und bisher übersehene soziale Phänomene gefragt. Das vorliegende Heft […] legt solche Analysen vor.
INHATSVERZEICHNIS
Jan Peters (1932–2011). Zur Erinnerung
Aufsätze
Andreas Kaminski Prüfungen um 1900. Zur Genese einer Subjektivierungsform (331–353)
Daniela Saxer Persönlichkeiten auf dem Prüfstand. Die Produktion von Arbeitssubjekten in der frühen Berufsberatung (354–371)
Thomas Etzemüller „Freizeit soll harmonische Menschen schaffen“. „Ambivalente Moderne“ und social engineering in der Demokratie – die Ausstellung „Fritiden“ in Ystad 1936 (372–390)
Marietta Meier Stufen des Selbst. Persönlichkeitskonzepte in der Psychiatrie des 20. Jahrhunderts (391–410)
Dagmar Reese Audienz beim Führer. BDM-Reichsreferentin Jutta Rüdiger, das BDM-Werk „Glaube und Schönheit“ und die Einführung der neuen Führerinnendienstkleidung 1938 (411–432)
Debatte
Brigitta Bernet und David Gugerli Sputniks Resonanzen. Der Aufstieg der Humankapitaltheorie im Kalten Krieg – eine Argumentationsskizze (433–446)
Forum
Sandra Starke Fenster und Spiegel. Private Fotografie zwischen Norm und Individualität (447–474)
Lektüren
Daniel Lord Smail On Deep History and the Brain Marianne Sommer (Luzern) (475–477)
Alexander Nagel und Christopher Wood Anachronic Renaissance Valentin Groebner (Luzern) (477–478)
Jan Palmowski Inventing a Socialist Nation. Heimat and the Politics of Everyday Life in the GDR, 1945–1990 Andreas Ludwig (Berlin/Eisenhüttenstadt) (478–480)
Susann Baller Spielfelder der Stadt. Fußball und Jugendpolitik im Senegal seit 1950 Daniel Künzler (Fribourg) (480–482)
Abstracts (483–485)