Historische Sozialkunde 44 (2014), 1

Titel der Ausgabe 
Historische Sozialkunde 44 (2014), 1
Weiterer Titel 
Hunger im historischen Kontext

Erschienen
Erscheint 
vierteljährlich
Anzahl Seiten
48 Seiten
Preis
Einzelheft: € 5,00; Jahresabo (4 Hefte): € 16,00 (zuzügl. Versand); € 12,00 (für Studierende, zuzügl. Versand)

 

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Institution
Historische Sozialkunde: Geschichte, Fachdidaktik, politische Bildung
Land
Austria
c/o
Die Zeitschrift wurde Ende des Jahres 2018 eingestellt. Der "Verein für Geschichte und Sozialkunde" ist seit Juni 2019 aufgelöst. Ein Kontakt zu den ehemaligen Herausgebern ist nicht mehr möglich.
Von
Fuchs, Eduard

Editorial

Dieses Themenheft der Historischen Sozialkunde entstand im Rahmen eines Projektkurses „Geschichte des Hungers vom Mittelalter bis zum 20. Jahrhundert. Ursachen und Entwicklung von Hungerkrisen in langfristiger Perspektive“ an der Universität Wien im Wintersemester 2013/14. Die hier publizierten Aufsätze gingen aus den Arbeiten der teilnehmenden Studierenden hervor.

„Hunger“ ist in unserer Welt des Überflusses allgegenwärtig. Das Thema schafft es häufig in die Schlagzeilen – sei es im Zusammenhang mit Katastrophen wie Dürren, Bürgerkriegen oder Erntekrisen außerhalb Europas, mit den Milleniumszielen der Vereinten Nationen oder auch mit der Situation von sozial Schwachen in Europa, für die Hunger, zumindest aber unzureichende Ernährung angesichts der Lebensmittelpreisspitzen der letzten Jahre zur zunehmenden Bedrohung wird.

In der historischen Forschung hat insbesondere der Einfluss von Arbeiten der Entwicklungsökonomie und -soziologie in den letzten Jahrzehnten zu einem Paradigmenwechsel geführt. Ohne Naturkatastrophen, politische Konflikte oder Ernteausfälle als Anlässe von Hungerkrisen in der Vergangenheit in Abrede zu stellen, wird Hunger in historischen Gesellschaften zunehmend als ‚entitlement failure‘ gesehen: demnach wurden insbesondere die ärmsten Teile der Bevölkerung aufgrund von Preissteigerungen oder der Hortung von Lebensmitteln vom Zugang zur ausreichenden Versorgung mit Nahrungsmitteln abgeschnitten, obwohl diese im Prinzip verfügbar gewesen wären. Personen leiden Hunger, weil ihre materielle Lage den ausreichenden Ausgleich der Preisspitzen von Lebensmitteln unmöglich macht. Die Versorgung wird nicht mehr ausschließlich oder vordringlich als Produktions-, sondern als Verteilungs-, Zugangs- und Kreditproblem betrachtet.

In der gegenwärtigen historischen Forschung verlagert sich folglich der Blick darauf, wie Personen in der Vergangenheit mit der Bedrohung durch Hunger umgingen und welche Bewältigungsmöglichkeiten und -strategien ihnen zur Verfügung standen. Der Zwangsmechanismus, den ältere Darstellungen mit periodisch auftretenden ‚malthusianischen‘ Hungerkrisen postulierten, birgt keine Erklärungskraft mehr. Im Gegenteil zeigen sich die Landwirtschaft und die Gesellschaft im vormodernen Europa flexibler und leistungsfähiger als bislang angenommen.

Die Beiträge dieses Heftes stellen einerseits die theoretischen Zugänge zur Erklärung des Auftretens von Hunger vor, andererseits untersuchen sie beispielhaft Hungerkrisen in der Vergangenheit und die aktuelle Diskussion v. a. auf der Grundlage der beschriebenen neueren Ansätze. Entsprechend der Ausrichtung der Historischen Sozialkunde reicht der strukturgeschichtliche Blick vom spätmittelalterlichen England über die ukrainische und chinesische Hungersnot im 20. Jahrhundert bis zur unmittelbaren Gegenwart.

Der Beitrag „Hunger im Lauf der Zeit – Eine theoretische Annäherung“ stellt einer Auseinandersetzung mit den Erklärungstheorien zunächst eine Definition des Hungerbegriffs voran. Danach werden in aller Kürze die wichtigsten theoretischen Ansätze vorgestellt, die seit dem späten 18. Jahrhundert versuchen, Antworten auf die Frage nach den Ursachen von Hungerkrisen zu geben. Das Hauptaugenmerk liegt dabei auf dem grundlegenden Unterschied zwischen den Annahmen von Thomas R. Malthus (1766–1834) und Amartya Sen (*1933). Während für Malthus Hungerkrisen durch Nahrungsmittelknappheit verursacht werden, ist für Sen der fehlende Zugang zu Lebensmitteln ausschlaggebend. Der Beitrag konzentriert sich nicht nur auf die Funktionsweise der jeweiligen Theorien, sondern nimmt sich auch vor, deren Schwächen und impliziten Werturteile in den Blick zu bekommen.

Der Beitrag „Exemplarische Hungerkrisen am Beispiel vormoderner und totalitärer Gesellschaften“ befasst sich mit den Ursachen und Auslösern von Hungerkrisen, deren Verlauf, und den unterschiedlichen Lösungsansätzen bzw. Abfederungsmaßnahmen. Er konzentriert sich dabei auf drei Fallbeispiele um Ernährungskrisen der vormodernen und modernen Epoche. Dazu werden die Theorien von Malthus und Amartya Sen aufgegriffen, die bereits im ersten Kapitel vorgestellt werden. Das malthusianische Modell wird anhand von Hungerkrisen im mittelalterlichen England geprüft, während die Ukraine und China als Beispiele für moderne Hungerkrisen herangezogen werden; bei Letzteren kommt der totalitär auftretende Staat als wichtiger Faktor hinzu.

Der Beitrag „Hunger in unserer globalisierten Welt – Debatten um Ursachen“ beschäftigt sich mit aktuellen Themen der Debatte rund um Hungerursachen in der Welt des 21. Jahrhunderts. Welthandelsstruktur(en), internationale wirtschaftliche Organisationen sowie Subventionspolitiken werden zunächst als wesentliche Triebfedern einer globalisierten Welt beschrieben. Deutlich wird dabei ein sozialer Gradient entlang von Reichtum und Armut, der die Teilnehmer am Weltmarkt in sehr unterschiedlicher Position platziert. Die mediale Diskussion rund um Flächenkonkurrenz und „Land Grabbing“ durch Biotreibstoff- und Viehkraftfuttermittelanbau sowie der Klimawandel in Zusammenhang mit Hunger wird in der Folge besprochen. Das Thema von Spekulationen auf Lebensmittel, die vor allem durch Hortungspraktiken Einfluss auf Lebensmittelpreise und Ernährungssicherheit haben können, wird ebenso durch den öffentlichen Diskurs erklärt. Gemein ist den Themen dabei die Annahme, dass Hunger in einer modernen Welt weniger eine Frage der Verfügbarkeit, als vielmehr der Verteilung von Nahrungsmitteln ist.
Der vierte Beitrag „Zur Lösung der Hungerproblematik – (Inter-)Nationale Hungerbekämpfung“ widmet sich der weltweiten Hungerbekämpfung am Beispiel des World Food-Programms der Vereinten Nationen. Das WFP ist die größte humanitäre Organisation der Welt und hat die globale Bekämpfung des Hungers als zentrale Agenda. Das WFP verfolgt das Ziel, die Ernährung mittels unterschiedlicher Programme, die kurz skizziert werden, auch langfristig zu sichern.

Im Fachdidaktikbeitrag wird der Wichtigkeit der Hungerproblematik in aktuellen politischen und ökonomischen Debatten Rechnung getragen und versucht, durch eine schrittweise und multiperspektivische Erarbeitung in die historischen Aspekte des Themas einzuführen. Anknüpfend an die Lebenswelt der SchülerInnen werden konzeptuelle Grundlagen erarbeitet, anhand von Beispielen illustriert und anhand gegenwärtiger politischer Kontroversen überprüft. Die eingesetzten Beispiele richten sich dabei vornehmlich an SchülerInnen ab der achten Schulstufe und orientieren sich am Modell historischer und politischer Kompetenzorientierung im Sinne der neuen Reifeprüfungsordnung.

Markus Cerman, Eduard Fuchs, Andrea Schnöller

Inhaltsverzeichnis

Inhalt

Editorial, S 2-3

Verena Backes/Baki Güney Isikara/Roman Kaiser-Mühlecker/
Julia Peindl-Böhm
Hunger im Lauf der Zeit – Eine theoretische Annäherung, S 4-11

Johannes Haslhofer/Lukas Chr. Husa/Alexander Marx/Nina Mayrhofer
Exemplarische Hungerkrisen am Beispiel vormoderner und totalitärer
Gesellschaften; S 12-22

Markus K.H.R. Breidenbach/Anna Radl/Melanie Wimmer
Hunger in unserer globalisierten Welt. Debatten um Ursachen, S 23-32

Magdalena Haschka/Mersiha Zukorlic
Zur Lösung der Hungerproblematik/(Inter-)Nationale Hungerbekämpfung – die UNO, S 33-38

Fachdidaktik

Heinrich Ammerer
„Hunger“ als politisches und historisches Teilkonzept:
Ein unterrichtspraktischer Rundgang durch die Kompetenzmodelle, S 39-47

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