Der Person Erich Honeckers (1912–1994) heute noch innovative Aspekte abringen zu wollen, ist ein seltsames Unterfangen. Wie eine Randfigur wirkt sie, im Schatten anderer deutscher Staatsmänner. Heiner Müller erinnerte Erich Honecker als den Typus eines „Feuerwehrmannes“, der auf Feuerwehrfesten am besten die Feuerwehr repräsentiere. Das Narrativ, Honecker sei eine letztlich harmlose, naive und allseits belächelte Marionette gewesen, ist vertraut. Für die politische Ikonographie taugt er seit jeher kaum, weder Dämonisierungen noch Glorifizierungen bieten Zugriffe. Die heutige Beiläufigkeit der historischen Figur Honecker macht sie für manchen umso interessanter, für viele bleibt sie suspekt – allein die Entstehungsgeschichte des vorliegenden Schwerpunktes wäre eine eigene Darstellung wert, zumal parallel dazu Honeckers Letzte Aufzeichnungen nebst vergangenheitsdogmatischen Einlassungen seiner Witwe öffentlich gemacht wurden.
Die im Themenschwerpunkt „Honeckers Welt“ versammelten Beiträge möchten zeigen, dass die Geschichte Erich Honeckers noch nicht auserzählt ist. Ihre frühere Inszenierung repräsentiert nicht nur ostdeutsche Vergangenheiten (siehe das Interview mit Peter Ruben in diesem Heft). Die Geschichte erzählt auch von „Kindheitsmustern“ im Sinne Christa Wolfs, verweist auf die Prägekraft totalitärer Systeme, ihrer Konsens- und Fürsorgezumutungen (Sebastian Huhnholz), berichtet über Glättungen von Biographien (Martin Sabrow) und über Unverständnisse zwischen Generationen (Gespräch zwischen Eugen Ruge und Rainer Land). Und selbst die Erinnerung, dass unter Honecker ein nächster deutscher Angriff auf den polnischen Nachbarstaat erwogen wurde (Dariusz Wojtaszyn), lässt die Frage zu, ob es nicht an der Zeit für ein offeneres Gespräch ostdeutscher Generationen wäre, wo bislang historisierende Nachbetrachtungen oder verharmlosende „Klarstellungen“ dominieren. Die vorliegenden Beiträge sollen dazu anregen, die Figur Honecker systematischer in eine Zeitgeschichtsschreibung des 20. Jahrhunderts einzubinden. Sie mögen insofern auch als ein weiterer kleiner Baustein für das Verständnis deutscher Transformationserfahrungen gelesen werden.
Der literarischen Verarbeitung von Transformationserfahrungen im postsozialistischen Osteuropa widmet sich der Nebenschwerpunkt dieses Heftes. Seine leitende Frage lautet, wohin die zeitgenössischen Literaturen Polens, Russlands und der Ukraine gehen und welche Rolle in ihnen die Idee des Nationalen jeweils spielt. Für die Ukraine zeigt Alfred Sproede, dass die politische Unabhängigkeit von einem literarischen „nation building“ flankiert wird, in dem Fragen der sprachlichen Identität ebenso verhandelt werden wie die Abgrenzung von der Sowjetunion und Russland. Auf die literarischen Suchbewegungen im postsowjetischen Russland geht Maria Smyshliaeva ein, indem sie drei verschiedene Konzeptionen nationaler Identität miteinander vergleicht. Bożena Chołuj zeichnet nach, wie die Idee der Nation in der polnischen Literatur nach 1989 sukzessive dekonstruiert und um Darstellungsformen ergänzt wird, die der Pluralität von Lebensentwürfen und Lebensformen in einer ausdifferenzierten Gesellschaft Raum geben. Abgerundet wird der Nebenschwerpunkt durch Ulrich Schmids vergleichende Analyse der Gegenwartsliteraturen der drei Länder. Spätestens an der Stelle, wo Schmid die Hoffnungen auf den großen Wenderoman anspricht, die man auch in Polen, Russland und der Ukraine hegt, schließt sich der Kreis zum Schwerpunkt dieses Heftes, der eine der nicht auserzählten Geschichten des wiedervereinigten Deutschlands aufgreift.
INHALTSVERZEICHNIS
Sebastian Huhnholz: „… eingeklemmt zwischen zwei größeren Häusern“. Versuch eines psychopolitischen Porträts anlässlich des 100. Geburtstags Erich Honeckers
Martin Sabrow: Honeckers Wir-Biographie und ihr Ich-Erzähler
Dariusz Wojtaszyn: Erich Honecker und die Solidarność
Erich Honecker und die Perestroika. Ein Interview mit Peter Ruben
„Es konnte nur eine traurige Geschichte werden.“ Eugen Ruge und Rainer Land im Gespräch
Nebenschwerpunkt: Die Idee des Nationalen in postsozialistischen Literaturen
Christa Ebert: Wohin gehst Du, postsozialistische Literatur? Die nationale Idee auf dem Prüfstand
Alfred Sproede: Ukrainische Gegenwartsliteratur und nachholende Nationsbildung
Bożena Chołuj: Literarische Dekonstruktion der Nation in Polen nach 1989
Maria Smyshliaeva: Literatur auf Identitätssuche. Konzepte nationaler Identität nach der Perestroika
Ulrich Schmid: Zwischen Imperium und Postkolonialismus. Arbeit an der Nation in der russischen, polnischen und ukrainischen Gegenwartsliteratur
Weitere Beiträge
Ulrich Busch: Geldkapital, Finanzkapital und Finanzindustrie. Zur Phänomenologie desentwickelten Kapitalismus
Michael Jäckel: Luxus und Verschwendung – ein Klassifizierungsvorschlag
Ruben Hackler: Ideologiekritik und/oder Diskursanalyse? Kritische Anmerkungen zum zeitgenössischen Theorie- und Methodenverständnis
Veith Selk: Die Politisierung der Angst in der Moderne
Besprechungen und Rezensionen
Janet Ward: Post-Wall Berlin. Borders, Space and Identity (Rezensiert von Olaf Briese)
Hans-Jürgen Wagener: Wirtschaftsordnung im Wandel (Rezensiert von Ulrich Busch)
Christian Brütt: Workfare als Mindestsicherung. Von der Sozialhilfe zu Hartz IV. Deutsche Sozialpolitik 1962 bis 2005 (Rezensiert von Christian Schröder und Leiv Eirik Voigtländer)
Katja Kailer: Science Fiction. Gen- und Reproduktionstechnologie in populären Spielfilmen (Rezensiert von Sabine Wöhlke)