Historische Sozialkunde 44 (2014), 2

Titel der Ausgabe 
Historische Sozialkunde 44 (2014), 2
Weiterer Titel 
Falscher Bettel, Tratsch und Schmähung. Bagatelldelikte im historischen Längsschnitt

Erschienen
Erscheint 
vierteljährlich
Anzahl Seiten
48 S.
Preis
Einzelheft: € 5,00; Jahresabo (4 Hefte): € 16,00 (zuzügl. Versand); € 12,00 (für Studierende, zuzügl. Versand)

 

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Institution
Historische Sozialkunde: Geschichte, Fachdidaktik, politische Bildung
Land
Austria
c/o
Die Zeitschrift wurde Ende des Jahres 2018 eingestellt. Der "Verein für Geschichte und Sozialkunde" ist seit Juni 2019 aufgelöst. Ein Kontakt zu den ehemaligen Herausgebern ist nicht mehr möglich.
Von
Fuchs, Eduard

Editorial

Das Wort Bagatelle ist schon seit mehreren hundert Jahren in verschiedenen Kontexten unserer Umgangssprache angekommen. Etwas kostet „einen Bagatell“, womit eine geringe Summe gemeint ist. In der Wirtschaft thematisiert man Bagatellgrenzen (etwa im Steuerrecht) und spricht damit einen Grenzfall an, in dem ein wirtschaftliches Einschreiten entweder geboten oder zumindest ein Nachdenken über wirtschaftliche Lenkungsmaßnahmen angebracht erscheint. Im Alltagsgebrauch versucht man mitunter, Dinge zu „bagatellisieren“, und deutet damit Belanglosigkeit und thematische Randlagen an. Man werde doch wegen dieser Bagatelle, so der Volksmund, keinen Richter brauchen. Auch in der Musikwelt spielte der Begriff der Bagatelle eine zwar randständige, aber doch nicht ganz unwesentliche Rolle. Der französische Komponist François Couperin (1668–1733) prägte diese Bezeichnung für kleine, mitunter auch ironisch und/oder virtuos angelegte Musikstücke. Bagatellen für Klavier von Ludwig van Beethoven oder Béla Bartók werden in ihrer Eigenschaft als kleine in sich geschlossene und vielfach auf Effekt abzielende Werke gerne als Zugaben an das Ende eines Konzerts gestellt.

Das Wort Bagatelle hat seinen Ursprung zwar im Französischen; eine sinnverwandte Entsprechung lässt sich jedoch auch im Italienischen finden – eine gemeinsame Wurzel scheint im lateinischen „baca“ (die Beere“) zu liegen. Schon Wörterbücher des 16. Jahrhunderts kennen das Wort Bagatelle und bezeichnen damit „chose frivole, de peu d’importance“ (im Sinne einer unbedeutenden Sache). Das Zedler’sche Lexikon aus dem Jahr 1733 kennt das Wort „Bagatelles“ und definiert diesen Begriff als „geringschätzige Dinge“ (Zedler, Universal-Lexikon Bd. 3, Sp. 128). Aber auch eine 1718 und 1719 in Leiden erschienene Zeitschrift ironischen Zuschnitts nannte sich „Bagatelle“. Selbst das Kunsthandwerk kennt in der Frühen Neuzeit den Begriff: Kleine, am Gewand getragene Kostbarkeiten aus Gold und Silber werden im 18. Jahrhundert als „bagatelles pretieuses“ bezeichnet (Zedler, Universal-Lexikon Suppl. 2, 1751: Sp. 1233f)

Das vorliegende Heft nimmt also vor allem kleine Dinge im Strafrecht und Vergehen gegen die staatliche, regionale und lokale Ordnung in den Blick, die von Strafrechtlern als sogenannte Bagatelldelikte bezeichnet werden. Damit meint man im aktuellen Strafrecht verschiedener europäischer Länder Delikte, die aufgrund des geringen Strafvolumens nicht verfolgt zu werden brauchen. Vielfach könnten die Gerichte bei kleinen Delikten selbst nach eigenem Ermessen entscheiden, ob sie diese Delikte verfolgen wollen oder eben nicht müssen. Ein Bagatelldelikt liegt dann vor, wenn es sich um kein Verbrechen (also um ein Vergehen) handelt, wenn die Schuld eines Täters sich als nahezu vernachlässigbar erweist und wenn auch kein gesteigertes Interesse der Öffentlichkeit an einer Verfolgung besteht (als Überblick siehe http://de.wikipedia.org./wiki/Bagatelldelikt, 12. April 2014). Als Bagatellgrenze gelten häufig Schadensbeträge, die unter einem Richtwert von 50 Euro liegen, also einem Betrag, bei dem der gerichtliche Aufwand die Mittel nicht mehr zu rechtfertigen scheint, was durchaus zu unterschiedlichen Einschätzungen zwischen Opfern und Gerichten führen kann. Bagatelldelikte sind aber, wie das Wort unmissverständlich verrät, Teil der Kriminalität – ein geringfügiger Verstoß gegen die Rechtsordnung (etwa des Strafgerichtes) ist damit begrifflich angedeutet. Sie zeigen die Grenzen zwischen erlaubt und nicht erlaubt. Die Nichtverfolgung von Bagatelldelikten durch die Gerichte kann als Teil einer Entkriminalisierung verstanden werden; umgekehrt bedeutet dies aber nicht, dass Bagatelldelikte – etwa das „Abräumen“ eines reifen Kirschbaumes durch Jugendliche – nicht sozial geahndet werden und zu Konflikten zwischen Personen oder Personengruppen führen können.

Historisch gesehen wurden Bagatelldelikte vielfach außergerichtlich (also nicht via Gericht) geahndet, indem etwa die Geschädigten die Täter verfolgten und mitunter schlugen. Die Geringfügigkeit des Vergehens und die Nichtahndung durch die Gerichte bedeuten zudem keine Beschränkung auf ein bestimmtes Deliktfeld. Bagatelldelikte beziehen sich häufig auf Eigentums- und Vermögensdelikte, aber auch Fahrlässigkeitsdelikte (etwa hundertfach im Straßenverkehr begangen), Bedrohungen und Beleidigungen fallen darunter. Die Bewertung von Bagatelldelikten ist neben der strafrechtlichen Diskussion auch einer gesellschaftlichen Debatte unterworfen; die Grenzen der Bagatelldelikte verschoben sich je nach strenger oder milder Auslegung der Gesetze, politischer Rahmenbedingungen und sozialer Umstände über Jahrzehnte hinweg und werden sich auch weiterhin im Sinne einer offenen Debatte, die von vielen Faktoren abhängt, verschieben.

Aus unserer historischen Sicht lässt sich mit dem vorliegenden Heft ein Beitrag zu einer offenen Diskussion zur Einschätzung von Bagatelldelikten leisten. Die Grenzen der Bagatelldelikte werden vor allem vom Strafrecht bestimmt, das festlegt, welches Delikt verfolgt wird und welches nicht, aber auch die wirtschaftlichen und sozialen Rahmenbedingungen spielen eine große Rolle. Über Jahrhunderte hinweg war Europa durch eine, die Spielräume möglichst weit auslotende Mangelwirtschaft gekennzeichnet. Auf Jahre mit guter Ertragslage folgten Hungerkrisen; die Bedrohung der Nahrungsgrundlage kann als ein wiederkehrendes Motiv der europäischen Geschichte angesprochen werden. Enge ökonomische, klimatische Rahmenbedingungen bewirkten, dass die Nahrungsspielräume ausgenutzt und möglichst alle verfügbaren Bodenressourcen erschlossen werden mussten. Den kleinen Dingen kam deshalb eine große Bedeutung zu: Küchengärten boten etwa wichtige Ergänzungen des Speiseplanes, Gewand wurde bis an die Grenze der Belastbarkeit des Gewebes getragen. Der Diebstahl von Obst und Gemüse aus dem Küchengarten oder eine Entwendung von gebrauchter Kleidung mag gegenwärtig als ein Bagatelldelikt erscheinen, doch die historische Evidenz, die sich anhand von Quellen wie Gerichtsakten und Verwaltungsschriftgut erschließt, belegt, dass dies Zeitgenossen so nicht wahrgenommen haben. Aus diesem Blickwinkel betrachtet, gab es über Jahrhunderte hinweg keine Bagatelldelikte, weil der ökonomische Spielraum der Vormoderne viel enger war, als wir das heute vermuten würden. Diebstahl von altem Gewand oder Obst bedeutete die Gefährdung der Lebensgrundlage von Menschen. Bagatelldelikte spiegeln deshalb den Diskurs um Eigentumsordnungen und soziale Normen in dessen ganzer Breite wider, zeigen aber auch verschiedene Formen eines Umgangs damit in den Gesellschaften der Antike, des Mittelalters und der Neuzeit. Häufig wurden Bagatelldelikte in der Vormoderne nicht angezeigt, sondern andere Wege einer Konfliktlösung beschritten, indem die Täter geschlagen wurden oder die Familien der Täter einen außergerichtlichen Ausgleich, etwa durch eine finanzielle Abgeltung des Schadens, suchten.

Bagatelldelikte sind keine historische Strafkategorie, weshalb eine Berücksichtigung des jeweiligen Quellenbefunds essenziell ist. Verschiedene Arten von Quellen müssen befragt werden, um uns an diese „Ordnung der kleinen Dinge“ herantasten zu können. Die hier untersuchten Epochen und Räume unterscheiden sich nicht nur in ihrer Dokumentationsdichte, d.h. in ihrer Menge an verfüg- und auswertbaren Schriftquellen, die mit größer werdendem zeitlichen Abstand zunehmend geringer ausfällt. Unterschiede in der physischen Beschaffenheit, welche nicht nur in der Wahl und Verwendung eines bestimmten Beschreibstoffs begründet liegen, sondern sich in weiterer Folge auch auf den Umstand der Überlieferung auswirken, sowie in Textart und Sprache erschweren eine vergleichende Annäherung an den Untersuchungsgegenstand. Dessen Verortung in einem Alltagsmilieu, die einen mikrohistorischen Zugang erfordert, schränkt die Auswahl an Quellen zusätzlich ein. Dokumentarische Zeugnisse wie Bittschriften, amtliche Schreiben und Gerichtsakten werden zwar einem solchen Anspruch gerecht, indem sie Einblicke in die Erfahrungswelt der einfachen Bevölkerung gewähren. Sie haben andererseits den Nachteil, dass sie nur punktuell und ausschnittartig über einen konkreten Sachverhalt Auskunft geben, dessen weiterer Verlauf jedoch mehr oder weniger ungewiss bleibt, wodurch letztendlich der Eindruck eines unvollständigen Bilds entsteht. Das trifft im Besonderen auf die Evidenz von Bagatelldelikten aus der griechisch-römischen Antike zu. Sie ist im Wesentlichen auf die überaus bruchstückhafte und darüber hinaus auch noch ungleich verteilte Dokumentation von Papyrusurkunden beschränkt. In ihrer Eigenschaft als organische Schriftträger, welche aus dem Mark der in Sumpfland gedeihenden Papyrusstaude hergestellt wurden, waren diese als Beschreibstoff zwar im gesamten Mittelmeerraum der Antike in Gebrauch, sind jedoch lediglich in Teilen Ägyptens und anderer Wüstengebiete erhalten geblieben. Die meisten dieser in griechischer Sprache abgefassten Papyrustexte wurden erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts am Rand mehrerer Siedlungs- und Grabungsplätze in Mittelägypten gefunden. Unter den zahlreichen, hauptsächlich zu buchhalterischen Zwecken angefertigten Aufzeichnungen (Abrechnungen) sowie verstreuten Schreiben aus dem Kontext einer amtlichen oder privatgeschäftlichen Korrespondenz befanden sich auch einige offizielle Eingaben, Haft- und Überstellungsbefehle sowie Fragmente von Prozess-protokollen, die sich mit unterschiedlichen Formen von Eigentums- und Vermögensdelikten befassen. Obwohl sich selbige nur ansatzweise fassen lassen und kaum über deren Ausgang berichten, vermitteln sie doch wichtige Hinweise über alltägliche Konfliktsituationen und deren innergesellschaftliche Verarbeitung, welche in anderen Quellengattungen – den auf offizielle Verlautbarungen ausgerichteten Inschriften, den größtenteils auf Präzedenzfällen aufbauenden Gesetzessammlungen und den einem Elitendiskurs verpflichteten literarischen Werken antiker Autoren – ausgeblendet bleiben. Als Ergebnis der drei hier gebotenen Überblicksdarstellungen lässt sich eine erstaunliche Kontinuität bestimmter Deliktgruppen feststellen.

Für eine Untersuchung der Bagatelldelikte im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit kann auf Gerichtsakten und Gerichtsbücher zurückgegriffen werden, die aber aufgrund einer unvollständigen Quellenüberlieferung (Problem statistischer Auswertungen) zu einer kritischen Sichtweise verpflichten. Die ab dem Mittelalter geführten Gerichtsakten vermitteln in unterschiedlicher Ausführlichkeit Informationen über den Täter, das Delikt und mitunter auch über die Formen der vorgerichtlichen Konfliktlösung.

Ein Interview mit Andreas Zembaty vom Verein „Neustart“, der in Österreich für Bewährungshilfe zuständig ist, rundet das Thema ab. Zembaty spricht sich für eine Auflösung von schematischen Täter-Opfer-Beziehungen aus und redet einem Täter-Opfer-Ausgleich das Wort. Sowohl dem Täter als auch dem Opfer wird damit geholfen, die Bagatelldelikte spielen innerhalb der gegenwärtigen Deliktstruktur durchaus eine Rolle.

Im Fachdidaktikbeitrag dieses Heftes beschäftigt sich Roland Bernhard mit dem den Menschen des Mittelalters zugeschriebenen „Mythos der flachen Erde“, der vor allem in deutschsprachigen Lehrwerken nach wie vor stark verwurzelt ist. In diesem Artikel werden die häufigsten Argumente, die den Mythos der flachen Erde in Schulbüchern stützen, angeführt und ihrer fehlenden Stichhaltigkeit nachgegangen. Ferner widmet sich der Beitrag der Entstehungsgeschichte des Mythos in der Neuzeit und seiner Popularisierung im 19. und 20. Jahrhundert. Auch wird beschrieben, welche sinnstiftenden Elemente dem Mythos innewohnen. Die im letzten Teil vorgestellten Quellen und Materialen sollen eine De-konstruktion des Mythos im Unterricht ermöglichen.

Brigitte Rath/Martin Scheutz/Sven Tost

Inhaltsverzeichnis

Inhalt

Editorial, S. 2–4

Sven Tost
Eingaben an „Eure Rechtschaffenheit“
Vom Umgang mit Bagatelldelikten und Alltagskriminalität in der Antike am Beispiel des griechisch-römischen Ägypten, S. 5–14

Brigitte Rath
Schwarze Hosen und verwaschene Hemden. Kleinkriminalität im Mittelalter, S. 15–22

Martin Scheutz
Schnupftücher, Rasiermesser, Fleisch und Strümpfe
Kleinkriminalität und „Bagatelldelikte“ in der Frühen Neuzeit, S. 23–31

Brigitte Rath/Martin Scheutz/Sven Tost
Neustart mit Schwierigkeit? Bagatelldelikte und der Umgang der Gesellschaft damit. Interview mit dem „Bewährungshelfer“ Andreas Zembaty vom Verein „NEUSTART“, S. 32–41

Fachdidaktik

Roland Bernhard
De-Konstruktion des Mythos’ der flachen Erde, S. 42–48

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