Rechtsgeschichte – Legal History, so heißt unsere Zeitschrift jetzt. Der Zusatz ist nicht dem Zeitgeist geschuldet. Er drückt aus, was der Titel der Vorgängerzeitschrift, Ius Commune, vielleicht noch besser erkennen ließ: dass Rechtsgeschichte nicht auf eine Region oder einen Sprachraum begrenzt werden kann. Im Gegenteil, kann man in ihr doch geradezu ein großes diachrones Translationsgeschehen sehen, einen kontinuierlichen Aneignungsprozess, der kaum geographische, kulturelle und linguistische Grenzen kennt. Dieser Vielsprachigkeit des historischen Rechts muss eine Vielsprachigkeit der rechtshistorischen Forschung entsprechen. Wir werden deswegen auch in Zukunft – noch ein bisschen mehr als bisher – ganz bewusst nicht einer oder zwei, sondern vielen Sprachen Raum geben.
Auch in anderer Hinsicht hat sich die Rechtsgeschichte verändert: Der Satzspiegel ist anders, wir haben mehr Platz für Fußnoten, eine neue Binnengliederung, die Zeitschrift erscheint nun im Jahresrhythmus, gedruckt und im open-accesss. Die Rechtsgeschichte – Legal History trotz sofortiger uneingeschränkter elektronischer Verfügbarkeit auch weiterhin in gedruckter Form anbieten zu können, war uns besonders wichtig. Gleichzeitig wird man uns jetzt aber auch dort ohne Zeitverzögerung lesen können, wo unsere Hefte bisher nicht standen, nicht zuletzt bei unseren Gesprächspartnern außerhalb Europas. Beide Publikationsformen werden sich allerdings nur dann parallel fortführen lassen, wenn unsere Leserinnen und Leser auch weiterhin – und vielleicht sogar nun erst recht – die gedruckte Version bestellen. Ob es in der Welt der wissenschaftlichen Publikationen auch weiterhin eine Kultur des gedruckten Buchs gibt, hängt von jedem von uns ab!
Nur in den gedruckten Bänden werden sich auch weiterhin Bildstrecken finden. In diesem Jahr sollen zehn Abbildungen die Standortgebundenheit unserer Weltbilder sowie manche, uns inzwischen fremd gewordene Kosmologien anschaulich machen. Am Anfang steht die noch aus vorchristlicher Tradition stammende, später vielfach reproduzierte dreigeteilte Darstellung der Welt in einer Isidor von Sevilla zugeschriebenen Überlieferung, es folgen Weltsichten von verschiedenen Beobachtungsposten, heilsgeschichtliche Kosmovisionen aus Amerika und Europa, stolze Dokumente der Vermessung der Welt aus der Zeit des blühenden Kolonialismus; die Bildstrecke endet mit einem Beispiel politischer Kartographie der Gegenwart. All diese Abbildungen lassen uns erkennen, dass die Welt nicht ein Zentrum hat – sondern viele. Es dürfte eine besonders wichtige Aufgabe historischer Forschung sein, über diese Standpunktgebundenheit unserer Weltbilder zu reflektieren. Der einleitende Beitrag, in dem es um die „Europäische Rechtsgeschichte“ und globale Perspektiven auf die Rechtsgeschichte Europas geht, widmet sich nicht zuletzt dieser Frage. Er enthält auch eine etwas ausführlichere Analyse des Konzepts der Europäischen Rechtsgeschichte von Helmut Coing, dem ersten Direktor des Instituts und Gründer der Zeitschrift Ius Commune, der in diesem Jahr seinen 100. Geburtstag gefeiert hätte – und möchte als Aufforderung zu einer Debatte gelesen werden, wie wir heute eine zeitgemäße Rechtsgeschichte Europas als Globalregion schreiben können.
Die Beiträge des Recherche-Teils zeigen auf vielfältige Weise die Verbundenheit der Rechtsgeschichten in und jenseits Europas. Michael Stolleis legt mit seiner Bilanz des im Rahmen des Exzellenzclusters „Herausbildung Normativer Ordnungen“ durchgeführten Forschungsvorhabens zur Rechtsgeschichte Südosteuropas gleich eine kleine Verfassungsgeschichte dieser Region vor. George Rodrigo Bandeira Galindo entwickelt seine Überlegungen zum Verhältnis von Theorie und Geschichte am Beispiel der Historiographie des Völkerrechts, die gerade durch die von postkolonialen Studien betriebene Kritik in Bewegung geraten ist. Jakob Fortunat Stagl führt uns tief in die Rechtsgeschichte des britischen Empire als Kolonialmacht. Die Beiträge von Michael Sievernich und Daniel Cesano weisen an sehr unterschiedlichen Gegenständen – der frühneuzeitlichen Mission und ihrer Texte sowie der Übersetzung deutscher juristischer Literatur und deren Einfluss auf die Strafrechtsdogmatik am Beginn des 20. Jahrhunderts – auf die Bedeutung der Übersetzungsprozesse für die Rechtsgeschichte hin; ihre Beiträge lassen sich, wie auch die Arbeiten im Fokus, als Beleg dafür lesen, dass eine klare Unterscheidung zwischen „europäischer“ und „lateinamerikanischer“ Rechtsgeschichte kaum möglich ist und dass es stattdessen um eine andere, nicht geographisch rückgebundene Perspektivenbildung gehen muss. Ähnliches lässt sich für den Beitrag von Rafael Mrowczynski sagen, der mit der Self-Regulation of Legal Professions in State-Socialism eine vergleichende Perspektive auf nicht regional zuzuordnende Organisationsformen und Praktiken der Governance entwickelt. Wenn Christoph H. F. Meyer sich schließlich mit den Probati auctores beschäftigt, so finden wir dort nicht nur eine wissenschaftshistorisch bemerkenswerte frühneuzeitliche Praktik beschrieben, sondern mit der behandelten Antwort des Juristenpapstes Benedikt XIV. an den Erzbischof von Santo Domingo von 1774 zugleich ein weiteres, viele Bezugspunkte mit dem Text von Michael Sievernich aufweisendes Beispiel für die Versuche der Weltkirche, auch in ihrem universal gedachten Recht Universalität und lokale Aneignungsprozesse in Balance zu halten.
Im diesjährigen Fokus, dem Themenschwerpunkt zu „Modellen sozialen Privatrechts in Lateinamerika und Europa in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts“, publizieren wir einige Beiträge aus einem Forschungsvorhaben, das sich mit den Austauschbeziehungen in der Privatrechtsgeschichte zwischen Lateinamerika und Europa beschäftigt.
Im Forum schließlich, das sich fortan mit wirklichen Debatten abwechseln soll, haben wir die Frage aufgeworfen, welche Erkenntnisperspektiven sich aus den in den letzten Jahren sukzessive auch für die Zeit der europäischen Expansion geöffneten Vatikanischen Archiven für eine besonders an Normativität interessierte globalhistorische Forschung ergeben könnten. Das Echo auf die von Benedetta Albani konzipierte Einladung war sehr groß, wir konnten einen wesentlichen Teil der angebotenen Beiträge berücksichtigen, die ein breites thematisches und chronologisches Spektrum abbilden. In der Kritik schließlich bemühen wir uns, wie schon in der Vergangenheit, meinungsstarke Rezensionen zur rechtshistorischen Produktion der jüngeren Zeit zu versammeln.
Inhalt
Editorial
Recherche
Thomas Duve18 Von der Europäischen Rechtsgeschichte zu einer Rechtsgeschichte Europas in globalhistorischer Perspektive
Michael Stolleis72 Transfer normativer Ordnungen – Baumaterial für junge Nationalstaaten. Forschungsbericht über ein Südosteuropa-Projekt
George Rodrigo Bandeira Galindo86 Force Field: On History and Theory of International Law
Jakob Fortunat Stagl104 The Rule of Law against the Rule of Greed: Edmund Burke against the East India Company
Michael Sievernich125 Recht und Mission in der frühen Neuzeit. Normative Texte im kirchlichen Leben der Neuen Welt
Christoph H. F. Meyer138 Probati auctores. Ursprünge und Funktionen einer wenig beachteten Quelle kanonistischer Tradition und Argumentation
José Daniel Cesano156 Redes intelectuales y recepción en la cultura jurídico penal de Córdoba (1900 – 1950)
Rafael Mrowczynski170 Self-Regulation of Legal Professions in State-Socialism. Poland and Russia Compared
FokusModelos de derecho privado social en Europa y América Latina en la primera mitad del siglo XX
Alessandro Somma190 Tradizione giuridica occidentale e modernizzazione latinoamericana. Petrolio, democrazia e capitalismo nell’esperienza venezuelana
Luis M. Lloredo Alix209 Rafael Altamira y Adolfo Posada: Dos aportaciones a la socialización del derecho y su proyección en Latinoamérica
Enrique Brahm García234 Algunos aspectos del proceso de socialización del derecho de propiedad en Chile durante el gobierno del general Carlos Ibañez del Campo (1927–1931)
Thorsten Keiser258 Social conceptions of Property and Labour – Private Law in the aftermath of the Mexican Revolution and European Legal Science
Mario G. Losano274 Un modello italiano per l’economia nel Brasile di Getúlio Vargas: la «Carta del Lavoro» del 1927
María Rosario Polotto309 Argumentación jurídica y trasfondo ideológico. Análisis del debate legislativo sobre prórroga de alquileres en argentina a principios del siglo xx
ForumThe Apostolic See and the World. Challenges and risks facing global history
Benedetta Albani330 Invitation to debate
Carlo Fantappiè332 La Santa Sede e il Mondo in prospettiva storico-giuridica
Giampiero Brunelli339 La Sede apostolica di fronte alla globalizzazione: il contributo possibile della storia delle istituzioni
Irene Bueno344 Avignon and the World. Cross-cultural Interactions between the Apostolic See and Armenia
David d’Avray347 Slavery, Marriage and the Holy See: from the Ancient World to the New World
Anna Echterhoff352 Die Friedenstätigkeit des Heiligen Stuhls im Rahmen seiner Diplomatie
Claudio Ferlan356 Oggetti in viaggio. Le missioni gesuitiche nelle Indie d’occidente (sec. XVI)
Rafael Gaune358 La Santa Sede y la Guerra defensiva: una historia por reconstruir. Redes de información e historia global en los confines del Imperio español (1612–1626)
Rubén González Cuerva361 The Papacy as a global Power in European Court Society
François Jankowiak, Laura Pettinaroli363 Cardinaux et cardinalat, une élite à l’épreuve de la modernité (1775–1978). Réflexions autour d’un projet collectif
Giuseppe Marcocci366 Is There Room for the Papacy in Global History? On the Vatican Archives and Universalism
Luis Martínez Ferrer369 La Sede apostólica y el Mundo. Un modelo de trabajo en equipo: la aprobación de los Concilios provinciales por parte de la Sagrada Congregación del Concilio
Antoine Mazurek371 La régularisation de la liturgie après Trente: entre local et universel
Federica Meloni373 Congregazione del Concilio, ecumenismo e conciliarismo. Proposte per un «global turn» storiografico
Antonio Menniti Ippolito375 Italianità e universalità della Chiesa romana:una breve riflessione
Osvaldo Rodolfo Moutin377 La salus animarum como un posible acercamiento a la historia global
Radu Nedici379 Debating the normative order between the center and the periphery: an East-Central European perspective
Giovanni Pizzorusso382 La Sede apostolica tra chiesa tridentina e chiesa missionaria: circolazione delle conoscenze e giurisdizione pontificia in una prospettiva globale durante l’età moderna
Roberto Regoli386 Papato: soggetto mondiale in prospettiva globale?
Wolfgang Reinhard388 Das Papsttum zwischen Medienpräsenz, Staatlichkeit und Pluralitätsdruck
Hugo Ribeiro da Silva390 A Sé Apostólica, Portugal e o Mundo Atlântico
Thies Schulze393 Der Vatikan und die Herausforderung transnationaler Geschichtsschreibung. Forschungsfragen und -perspektiven für das frühe 20. Jahrhundert
Olivier Sibre396 L’étude systémique de la diplomatie pontificale comme clé du rapprochement entre l’historiographie générale et celle du Saint-Siège
Hélène Vu Thanh398 La mission jésuite du Japon: entre recherche de l’autonomie et maintien du lien à l’Eglise et à Rome (XVIe – XVIIe siècles)
Benjamin Weber400 Les horizons nouveaux du pouvoir pontifical, mi XIIIe – fin XVe siècle
Kritik
Manlio Bellomo406 Much Ado About Nothing Uwe Wesel, Geschichte des Rechts in Europa
Mario G. Losano408 La circolazione mondiale delle norme giuridiche Jean-Louis Halpérin, Profils des mondialisations du droit
Peter Collin409 Selbstverwaltung auf der Suche nach Verwandten und Äquivalenten Selbstverwaltung in der Geschichte Europas in Mittelalter und Neuzeit, hg. von Helmut Neuhaus
Hartmut Leppin413 Attische Rechtsgeschichte und juristisches Denken Christoph-Maximilian Zeitler, Zwischen Formalismus und Freiheit
Ludolf Kuchenbuch414 Mediävistik oder Mediävismus? Eine falsche Alternative! Valentin Groebner, Das Mittelalter hört nicht auf
Thomas Gergen418 Juristische Translation im mallorquinischen „Buch der Könige“ Llibre dels Reis. Llibre de franqueses i privilegis del regne de Mallorca, dir. Ricard Urgell Hernández
Ludolf Pelizaeus420 Beeindruckende (Zwischen-)Bilanz Das Reichskammergericht im Spiegel seiner Prozessakten, hg. von Friedrich Battenberg und Bernd Schildt
Isabella Löhr422 Die Ökonomie des Urheberrechts Eckhard Höffner, Geschichte und Wesen des Urheberrechts
Jan Schröder425 Rechtsphilosophie? A History of the Philosophy of Law in the Civil Law World, 1600 – 1900, ed. by Damiano Canale, Paolo Grossi and Hasso Hofmann
Petr Kreuz428 Straf- und Sozialdisziplinierung aus böhmischer Sicht Pavel Matlas, Shovívavá vrchnost a neukáznění poddaní?
Diemut Majer431 Unbehaglich Hat Strafrecht ein Geschlecht?, hg. von Gaby Temme und Christine Künzel
Rebecca Saskia Knapp433 Wie bestraft man die freie Tochter der Natur? Michael Johannes Pils, Die rechtsgeschichtliche Entwicklung der Brandstiftung
Oliver Lepsius435 Von Wahlrecht bis Watergate Lucas A. Powe, Jr., The Supreme Court and the American Elite, 1789–2008
Peter Collin437 Historische Partizipationsstaatlichkeit Rüdiger von Krosigk, Bürger in die Verwaltung
Roy Garré439 Ottocento svizzero tra giurisdizione federale e cantonale Goran Seferovic, Das Schweizerische Bundesgericht 1848–1874
Michael Stolleis442 Selbstvergewisserung Andreas Kley, Geschichte des öffentlichen Rechts der Schweiz
Thorsten Keiser446 Der Volljurist als Fixstern im Rechtsuniversum Marco Sabbioneti, Democrazia Sociale e Diritto Privato. La Terza Repubblica di Raymond Saleilles (1855–1912)
Zülâl Muslu448 L’asymétrie de la rencontre de deux mondes Johannes Berchtold, Recht und Gerechtigkeit in der Konsulargerichtsbarkeit: Britische Exterritorialität im Osmanischen Reich 1825–1914
Andreas Roth450 Fauler Kompromiss oder mutiges Reformwerk? Friederike Goltsche, Der Entwurf eines Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuches von 1922
Walter Pauly451 Sprache, die für uns dichtet und denkt Florian Meinel, Der Jurist in der industriellen Gesellschaft. Ernst Forsthoff und seine Zeit
Josephine Asche454 Historisch brüchig, moralisch politisch Moralpolitik. Geschichte der Menschenrechte im 20. Jahrhundert, hg. von Stefan-Ludwig Hoffmann
Stefan Kroll456 Strategisch oder ethisch? Michael Barnett, Empire of HumanityD. J. B. Trim, Brendan Simms, Humanitarian Intervention
Julian Krüper459 Blick zurück nach vorn Jeannine Drohla, Aufarbeitung versus Allgemeines Persönlichkeitsrecht
Ulrich Jan Schröder461 Von rechtlicher Vergegenwärtigung kommunistischer Vergangenheit Bewusstes Erinnern und bewusstes Vergessen, hg. von Angelika Nussberger und Caroline von Gall
Ralf Kölbel464 Kriminologie als Profiteurin? Gerd Schwerhoff, Historische Kriminalitätsforschung
Matthias Schwaibold466 Die Gestaltung der Gestaltungsrechte Christian Hattenhauer, Einseitige private Rechtsgestaltung
Abstracts 470
Autoren 476
Abbildungen 478